In der Nachbarschaft - Luskas Bücher

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In der Nachbarschaft

Buch 5
In der Nachbarschaft

Natürlich gibt es nicht nur bei Tina einige Katzen. In einer Ueberbauung wie dem Rosenweg gibt es noch viele andere Stubentiger. Viele der Tiere kennt Tina. Wenn irgend jemand seine Katze vermisst, fragt man Tina. Tinas Wohnung liegt am äussersten Ende der Ueberbauung und hat auf zwei Seiten eine Katzentüre. Eine hungrige Katze hätte immer die Möglichkeit, sich bei Tina reinzuschleichen und etwas Futter zu erhaschen.

Vor etwas mehr als einem Jahr war auch Simba junior in der Nachbarschaft eingezogen. Auch er stammte von Nataschas Auffangstation. Er kam als junges Katerchen in eine Familie mit drei Mädchen. Die Mutter wollte unbedingt einen zweiten "Mann" im Haushalt haben, weshalb man sich für Simba entschieden hatte. Der Rot-Weisse war ein hübsches Kerlchen und sehr lieb. Allerdings mochte er Tinas Katzenhaus wesentlich lieber als das eigene Daheim. Er verbrachte die meiste Zeit bei ihr. Tina musste ihn jeden Abend nach Hause bringen, denn allein wäre er nie dorthin gegangen. Er gehörte Tatjana, der zwölfjährigen Nachbarstochter. Sie und die ganze Familie waren vollkommen verliebt in den schönen kleinen Kater. Auch wenn er viel Zeit bei Tina verbrachte, liebte er seine Frauen sehr. Er war der zweite "Mann" in Tinas Katzenhaus und zugleich der zweite "Mann" bei Tatjana. Zwischen Tina und Tatjanas Familie entstand eine schöne Freundschaft. Man teilte sich den Rot-Weissen einfach, denn man hatte ja keine andere Wahl.

Allerdings hatte Simba immer wieder mal Durchfall. Da er ja zwei Wohnsitze hatte, mussten sich die beiden Familien absprechen. Stimmte da mit dem Futter etwas nicht? Bekam er wohl Milch, die er nicht vertrug? Es war nicht einfach, die Sache in den Griff zu bekommen, denn die eine Familie wusste ja nicht, was in der anderen Wohnung passierte.

Leider stellte sich eines Tages heraus, dass es sich beim Durchfall von Simba nicht nur um eine harmlose Darmerkrankung handelte. Simba war schwer krank. In seinem Bauch wuchs langsam aber unaufhaltsam ein Tumor. Es gab keine Rettung für den kleinen Kater, dabei war er doch erst 10 Monate alt. Wie gerne hätte man ihm doch geholfen, doch gab es kein Mittel, das den Tumor aufhalten konnte. Tina und Tatjanas Familie mussten machtlos zusehen, wie Simba immer dicker wurde. Mit jedem Tag wuchs der Tumor. Dabei wurde sein Körper immer schwächer. Noch turnte er auf dem Kratzbaum herum und schlenderte durch den Garten, doch wussten alle, dass dies nur noch für eine kurze Zeit möglich war. Tina hoffte so sehr, dass der kleine Kater mindestens noch einen schönen Frühlingstag erleben durfte. Sie hätte es ihm so sehr gegönnt, wenn er noch an den ersten Blüten hätte schnuppern dürfen und die ersten Sonnenstrahlen auf sein allmählich struppiges Fell hätte scheinen lassen dürfen. Doch die Krankheit schritt unaufhaltsam fort. Mit Medikamenten konnte man ihm zwar die Schmerzen nehmen, doch wussten alle, dass der Tag schon bald kommen würde, an dem Simba die Augen für immer schliessen würde.

Es war ein wolkenloser Frühlingstag. Die ersten warmen Sonnenstrahlen erhellten die Erde. Simba lag auf der Gartenbank in Tinas Garten und räkelte sich. Zwar fühlte er sich elend, doch er spürte die Sonne, die auf seinen Pelz schien. Aus dem Blumenbeet kam der Duft der ersten Blüten, die Frühlingsboten, in seine Nase. Er kletterte von seinem Hochsitz hinunter und streckte seinen Riecher in die Blumen. Wie gern wäre er noch hier geblieben und hätte den Sommer im Kreise seiner Liebsten verbracht. Doch er wusste von seiner Krankheit. Er hatte die Tränen gesehen, die in Tatjanas Augen standen, als Tina ihr die schlechte Nachricht überbringen musste. Sein Bauch war so dick geworden, dass er sich kaum mehr bewegen konnte. Das Atmen fiel ihm schon äusserst schwer. Er wusste, dass sein Ende nahte. Was sich Tina erhofft hatte, war eingetreten. Sie wollte so gerne, dass Simba noch einen schönen Frühlingstag erleben durfte, und die Katzenengel hatten ihm einen solchen geschickt. Dies war Simbas letzter Tag. Noch am gleichen Tag durfte er den Weg in den Katzenhimmel antreten und die schmerzhafte Krankheit hinter sich lassen.

