Als Streuner geboren - Luskas Bücher

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Als Streuner geboren

Buch 4
Es war ein wunderschöner Frühlingstag, als Emsy das Licht der Welt erblickte. Seine Mutter lebte in einem Bauernhof am Hallwilersee in der Schweiz. Als er das erste Mal die Augen öffnete und sich umblickte, sah er die grossen Pferde, die schnaubend in ihren Boxen standen. Er liebte den Geruch dieser Tiere. Sie schienen wie Riesen neben dem winzigen Katerchen. Seine Mutter kümmerte sich aufopfernd um ihn und seine Geschwister. Sie achtete gut darauf, dass sie ihre Box nicht verliessen, nicht dass sie noch von den grossen Hufen der Reitpferde verletzt würden. Meistens blieben sie alle zusammen, legten sich dicht aneinander und schliefen den ganzen Tag. Im Stroh war es kuschelig warm, und zusammen fühlten sie sich stark. Die Mutter umsorgte sie vorbildlich. Mit ihren kleinen Pfötchen hielten sie die Mama fest, als sie bei ihr Milch tranken. Sie nuggelten an ihrem Bauch und sogen mit ihren Näschen den Duft ihres Pelzes ein.

Als sie grösser wurden und im Stall herumtobten, wurde die Milch zu wenig. Die Katzenmutter musste wieder auf die Jagd gehen. Sie blieb nie lange weg, denn sie war eine geschickte Jägerin. Oft brachte sie ihnen kleine Mäuse nach Hause und zeigte ihnen, wie lecker diese Mahlzeit war. Die Tage vergingen wie im Flug und aus dem winzigen Katerchen war ein kleiner Schelm geworden. Er war unheimlich neugierig, musste jede Ecke des Stalles erkunden. Manchmal kletterte er auf den Heuboden und schaute voller Stolz nach unten, wo seine Geschwister auf die Heimkehr der Mutter warteten. Kein Winkel blieb ihm verborgen. Er schlenderte von Box zu Box und beobachtete die Reitpferde, die sehnlichst auf ihre Besitzer warteten. Manchmal kamen junge Frauen und Männer, die den Pferden Sättel auflegten. Dann führten sie die schnaubenden Tiere nach draussen. Emsy setzte sich zur Stalltüre und blickte hinaus. Da sah er die Reiter, sie wie hoch oben auf dem Pferd sassen und davonritten. Das machte ihn noch neugieriger. Irgendetwas gab es da vor dem Stall, das er noch nicht kannte. Die Pferde durften raus, wieso er denn nicht? Eines Tages, als die Katzenmutter wieder unterwegs auf Nahrungssuche war, schlich Emsy ihr nach. Da entdeckte er eine Welt, die ihm fast den Atem raubte. Er spürte Sonne auf seinem Pelz und streckte sein Näschen hoch in die Luft. Es roch nach frischgeschnittenem Gras. In der Ferne sah er weite grüne, saftige Wiesen, auf denen gelbe und violette Blumen wuchsen. Dahinter, in weiter Entfernung glänzte ein See, der Hallwilersee. Er sprang der Mutter nach, sah sie hinter dem nächsten Busch verschwinden. Mit seinen kleinen Füssen hinterliess er Miniaturabdrücke im noch weichen, nassen Boden. Wo war sie denn geblieben? Er schaute unter dem Gebüsch nach und hinter dem Bauernhaus. Sie war nirgendwo zu sehen. Dann lief er weiter, hinaus aufs Feld. Ueber ihm kreiste ein Raubvogel. Emsy wusste nicht, dass von oben Gefahr drohte. Er genoss seinen ersten Ausflug und hatte keinerlei Angst. Von oben hörte er ein schrilles Kreischen und ein grosser Schatten kam auf ihn zu. Er spürte den Windzug, den die Flügel über ihm verursachten. Da wurde er blitzschnell gepackt und hochgehoben. Jemand trug ihn fort. Seine Mutter hatte den Ausbrecher entdeckt und ihn mit gekonntem Griff im Genick gerettet. Der Vogel drehte ab und flog unverrichteter Dinge davon. Jetzt war es Emsy doch etwas mulmig im Magen. Was war denn jetzt passiert? Er verstand überhaupt nichts. Seine Mutter war zornig. Wie konnte er nur den Stall verlassen ohne das Einverständnis seiner Mutter. Sie schimpfte mit ihm und verbot ihm, so was nochmals zu tun.

