Der traurige Baum - Luskas Bücher

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Der traurige Baum

Buch 8
Im Schlossgarten
Es war vor langer Zeit, als noch Trolle ihr Unwesen trieben und sich überall unbeliebt machten. Auch im Schloss Jardim wohnten solche Bösewichte. Sie hielten sich am Tag in den unterirdischen Gängen des Schlosses auf. In der Nacht kamen sie hervor und feierten im Schlossgarten ihre Feste. Dabei lachten sie derart laut und schrill, dass die Schlossbewohner kaum schlafen konnten. Sie ernährten sich auch von den Früchten und dem Gemüse, das im Schloss wuchs. Dabei waren sie sehr wählerisch. Sie suchten sich die besten Früchte aus, trampelten in den Beeten herum und warfen die Abfälle überall auf den Boden. Sie waren die reinste Plage. Doch niemand widersetzte sich ihnen, denn die Trolle waren für ihre Kräfte bekannt. Sie konnten mit ihrem Fluch den Menschen und Tieren schaden und verzaubern. Für die Schlossbewohner hiess das einfach, das Geschehen still zu tolerieren oder sich mit ihnen anzufreunden.
Eigentlich wollte niemand etwas mit ihnen zu tun haben, trotzdem konnte man sie nicht loswerden. Während die einen gute Miene zum schlechten Spiel machten, wählten die anderen eine bessere Taktik. Sie freundeten sich mit ihnen an und wurden deshalb von den Trollen in Ruhe gelassen.

Auch Abele lebte mit seinen Eltern im Schlossgarten. Er war dort aufgewachsen und hatte von seinen Eltern alles gelernt, was ein Apfelbaum wissen musste. Sie erklärten ihm genau, dass er das Kitzeln der Bienen erdulden musste, wenn diese von einer Blüte zur nächsten flogen, um aus dem Blütenstaub Honig zu machen. Dies war für die Bienen als auch für Abele sehr wichtig, denn aus den Blüten wuchsen im Sommer wunderschöne Früchte. Er spürte auch die Ameisen, die an seinem Stamm hochkrochen. Bei den Wurzeln suchten Würmer ihren Weg. Dadurch lockerten sie den Boden, sodass Abele genug Luft und Wasser bekam.
Manchmal setzten sich Vögel auf seine Aeste, um sich von der Arbeit zu erholen. Einmal war es sogar passiert, dass ein Vogel sein Nest in seiner Krone erbaut hatte. Wenn der Wind durch seine Krone fegte, neigten sich die Aeste und die Blätter. Dabei rieben sie aneinander und verursachten ein Geräusch, als sänge Abele ein Lied. Er stand geschützt in der Mitte zwischen seinen Eltern und wurde vom Schlossgärtner gehegt und gepflegt. Der Gärtner war sehr gut zu ihm. Sein Stolz war nicht zu übersehen. Abele würde bald ein wunderschöner Baum werden. Seine Eltern schützten ihn auch vor Eindringlingen oder vor den Trollen, die immer wieder versuchten, auf ihn zu klettern und an seinen Aesten zu rütteln. Bei seinen Eltern hatten sie keine Chance. Sie waren viel zu gross für die kurzen Beine der Trolle. Aber Abeles Aeste konnten sie erreichen und erklimmen. Dann hockten sie auf ihm, schmatzen, geiferten und rülpsten vor sich hin. Es war einfach nur eklig. Sie klauten seine wenigen Früchte, die er als junger Baum trug. Diese rissen sie herunter, bissen in die süsse Frucht und schmissen den angebissenen Apfel ins nächste Beet. Sie hatten keinen Respekt vor der Natur und deren Produkte. Es waren egoistische kleine Bösewichte.

Aber auch Abeles Eltern hatten Mühe mit den Trollen und schauten besorgt, als Abele langsam grösser wurde und sich zu wehren begann. Wenn sie wieder mal auf seinen Aesten hockten und an seiner Rinde rumschnippelten, schüttelte er sich heftig in der Hoffnung, sie würden runterfallen. Doch das nützte nicht viel. Die Trolle lachten ihn nur aus. Was wollte der Kleine überhaupt von ihnen? Sie waren ihm hochaus überlegen und dachten nicht daran, sich zu zügeln oder verjagen zu lassen.

