Samena, die Griechin - Luskas Bücher

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Samena, die Griechin

Buch 2
Samena, die Griechin

Auf Samos scheint das ganze Jahr die Sonne. Die einst karge griechische Insel hat sich in den letzten Jahren zum attraktiven Ferienziel vieler Sonnenhungriger entwickelt. Aus den kleinen Fischerdörfchen sind kleinere oder grössere Touristenzentren geworden. Im Sommer wird die Insel förmlich überflutet von Menschen aus der ganzen Welt, die hier Erholung und Sonne suchen. Dennoch hat diese Insel ihre Schönheit nicht verloren. Die Griechen haben schnell erkannt, dass man den Tourismus weder aufhalten kann noch soll, dass man daraus aber das beste machen muss. Anstelle von grossen Betonbauten für Touristen hat man auf Samos viele kleine Bungalow-Anlagen erstellt. Diese kleinen weissen Häuser liegen idyllisch in der Landschaft und geben der schönen Insel einen speziellen Touch. Wer die Natur liebt, kann bei einem kurzen Spaziergang noch ungetrübte Naturschönheiten entdecken. Von den nicht allzu hohen Hügeln sieht man auf die felsigen Buchten hinunter. Das Meer ist dunkelblau und sauber und bildet einen wunderschönen Kontrast zu den kargen Wiesen, die schon bald nach der Blütezeit in ein dunkles Gelb übergehen. Auf den steinigen Hügeln wachsen das ganze Jahr wilder Thymian und Lorbeer. Das Land duftet das ganze Jahr hindurch betörend und bietet den Touristen ein besonderes Erlebnis für die Nase. Auch Jasminblüten und Hibiskus sind in jedem Dorf zu finden.

Was Samos auch sehr bekannt gemacht hat, sind die "Katzen von Samos". Von ihnen gibt es unzählige, in allen Farben und Grössen. Sie werden wild geboren und leben im Einklang mit den Touristenströmen, die jedes Jahr das Land überfluten. Meist findet man etliche wilde Katzen in den Bungalow-Anlagen. Die Tiere wissen genau, dass es hier Fressen und Streicheleinheiten gibt. Die Touristen mögen die Vierbeiner, die schnell herausgefunden haben, wie man den Menschen um die Pfote wickelt. Sie sind schon von klein auf an den Menschen gewöhnt und wissen genau, wie man zu einem Häppchen Fleisch kommt. Die kleinen Tiere sind sehr verschmust und legen sich, um Eindruck zu schinden, gleich auf den Rücken mit der Aufforderung "bitte streicheln und füttern". Dieses anschmiegsame Verhalten der Katzen lässt manches Menschenherz wie Wachs schmelzen. Selbst wenn man kein Freund von wilden Katzen ist, hat man mit den Tieren Mitleid, die sich in der kargen Landschaft ihr Brot selber verdienen müssen. Wer noch kein Katzenfreund ist, wird bestimmt nach seinem Urlaub einer sein.

Auch Samena wurde auf Samos geboren. Sie bekam ihren Namen wegen des griechischen Weines "Samena", der auf Samos entsteht. Ihre Mutter und ihre Geschwister lebten in einem bescheidenen Bauernhaus am Rande der Touristenzone. Sie war schon als kleine Katze etwas besonderes, eine stilechte Tricolor-Dame. Ihr weisser Bauch und ihr weisses Gesicht standen im Kontrast zu den grossen, runden roten und schwarzen Flecken auf Rücken und Kopf. Ihr Schwanz war getigert, ihre Schwanzspitze knallrot wie die Schlusslichter eines Zuges.

Sie lernte von ihrer Mutter, wie man Mäuse fängt und wie man durch die Felder streicht. Sie war noch ganz klein, als ihre Katzenmutter sie das erste Mal ins benachbarte Bungalow-Dorf mitnahm. Hier sah sie zum ersten Mal, wie schön diese Anlagen waren. Es gab hier Blumen in allen Farben, sogar grünen Rasen, was die kleine Samena noch gar nicht kannte. Um ihr Haus herum wuchsen nur gelbe Büsche, Lavendel und Thymian. Sie legte sich auf den saftigen Rasen und streckte alle Viere von sich. Auf dem Rücken liegend wälzte sie sich richtig, genoss den fremden Duft und die Kühle des Rasens.