Simbas Tod war für alle ein Schock. Niemand wusste genau, um was für eine Krankheit es sich gehandelt hatte. Zudem war nicht sicher, ob hier nicht ansteckende Erreger freigesetzt worden waren. Zur Sicherheit wurden beide Wohnungen desinfiziert. Man wollte verhindern, dass sich eine der anderen Katzen mit der tödlichen Krankheit angesteckt hatte. Für Tatjana war eine Welt zusammen gebrochen. Sie hatte ihren geliebten Simba verloren. Er war von ihr gegangen, hinauf in den Katzenhimmel.

Tina war genau so traurig wie Tatjana und ihre Familie. Dennoch war sie überzeugt, dass man nicht ewig um eine verlorene Seele trauern soll. Sobald die Quarantäne-Frist vorbei ist, sollte sich Tatjana wieder eine Katze zulegen. Sie dachte an die Gedanken, als sie Emsy verloren hatte und an "das Erbe".

Mein Erbe

Wenn Menschen sterben, machen sie ein Testament,
um ihr Heim und alles was sie haben,
denen zu hinterlassen, die sie lieben.
Ich würde auch solch’ ein Testament machen,
wenn ich schreiben könnte.
Einem armen, sehnsuchtsvollen, einsamen Streuner
würde ich mein glückliches Zuhause hinterlassen,
meinen Napf, mein kuscheliges Bett,
mein weiches Kissen, mein Spielzeug
und den so geliebten Schoss,
die sanftstreichelnde Hand,
die liebevolle Stimme,
den Platz, den ich in jemandes Herzen hatte,
die Liebe, die mir zu guter letzt
zu einem friedlichen und schmerzfreien Ende geholfen hat,
gehalten im liebenden Arm.
 
Wenn ich sterbe, dann sag bitte nicht
"Nie werd ich wieder ein Tier haben,
der Verlust tut viel zu weh!"
 
Such dir eine einsame, ungeliebte Katze aus
Und gib ihr meinen Platz
 
Das ist mein Erbe
Die Liebe, die ich zurück lasse ist alles,
was ich geben kann.
 
 
Erst waren die Nachbarn etwas skeptisch, als ihnen Tina eröffnete, dass man sich nach einer neuen Katze umschauen sollte. Ihre ersten Erfahrungen mit einem Haustier waren nicht sonderlich erfreulich gewesen. Doch Tina liess nicht locker. Es gab genügend Katzen, die in schlimmen Verhältnissen lebten und froh wären, wenn sie in einer Familie leben dürfen. Zudem waren seit Simbas Tod schon viele, viele Wochen vergangen und es war Zeit, in die Zukunft zu schauen. Doch dieses Mal musste man absolut sicher sein, dass die neue Katze wirklich gesund war. Bei Bauernhofkatzen weiss man halt nie, wer die Vorfahren waren und ob da nicht versteckte Krankheiten schlummern.

Deshalb machten sich Tina und Tatjana auf die Suche nach einem kleinen Kater. Leider gab es um diese Jahreszeit noch fast keine Katzenkinder. Die ersten, die diesen Frühling geboren waren, blieben noch bei ihrer Mutter. Es war gar nicht so einfach, ein Kätzchen zu finden, das männlich, gesund und umzugsbereit war. Am liebsten hätte Tatjana wieder einen rot-weissen Kater gehabt, doch musste man aufpassen, dass er Simba nicht zu ähnlich war. Es ist nie gut, das neue Tier mit dem Vorgänger zu vergleichen.

Von Natascha kam dann ein guter Tipp. Eine Freundin, die eine Main-Coon-Zucht hatte, hatte Katzennachwuchs. Unter den sechs Kätzchen gab es zwei rote Kater. Die Mama, eine edle Main-Coon-Katze, war an Weihnachten fremdgegangen. Das Resultat brachte sie Ende Februar zur Welt. Obwohl die Katzenmutter langhaarig war, blieben die Katzenkinder kurzhaarig. Man sah ihnen die edle Herkunft nur noch an der Haarqualität an. Ihr Haarkleid war genau so weich und samtig, wie das der Mutter.