Nur die Bonsai-Bäume hatten sich mit den Trollen angefreundet. Sie wussten, dass sie mit ihrer Grösse keine Chance hatten. Wenn die Trolle sie gleich behandeln würden wie Abele, wären sie bald zertrampelt und zerstört. Also liessen sie die Trolle gewähren. Sie als Miniaturausgabe mussten sich mit grösseren Wesen zusammentun, wenn sie etwas bewirken wollten. Es ging nicht lange und sie waren die besten Freunde der eigenartigen Geschöpfe. Sie brauchten einen Verbündeten, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Und dafür waren die Trolle genau richtig. Ihnen war Abele schon lange ein Dorn im Auge. Mit jedem Monat wurde er grösser und schöner, sie hingegen blieben winzig. Seine Krone überragte sie bereits um das Mehrfache. Sie mussten ständig zu ihm hochschauen, was sie wütend machte. Und dann kamen regelmässig noch die Herrschaften und der Gärtner. Alle lobten Abele für seine saftigen, roten Aepfel. Auch Abeles Eltern waren stolz auf ihren Nachwuchs. Sie wussten, dass die Verbindung von Vaters roten und Mutters süssen Aepfeln die schmackhaftesten Früchte hervorbrachte.

Doch was hatten die Bonsai denn schon? Nichts! Sie waren nur klein und zierlich. Sie trugen keine Früchte und waren keine imposante Erscheinung. Nur einzelne Bonsai-Liebhaber konnten sich an ihnen erfreuen. Das wollten sie ändern. Abele musste weg, das stand fest. Sie mussten ihn ausschalten, dann wären sie wieder die Nummer Eins. Doch wie sollten sie das nur machen?

An einem lauen Sommerabend, als die Trolle bei den Bonsais sassen und Schauerlieder sangen, klagten sie den Bösewichten ihr Leid in die Ohren. Sie erzählten weinend, dass Abele seine Aepfel mit Absicht auf sie hatte fallen lassen. Mit ihrer Grösse könnten sie sich gar nicht wehren. Zudem hätten sie gehört, dass Abele einen Plan geschmiedet hat, um die Trolle zu vernichten. Er würde den Trollen vergiftete Aepfel schenken.

Nun wurden die kleinen Gesellen wütend, das war zu viel für sie. Was glaubte dieser freche Kerl eigentlich? Sie waren hier die Herrscher, nicht so ein kleines Bäumchen. Sie tanzten ums Feuer und stimmten einen schaurigen Trollgesang an. Mit diesem Lied lockten sie auch die letzten ihrer Art an. Einer nach dem anderen kam aus seinem Unterschlupf und stimmte mit den anderen ein. Mit jeder Stunde wurde der Gesang lauter und unheimlicher. Um Mitternacht hatte ihr Treiben den Höhepunkt erreicht. Sie formten einen Kreis um Abeles Stamm, hoben die Hände zum Himmel und schickten einen lauten Zauberspruch hinauf. Dabei fuchtelten sie mit den Händen herum. Der Himmel verdunkelte sich noch mehr. Es blitzte und donnerte – dann war Abele verschwunden. Die Bonsais lachten schäbig, als sie den leeren Platz sahen, wo gerade noch Abele gestanden hatte. Sie dankten den Trollen für ihre Unterstützung. Endlich waren sie den Störenfried los.
Einsam und verlassen
Abele erwachte am Morgen aus einem tiefen Schlaf. Er stand mitten auf einer vertrockneten Wiese, ganz allein. Egal in welche Richtung er schaute, es gab nur Felder und ein paar Kühe. Alles war kahl und trostlos. Die Trolle hatten ihn aus dem Schlossgarten vertrieben. Unter seinen Aesten stand eine alte, halb verfaulte Gartenbank. Seine Wurzeln steckten in trockenem, harten Boden, sodass er die Füsse kaum mehr bewegen konnte. Sie Sonne schien heiss und unerbitterlich auf ihn hinunter. Wasser gab es keines, weder über dem Boden noch bei seinen Wurzeln. Deshalb ging es keine zwei Wochen und seine Früchte vertrockneten. Sie konnten sich nicht mehr an den Aesten halten und fielen verdorrt auf den harten Boden, der wegen der Trockenheit bereits Risse hatte. Die Blätter rollten sich zusammen und glitten beim geringsten Windzug hinunter. Schon von weitem sah man den Apfelbaum, der ohne Früchte und Blätter einsam auf der Wiese stand. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man gedacht, es handle sich hier um einen alten, halbtoten Baum, den man fällen müsste.