Genau so lag sie da, als Marlies sie das erste Mal sah. Sie war noch ein winzig kleines Ding, vermutlich erst etwa acht Wochen alt. Erstaunlich war auch, dass diese Katze überhaupt keine Angst hatte, nicht einmal vor Menschen, die sie nicht kannte. Man konnte sie ohne Probleme streicheln und hochnehmen. Sie liess alles mit sich machen. Die Katzenmutter stand mit den andern Katzenkindern etwas abseits und betrachtete das Geschehen. Samena war kaum grösser als eine Hand, beherrschte das Schnurren trotz kindlichen Alters aber bereits vorbildlich. Es war Liebe auf den ersten Blick, was Marlies und Samena verband. Sie liebte diese Hände, die sie kraulten und fütterten. Marlies war bereits mehrfache Katzenmutter und hatte sich in das kleine Kätzchen unsterblich verliebt.

Samena ging Marlies jeden Tag besuchen und verbrachte etliche Tage und Nächte bei IHREM Menschen. Sie bekam regelmässig Futter und ab und zu sogar noch ein besonderes Häppchen. Wenn Samena am Morgen nicht schon vor dem Bungalow stand, spazierte Marlies zu ihr zum Bauernhaus hoch. Gross war die Freude, als Samena ihre Marlies schon von weitem sah. Sie war sehr stolz auf ihre neue Freundin und stellte sie ihrem Bauern und ihrer restlichen Familie mit hocherhobenem Kopf vor.

Sie erlebte eine schöne Zeit mit Marlies und freute sich auf die nächsten Monate. Was sie nicht wusste, dass Marlies in wenigen Tagen abreisen würde, zurück in die Heimat, zurück an die Arbeit. Das war das traurige Schicksal der meisten Katzen auf Samos. Sie wurden nach wenigen Wochen voller Ueberfluss ihrem Schicksal allein überlassen. Im Herbst, wenn die Touristen nur noch spärlich auf die Insel kamen, begann für die Tiere die harte Jahreszeit. Viele von ihnen erlebten den nächsten Frühling nicht, denn es gab im Winter einfach zu wenig zu essen. Die im Herbst Geborenen hatten keine Ueberlebenschance, denn ihre geschwächten Mütter konnten kaum sich selbst mit Nahrung versorgen. Viele von ihnen starben als Jungtiere.

Das alles wusste Marlies. Sie kam schon seit Jahren auf diese Insel und hatte das harte Leben der Samtpfoten studiert. Sie war hin- und hergerissen, wusste einfach nicht, ob sie die kleine Samena ihrem Schicksal überlassen sollte. Sie wusste, wenn sie ohne sie abreisen würde, würde sie das Kätzchen nie mehr sehen. Sie hatte manch schlaflose Nacht, wusste einfach keinen Rat.

Am nächsten Morgens stand ihr Entschluss fest. Samena sollte in die Schweiz mitkommen. Sie nahm das kleine Wesen und brachte es zu einem Tierarzt. Dieser musste für die lange Reise und den Grenzübertritt bescheinigen, dass Samena gesund und reisefähig war. Samena wusste gar nicht, was mit ihr geschah. Fremde Hände drückten an ihr rum. Das passte ihr gar nicht und machte sie zornig. Sie hatte keine Ahnung, dass sie eine sehr, sehr lange Reise antreten würde.

Drei Tage später packte Marlies ihre Koffer. Der Bauer, bei dem Samena mit ihrer Mutter lebte, war glücklich, dass Samena ein schönes Heim gefunden hatte. Er wünschte der kleinen Katze alles Gute. Samena verabschiedete sich von ihrer Mutter und ihren Geschwistern mit einem langen Miau. Dann nahm Marlies sie auf die Hand und stieg mit ihr in einen Autocar, der brummend am Strassenrand auf sie wartete. Es waren viele Leute hier drin, alle braun gebrannt und traurig darüber, dass sie Samos verlassen müssen. Noch wusste Samena nicht, was dieser Ausdruck bedeutete. Als sich der Autocar in Fahrt setzte, schaute Samena zum Fenster hinaus. Sie sah die ganze Landschaft unter sich, die Felder, auf denen sie mit ihrer Mutter rumgetobt war. Sie stellte ihr Näschen und zog den Duft von Lavendel noch ein letztes Mal ein.