Tatjana, Dana und Tina fuhren an einem schönen Frühlingsabend in die Katzenzucht. Sie wollten die beiden Kater besichtigen gehen. Für Tatjana und Dana war es von Anfang an klar, sie wollten beide Kater haben. Die beiden Roten sollten an den Rosenweg kommen. Doch noch waren sie zu klein für den Umzug. Zudem mussten sie erst noch geimpft und entwurmt werden. Tatjana musste also noch ein paar Wochen warten, bis es endlich so weit war. Sie bekam zwar regelmässig Nachrichten und Fotos von ihren zwei Kätzchen, doch konnte sie es kaum mehr aushalten. Sie freute sich ganz wahnsinnig darauf, bald wieder eine Katze zu haben. Und dieses Mal durfte sie sogar zwei Kätzchen bekommen. So war die Chance grösser, dass die beiden nicht ständig bei Tina ein- und ausgingen. Wenn sie einen Spielkameraden daheim haben, bleiben sie vielleicht eher daheim.

Endlich war es so weit. Tatjana durften die Katzenkinder abholen. Wiederum fuhren sie mit dem Auto den weiten Weg, um die Katerchen nach Hause zu holen. Mola, so hiess die Katzenmutter, war froh, dass die zwei ihrer Kinder endlich in gute Hände übergeben durfte. Sie hatte sechs Babies auf die Welt gebracht. In den letzten Wochen war das für sie viel Stress gewesen. Sie verabschiedete sich von den zwei Katerchen und wünschte ihnen viel Glück bei Tatjana und ihrer Familie.

Voller Stolz präsentierte Tatjana ihrer Familie die zwei Kater. Ferrari war der grössere und richtig stark rot. Cameo hingegen war ebenso getigert wie sein Bruder, jedoch heller in der Farbe. Die Züchterin hatte Tatjana gesagt, Cameo würde mit jedem Lebensmonat heller werden. Die Fellfarbe, die er eines Tages tragen würde, heisst in Züchterkreisen "Cameo". Aus diesem Grund erhielt er auch diesen Namen. Die Katzenkinder wurden von Tatjanas Familie mit grosser Freude aufgenommen. Beide waren kerngesund und machten viel Freude. Sie halfen Tatjana und ihrer Familie allmählich über den Schmerz hinweg, den Simba durch seinen Tod hinterlassen hatte. Es war eine Freude, Ferrari und Cameo beim Spielen zuzuschauen. Die ersten Wochen blieben sie brav daheim, doch dann hatten sie entdeckt, dass es draussen etwas gab, was sie noch nicht kannten. Sie wussten schon bald, dass es vor der Wohnung noch viel zu entdecken gab. Eines Tages durften sie in die Katzenschule und lernen, wie man durch eine Katzentüre geht. Ferrari hatte das sofort gelernt, doch Cameo verhielt sich wie ein Doofling. Er stand vor der Türe und wusste nicht, wie das Ding auf ging. Selbst wenn er Ferrari beim Rein- und Rausgehen zuschaute, hatte er den Mut nicht, sich gegen das Katzentürchen zu stemmen. Stattdessen kletterte er hinter der Wohnung über die Terrassen-Brüstung auf den Nachbarsbalkon. Von dort gab es ein überwachsenes Spalier, dem entlang Cameo runterklettern konnte. Und diesen Weg hatte Cameo schnell raus. Sein Ziel war Tinas Wohnung. Niemand weiss, wieso Ferrari brav daheim blieb und Cameo zu Tina ging. Tatsache war aber, dass Cameo (wie schon vorgängig Simba) die meiste Zeit bei Tina verbrachte.

Ferrari und Cameo spielten oft mit den Kindern im Garten. Hier gab es viel zu beschnuppern und zu entdecken. Am Abend ging Ferrari jeweils brav nach Hause und Cameo legte sich bei Tina aufs Bett. Es nützte nichts, wenn sie Cameo rauf brachte und durch die Katzentür schob. Es dauerte kaum fünf Minuten, und Cameo stand wieder bei ihr. Er kannte ja den Weg über den Nachbarsbalkon, hinunter in die Freiheit. Also liess man den Katerchen ihren Lauf. Sie sollten da sein, wo es ihnen gefiel. Tinas andere Katzen hatten sich schon längst an die beiden Kater gewöhnt, die bei ihnen ein- und ausgingen.