Manchmal kamen Spaziergänger vorbei oder Liebespaare. Diese setzten sich auf die Holzbank. Die Liebenden flirteten unter seinen Aesten und ritzten mit einem Messer ihre Namen in seine Rinde. Sie hatten ihre Freude daran, doch Abele schmerzten diese Schnitte. Aus den Wunden tropfte das Harz.

Nach der Schule kamen manchmal Kinder, die sich an ihm hoch hangelten. Sie standen dann auf seinen Zweigen und turnten darauf herum. Wenn ein Ast unter der Last brach, lachten sie nur. Er fühlte sich elend und einsam. Dabei hatte er doch gar nichts angestellt, was diese Strafe hätte rechtfertigen können. Er sehnte sich nach dem Schlossgarten und seinen Eltern.

Ab und zu kam bei Sonnenuntergang eine Eule vorbei. Diese setzte sich ganz oben auf den höchsten Ast und spähte über die weitgelegene Schlossmauer. Mit ihren grossen Augen und der extremen Sehkraft konnte sie alles sehen. Sie berichtete Abele vom Geschehen im Schloss. Doch sie sagte nur die halbe Wahrheit, denn sie wusste, dass Abele sehr traurig war. Also erzählte sie ihm nicht, dass es im Schloss genug Wasser und Fürsorge durch den Gärtner gab. Sie verschwieg wohlweislich, dass sich Abeles Eltern extrem um ihren Sohn sorgten. Sie wussten ja nicht, was genau passiert war. Aber sie konnte Abele trotzdem etwas trösten und versicherte ihm, dass alles irgendwann besser würde und er auch ohne Früchte und Blätter ein stattlicher Baum sei.

Doch Abele spürte, dass die Eule nicht ganz aufrichtig war. Mit jedem Tag wurde er trauriger. An einem schönen Herbstabend, als die Sonne am Untergehen war, liess er vor lauter Kummer seinen Kopf fast bis auf den Boden hängen. Dann hörte er einen leisen Flügelschlag. Er sah hoch, mitten in die wunderschönen Augen einer Fee. Sie glich einer Libelle, war eine weisse, zierliche Gestalt, deren Flügel aufgeregt flatterten. "Was bist du denn so traurig, kleiner Baum?" Sie hockte sich mit ihrem Fliegengewicht auf den untersten Ast und hörte Abele gespannt zu. Er erzählte ihr vom Schlossgarten, von seiner Familie, von den neidischen Bonsais und den bösen Trollen. Je mehr er über die Geschehnisse nachdachte, desto trauriger wurde er. Seine Tränen kullerten als harzige Rinnsale dem Stamm entlang hinunter. Die Fee hatte grosses Mitleid mit dem kleinen struppigen Baum. Er hatte nichts falsch gemacht und wurde dennoch bestraft. Da musste sie etwas unternehmen. Sie wollte sich mit ihren Kolleginnen beraten und flog davon. Kurze Zeit später war der Himmel übersäht von kleinen fliegenden Gestalten. Durch ihre durchsichtigen Flügel konnte man im Hintergrund den Mond sehen, der in seiner vollen Pracht am Himmel stand. Sie liessen sich auf Abeles Aesten nieder.

Die dienstälteste Fee erhob das Wort: "Wir Feen können das Verhalten der Trolle und Bonsai nicht akzeptieren und bieten dir unsere Hilfe an. Ab sofort wird jedes Wesen, das deinen Baum berührt für kurze Zeit unsichtbar sein. Nutze deine Chance und tue dadurch Gutes. Hilf dem Wesen, das dich braucht. Biete den Schutzbedürftigen Unterschlupf und den Hungrigen Nahrung an. Wenn du Gutes tust, wird auch dir geholfen. Vertraue uns." Sie nahm einen Zauberstab in die Hand und liess ihn über Abeles Krone kreisen. Sie verteilte feinen Zauberstaub über den ganzen Baum. Dann stimmten die Feen in einen Lobgesang ein. Es war ein himmlisches Lied, zart, fein und harmonisch, das Abele sehr berührte. Nun schöpfte er wieder Mut. Kurze Zeit später waren die Feen verschwunden. Er sah nur noch, wie sie lautlos davonflatterten.
Die Verfolgungsjagd
Es wurde Herbst und Abele stand noch immer einsam und allein mitten im Feld. Er hatte schon so vieles über sich ergehen lassen müssen. Wenn Spaziergänger mit ihren Hunden vorbeikamen, ahnte er bereits, was passieren würde. Ob klein oder gross, die Hunde hoben das Bein und benetzten ihn. Manchmal hinterliessen sie sogar ein Häufchen am Fusse des Baumes, das in der Sonne grauenhaft stank.