Da Samena noch äusserst klein war, durfte sie ausnahmsweise auf dem Schoss von Marlies mitreisen. Was nur Kleinkindern erlaubt war, zählte auch für diese kleine Griechin. Sogar im Flugzeug durfte sie in den Händen ihrer neuen Katzenmutter liegen statt wie andere Tiere in Transportboxen. Gott sei Dank war sie sehr müde und schlief den ganzen Flug von Samos nach Zürich. Weil Marlies ein Gesundheitsattest für die Katze besorgt hatte, gab es bei der Einreise in die Schweiz keinerlei Probleme. Noch immer trug Marlies sie in ihren warmen Händen. Die kleine Griechin schnurrte leise.

Am Flugplatz wurde sie Marlies’ Schwester vorgestellt. Mit ihr würden sie nach Basel fahren an Samenas neues Zuhause. Sie war ganz aufgeregt und freute sich sehr.

Wenig später stand sie in einer grossen Wohnung, in der es überall nach Katzen roch. Es gab in jeder Ecke einen Korb, der mit einer Decke ausgekleidet war. Samena machte ihren Rundgang und beschnupperte alles ausgiebig. Marlies folgte ihr schweigend.

Plötzlich stand ein riesengrosser, rotbeige-getigerter Kater vor ihr, der sie unfreundlich ansah. Wer war denn nur das kleine Ding, das so fremd roch? Er lief um die Dreifarbige herum und beobachtete sie genau. „Die ist ja hässlich“, schnurrte er laut. „Was will die bei uns, sind wir denn nicht schon genug?“ Als er aber den verklärten Blick in Marlies’ Augen sah, wusste er alles. Sie hatte die Kleine aus den Ferien mitgebracht und sie würde hier bleiben. Naja, da war wohl nichts zu machen, hier war Marlies der Boss. Er musste sich mit seinem Schicksal abfinden.

Samena brauchte lange, um die ganze Wohnung zu entdecken. Sie wusste, dass sie es hier schön haben würde, denn Marlies war ein liebevoller Mensch. Erst jetzt, wo die erste Nervosität etwas abgeklungen war, verspürte Samena Hunger. Sie ging dem Duft, der in der Luft lag, nach und entdeckte in der Küche kleine Schalen, die mit Futter gefüllt waren. Fast wie im Paradies, dachte die kleine Katze und machte sich über die Töpfe her. Dann legte sie sich erschöpft in einen der Körbe und schlief auf der Stelle ein. Sie hörte nicht, dass ihre drei anderen Geschwister nach Hause kamen und den Neuzugang beschnupperten. Marlies erklärte ihnen, dass sie zu ihrer neuen Schwester lieb sein sollten. Sie liessen sie weiterschlafen und freuten sich umso mehr über die Heimkehr von Marlies, die sie wochenlang vermisst hatten.

Es vergingen zwei Jahre. Aus der kleinen, struppigen Samena wurde eine schöne, ausgewachsene Katze. Sie war enorm glücklich im Kreise ihrer Katzengeschwister. Es fehlte ihnen an nichts, denn Marlies kümmerte sich liebevoll um all ihre Tiere. Samena durfte auch in den Garten, in dem es unzähliger Blumen und Sträucher gab. Wie damals in Griechenland legte sie sich über Mittag in den Schatten und liess die Sonne auf ihren Pelz scheinen.

Eines Tages änderte sich etwas im trauten Familienleben von Marlies und ihren Samtpfoten. Marlies wurde schwer krank. Oft blieb sie tagelang im Bett liegen, ging nicht zur Arbeit. Manchmal weinte sie leise, aus Kummer und Schmerz. Die Katzen setzten sich dann zu ihrem Frauchen aufs Bett und versuchten sie zu trösten. Was hätten sie darum gegeben, Marlies helfen zu können. Doch ihr ging es von Woche zu Woche schlechter. Auch ein mehrwöchiger Spitalaufenthalt konnte ihr nur wenig Besserung verschaffen. Es stand schlecht um sie, das wussten sie nun.