Als die Katerchen sieben Monate alt wurden, wurde das Thema "Kastration" allmählich aktuell. Erstaunlicherweise hatte auch der wilde Kater Simba sen. überhaupt nicht reagiert, obwohl in Tinas Haushalt doch zwei unkastrierte Kater aufwuchsen. Simba sen. war nämlich ein wildes Tier und duldete keine Nebenbuhler. Er lebte irgendwo draussen in der Natur und kam nur zur Futterzeit zu Tina. Simba war nicht kastriert und Tina hatte grosse Bedenken, dass es zwischen Simba und den Roten Revierkämpfe geben könnte. Simba war ein starker, grosser Kater. Bei einem Kampf hätten die Katerchen keine Chance gehabt. Doch bei Ferrari und Cameo blieb der Wilde erstaunlicherweise recht gelassen.

Für Tina war das alles noch nicht verwunderlich. Vielleicht hatte Simba ja gespürt, dass es sich bei den Roten noch um Katzenkinder handelte? Des Rätsels Lösung folgte allerdings erst Wochen später. Als Tina eines Tages in ein Katzenheim ging und einen dreimonatigen Kater hochhob, war sie sehr verunsichert. Zwischen dessen Beinen entdeckte sie unübersehbar ein männliches Geschlechtsteil, und dies, obwohl das Katerchen erst ein paar Wochen alt war. Was stimmte den bei Ferrari und Cameo nicht? Tina machte sie allmählich Gedanken. Waren sie in ihrer Entwicklung einfach viel zu spät dran oder gab es eine Fehlentwicklung? Sie erkundigte sich bei der Züchterin, was mit den anderen Katern aus diesem Wurf war. Sie erfuhr, dass alles okay ist, dass der Bruder der beiden Roten bereits kastriert worden ist. Eine Missbildung scheint also nicht in der Familie zu liegen. Doch was war bei den beiden los? Tina schaute immer wieder hin, kontrollierte regelmässig, ob da nicht doch noch was wachsen würde. Aber nein, nichts war zu sehen. Plötzlich dämmerte es Tina. Was wäre, wenn sich die beiden Katerchen plötzlich als Zwitter oder Mädels entpuppten? So etwas ist ja fast nicht möglich. Rote Katzen sind fast ausschliesslich männlich. Dennoch gibt es ein paar wenige Ausnahmen. Sollte sie gerade zwei solcher Ausnahmen vor sich haben? Was würde Tatjanas Familie sagen, wenn sie plötzlich eine Ferrrara und eine Camea statt eines Ferraris und eines Cameos hatten?

Sie musste wissen, was hier los war. Also brachte sie die jungen Katzen zum Tierarzt. Das Erstaunen und Gelächter war gross, als dieser den Schwanz hob und bestätigte, dass es sich bei den Roten um Katzendamen handelte. Sie würde zum Gespött des Dorfes werden - eine mehrfache, erwachsene Katzenhalterin, die den Unterschied zwischen Katze und Kater nicht kennt. Dabei war sie nicht die Einzige, die getäuscht wurde. Auch die Züchterin hatte nur bei der Geburt kurz nachgeschaut. Durch die Tatsache, weil rote Katzen fast immer männlich sind, hat sich niemand Gedanken über das Geschlecht der Jungtiere gemacht.

Nur Simba sen. wusste Bescheid. Er war ein unkastrierter Kater, der wild lebte und nur bei Tina erschien, wenn er Hunger oder kalt hatte. Oft war er sehr wild, liess sich auch gar nicht anfassen. Trotzdem hatte Tina Mitleid mit diesem grossen Kater. Er durfte bei ihr fressen und die kalten Winternächte verbringen. Ansonsten liess sie ihn in Ruhe. Simba hatte bald gemerkt, dass er hier keine männlichen Rivalen vor sich hatte, sondern junge, hübsche Katzendamen, die schon bald flügge sein würden. Deshalb kam er auch jeden Tag zu Tinas Wohnung und wartete geduldig darauf, bis die Kätzinnen bereit waren für ein Liebesabenteuer.

Doch Simba hatte die Rechnung ohne Tina gemacht. Als sie nämlich erfuhr, dass Ferrari und Cameo Mädels waren, liess sie sie sofort sterilisieren. Das Gespött in der Nachbarschaft wäre wahrscheinlich noch grösser geworden, wenn die stolzen "Kater" eines Tages ein paar junge Katzenkinder auf die Welt gebracht hätten. So behielten auch in Tatjanas Familie die Frauen die Oberhand. Der Vater hatte statt einer männlichen Unterstützung zwei neue "Frauen" bekommen. Trotzdem liebte man die beiden Katzen über alles. Ob sie nun männlich oder weiblich waren, war ein Detail. Wichtig war für alle, dass sie gesund und lieb ware. Und die Voraussage der Züchterin trat tatsächlich auch ein. Während Ferrari mit jedem Monat dunkler wurde, hellte sich Cameos Fell auf. Ihre rote Farbe war in ein Blond übergegangen.

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