Doch Emsy war unbelehrbar. Die Neugier war zu gross. Kaum war die Mutter fort, schlich er sich wieder weg. Er konnte es nicht lassen, musste die Wiese nochmals erkunden. Die Katzenmama war jedoch darauf gefasst und rechnete damit, dass er erneut ausbüchsen würde. Sie musste ständig ein Auge auf ihn werfen. Er hatte den Charakter des Vaters geerbt, der als Streuner in der Gegend bekannt war. Sie brachte ihn immer wieder in den Stall zurück, doch Emsy folgte ihr sofort wieder. Es war eine aussichtslose Sache, er hatte den gleichen Dickschädel wie sein Vater. So beschloss sie, ihn auf die Jagd mitzunehmen. So hatte sie ihn wenigstens unter Kontrolle. Sie verbrachten viele Stunden zusammen in der freien Natur. Sie erkundeten ein Feld nach dem anderen, inspizierten gemeinsam die vielen Mauslöcher, die es überall gab. Sie lehrte ihm, wie man Mäuse fängt und zeigte ihm die riesengrossen Vögel hoch oben am Himmel, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Er war ein fleissiger Schüler, lernte jeden Tag etwas mehr. Seine Geschwister waren viel kleiner und scheuer als Emsy. Sie gehorchten der Mutter aufs Wort und warteten brav im Stall, bis sie ihnen die Beute nach Hause brachte.

Die Wochen vergingen wie im Fluge und aus dem kleinen Kätzchen war ein junger, hübscher Kater geworden. An einem Sonntagnachmittag traf er zum ersten Mal Michel. Dieser besuchte seine Freunde am Hallwilersee. Man hatte ihm berichtetet, dass die Hofkatze wieder Nachwuchs hatte. Michel ging in den Stall und wollte sich die Kätzchen anschauen. Er liebte kleine Katzen und war gespannt, was für Fellbündel dieses Mal wieder entstanden waren. Da sassen sie, dicht aneinandergeschmiegt, und schauten ihn ängstlich und mit grossen Augen an. Sie waren dreifarbig und getigert. Auch ein ganz schwarzes Kätzchen war zu sehen. Er streichelte die Kleinen und schaute ihnen lange zu, wie sie miteinander spielten. Als er sich auf den Weg zurück zu seinen Freunden im Bauernhaus machte, entdeckte er draussen den schwarz-weissen Kater. Dieser sass vor dem Stall und genoss die Sonnenstrahlen. Er räkelte sich in der warmen Sonne. Michel näherte sich dem kleinen, lustigen Kerl und war vollkommen erstaunt, dass dieser keine Angst hatte. Stattdessen sprang dieser ihm auf die Schulter, als sich Michel zu ihm hinunterbeugte. Emsy drückte sein Köpfchen fest an seinen Hals und schnurrte intensiv. Jedes Mal, wenn Michel ihn wieder auf die Erde setzte, sprang er erneut in seine Arme. Es war ein lustiges Spiel für das kleine Katzenkind, doch für Michel war daraus mehr als ein Spiel geworden. Sein Herz war aufgegangen und er hatte sich in dieses kleine Wesen verliebt. Er wollte dem Kätzchen ein neues Heim geben und versprach seinen Freunden, dass er Emsy mitnehmen würde, sobald dieser 12 Wochen alt sei.
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