Marlies liess ihre Lieblinge oft tage- und wochenlang alleine, da sie im Spital oder in der Kur war. In dieser Zeit wurden sie durch Nachbarinnen, die Schwester oder einen Katzenbetreuungsdienst versorgt. Sie vermissten ihr Frauchen unheimlich und hatten schrecklich Angst, Marlies zu verlieren. Ihre Spiele wurden zaghaft und unregelmässig, ihre Freude auf ein Minimum reduziert. Es war nicht mehr schön in Marlies’ Haus, Trauer war ein steter Gast hier. Wenn Marlies Schwester zu ihnen kam, blickte sie nur stumm auf die Katzenfamilie, als wollte sie ihnen sagen, dass es ganz schlecht um Marlies stand. Sie wusste, dass Marlies eine unheilbare Krankheit hatte, obwohl sie erst 42 Jahre alt war. Dennoch war ihre Zuversicht gross, alle hofften auf ein Wunder.

Doch dieses Wunder traf nicht ein und an Weihnachten mussten die Aerzte einsehen, dass sie nichts mehr machen konnten. Nachdem Marlies über ein Jahr gegen ihre schwere Krankheit gekämpft hatte, sah sie ein, dass sie den Kampf verlieren würde. Sie gab ihrer Schwester den Auftrag, für jede ihrer Katzen ein gutes Plätzchen zu suchen. Kein einfacher Auftrag, denn ausser Samena waren alle Katzen zwischen sieben und neun Jahre alt. Es kam dazu, dass einer der Kater Unsitten angenommen hatte, die seine Vermittlung erschwerten. Samena wurde im Internet als Notfallkatze ausgeschrieben „wegen Krankheit der Besitzerin sofort abzugeben“.

Ueber diesen Aufruf stolperte Tina, als sie eines Tages im Internet surfte. Es musste sich laut Beschreibung um eine Tricolor-Katze handeln, also eine Glückskatze. Nachdem Tina ihre Shila durch Krankheit verloren hatte, wollte sie einer Notfall-Katze einen Platz anbieten. Sie verabredete sich mit Marlies Schwester und ging sich Samena anschauen.

Hübsch war die kleine Dreifarbige mit ihren grossen roten und braunen Flecken auf dem Rücken. Sie trug ein rotes Halsband mit einem leuchtenden Herzanhänger. Als Tina die Geschichte von Marlies hörte, gab es nichts mehr zu überlegen. Hier war ein Tier in Not. Sie würde Samena zu sich nehmen, in ihre Katzenfamilie.

Bereits am nächsten Tag zog Samena um. Es war keine lange Reise für die kleine Katze. Sie hatte genug Reiseerfahrung. Erinnerungen kamen in ihr hoch, als sie damals mit Marlies aus Griechenland in die Schweiz kam.

Tina hatte Bedenken, ob Samena aufgenommen würde. Sie hasste es, wenn die Katzen miteinander stritten und war froh, dass gerade keine der anderen daheim war. So hatte sie genug Zeit, Samena die ganze Wohnung zu zeigen. Doch kaum hatten sie den Rundgang beendet, erschien Tasja. Sie schaute Samena aus Distanz an und beschnupperte jeden Schritt, den Samena vor ihr gemacht hatte. Sie ging ihr nach und beobachtete alles stets mit zwei Metern Abstand. Sie spürte die Trauer, die Samena in sich trug, und entschloss sich kurzerhand, Samena willkommen zu heissen. Sie ging auf die Weisse zu, die ihr eigentlich sehr ähnlich war, und bot ihre Nase zur friedlichen Begrüssung an. Jetzt war der Bann gebrochen und Samena war froh auf eine friedliche Familie gestossen zu sein. Sie freute sich auch, als sie ihre anderen Geschwister das erste Mal sah. Es entging ihr nicht, dass Tasja hier der Boss war. Und da Tasja ihren Geschwistern signalisierte, dass Samena in Ordnung war, ging alles friedlich von statten.

Auch um Tinas Haus lag ein Garten. Samena roch die Gräser und Bäume durchs geschlossene Fenster. Aber sie musste vorerst drinnen bleiben, damit sie sich erst eingewöhnen konnte. Doch daran dachte Samena gar nicht. Sie nutzte die erste Gelegenheit und verschwand durch die Katzentüre.

Sie rannte davon, wollte ihre Umgebung erkunden. Vor ihr lag ein grosser Parkplatz, dahinter drei Hochhäuser. Im Erdgeschoss dieser Häuser gab es kleine Gärten. Die meisten waren mit einem Maschenzaun umgeben, doch bei manchen konnte man das Näschen reinstecken. Sie hörte einen Kater, der sich irgendwo mit einer Mieze unterhielt. Den wollte sie kennen lernen und ging auf ihn zu. Es handelte sich um einen grossen, rotgetigerten Kater. Er erinnerte sie an ihren Bruder, der genau so gemustert war. Rosso erzählte Samena, dass es auf der anderen Strassenseite einen kleinen Bach und eine grüne Wiese mit vielen Mäusen gab. Sie machten sich zusammen auf den Weg, mussten dazu aber die Hauptstrasse überqueren. Sie wussten nicht, dass sie beobachtet wurden Passanten wunderten sich, dass schon wieder eine Neue in der Gegend war. Sie boten ein prächtiges Bild, Rosso mit seiner neuen dreifarbigen Freundin. Samena war von ihrem neuen Freund so hingerissen, dass sie vollkommen vergass, man könne sie daheim vermissen.

Als Tina ihr Missgeschick - die offene Katzentüre - entdeckte, blieb ihr fast das Herz stehen. Wie konnte sie sie nur unverschlossen lassen? Sie hoffte aber sehr, dass Samena nach einem Rundgang bald wieder daheim sein würde. Es war eine kurze Nacht für Tina, in der sie sich von einer auf die andere Seite wälzte und einfach keinen richtigen Schlaf fand. Samena war weg! Wie sollte sie das je Marlies’ Schwester erklären? Auch am nächsten Tag kam Samena nicht zurück. Sie suchte die Weisse in der ganzen Umgebung und fragte alle Nachbarn, ob sie sie gesehen hätten. Man erzählte ihr, dass eine Katze, auf die diese Beschreibung passte, zusammen mit einem roten Kater auf der anderen Strassenseite in der Ueberbauung gesehen worden war. Schrecklich war diese Vorstellung, denn wie viele Tiere mussten beim Ueberqueren dieser Strasse schon ihr Leben lassen.

Tina suchte stundenlang, ohne Erfolg. Samena blieb verschwunden. Sie tröstete sich damit, dass Samena einen Adressanhänger auf sich trug, in den Tina vorsichtshalber die neue und alte Adresse reingeschrieben hatte. Es hätte ja durchaus sein können, dass Samena auf dem Heimweg zu Marlies war.

Auch in der zweiten Nacht schlief Tina kaum. Sie wachte beim geringsten Geräusch auf, stand etliche Male am Fenster und schaute nach draussen in die dunkle Nacht. Auch um vier Uhr in der Früh hörte sie eine Katze, die Trockenfutter frass. Das Geräusch kannte sie genau, das Knacken und Knabbern, wenn die Katze mit ihren scharfen Zähnen die getrockneten Fleischstücke zerteilte. Doch zusätzlich zu diesem bekannten Geräusch hörte sie ein leises Klingeln der metallenen Adressplombe am Tellerrand. Blitzschnell sprang Tina aus dem Bett und sah im Wohnzimmer Samena, die ihren leeren Magen füllte. Sie nahm die Ausreisserin in die Arme und drückte sie fest an sich. Obwohl Samena erst zwei Tage bei Tina war, kam sie nach einem 36stündigen Ausflug unversehrt in ihr neues Heim zurück.

Am nächsten Wochenende, als die Pforten des Paketdienstes geschlossen waren, kam Emsy wieder einmal nach Hause. Jetzt sah er zum ersten Mal seine neue Schwester, die er sofort mochte. Sie hatte etwas sehr Liebes an sich. Er wusste, dass sie sich gut verstehen würden. Und daran änderte sich bis heute nichts. Emsy mochte die kleine Griechin und legte sich oft dicht an sie. Sie erzählte ihm stundenlang von ihrer Jugend in Griechenland, vom Meer und von der kargen Gegend, aus der sie stammte. Sie schwärmte von ihrer alten Familie und Emsy hörte das Weinen in ihrer Stimme, als sie von Marlies sprach. Samena hatte erfahren, dass Marlies in der Zwischenzeit gestorben war. Doch sie wusste, dass sie sich eines Tages wieder sehen würden, denn Katzenfreunde kommen in den Katzenhimmel und nicht ins normale Paradies zu den anderen Menschen. Und Emsy erzählte ihr im Gegenzug von seinen Abenteuern und unzähligen Ausflügen.


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