An manchen Tagen kam der Bauer mit seiner Maschine. Dann zog er tiefe Furchen in den Boden. Doch ab und zu kam er mit einem Anhänger, der grauenhaft stank. Dann verteilte er auf dem ganzen Feld Jauche. Wenn es zu diesem Zeitpunkt noch windig war, flog der stinkende Saft bis auf seine Aeste. Abele konnte tagelang kaum atmen, so bissig war der Gestank. Wie er das alles hasste.

Dann, eines Morgens kam eine Katze gerannt. Sie wurde von einem kläffenden Hund verfolgt, der sie jagte. Sie rannte im Zick-Zack vor ihm her mit ausgestrecktem Schwanz. Sie suchte eine Möglichkeit, ihrem Feind zu entkommen. Nichts, es gab aber auch wirklich nichts, keine Höhle, kein Zaun, einfach nichts, wo sie sich hätte retten können. Abele sah schon von weitem die Verfolgungsjagd. Die Katze rannte um ihr Leben mit ausgestrecktem Schwanz und flatterndem Haar. Sie war gross und kräftig, hatte aber die viel kürzeren Beine als ihr Verfolger. Der Hundebesitzer schaute aus der Ferne unbekümmert zu. Er mochte diese streunenden Katzen sowieso nicht. Nie würde eine Katze in sein Haus einziehen. Er fand diese Tiere widerlich. Sie gehorchten nicht, wie sich das für seine Haustiere gehörte. Er konnte mit den Katzen nicht so prahlen wie mit seinem Hund, den er aufs Jagen abgerichtet hatte. Katzen würden ihm höchstens Mäuse nach Hause schleppen statt Füchse und Rehe jagen. Er war mächtig stolz auf seinen Wuffi, der einmal mehr zeigte, dass er ein angriffiger Köter war, der jedes Tier zu Tode hetzen könnte.

Das ungleiche Duo kam in Windeseile auf Abele zu. Es wurde ihm Angst ums Herz, denn er ahnte bereits, dass die Katze das schlechtere Los gezogen hatte. Der Hund, der seine weissen Zähne fletschend zeigte, würde das Tier zu Tode beissen. "Spring hoch", rief Abele der Katze zu. In letzter Sekunde sprang sie, krallte sich in Abeles Rinde fest und zog sich zum ersten Ast hoch. Man hörte nur noch ihren Atem. ihr Puls raste. Sie war unsichtbar geworden und hatte sich bei Abele in Sicherheit gebracht.

Wuffi vollzog einen Vollstop, blieb wie angewurzelt stehen. Er schaute von links nach rechts, war vollkommen verdutzt. Wo war denn jetzt das blöde Tier? Eben war es doch noch vor ihm, kaum eine Pfotenlänge entfernt. Und nun war es verschwunden. Das konnte doch gar nicht sein. Es gab ja nirgends einen Unterschlupf. Er schaute unter der Holzbank nach und hinter dem Baumstamm – nichts. Auch als er zur Baumkrone hinauf starrte hatte, sah er nur leere Aeste. Die Katze war verschwunden, obwohl er ihren Atem noch hören konnte. Sie hatte ihn gelinkt. Mit hängenden Ohren trat er den Rückweg zu seinem Herrchen an. Dieser schimpfte mit ihm, denn Wuffi hatte ihm die Freude daran genommen, ein erlegtes Tier sein eigen zu nennen. Beide trotteten davon und Abele wünschte sich, keinen von ihnen je wiederzusehen. Nachdem sich die Katze vergewissert hatte, dass das Duo verschwunden war, bedankte sie sich bei Abele für den Schutz, den er ihr geboten hatte. Dann schlenderte sie davon, auf dem Weg ins nächste Abenteuer.
Die Armen
In der Gegend, wo Abele stand, gab es keine reichen Leute. Wer Glück hatte, besass etwas Land, das er bewirtschaften konnte oder fand eine Anstellung in der Fabrik. Viele Dorfbewohner waren aber sehr arm. Sie mussten jeden Tag ums Ueberleben kämpfen.

So ging es auch Familie Bocht. Der Vater hatte vor einiger Zeit einen Unfall und konnte seither nur noch eingeschränkt arbeiten.  Das Geld, das er nach Hause brachte, reichte kaum, um sich und seine fünf Kinder zu ernähren. Die wenigen Kartoffeln, die in seinem Garten wuchsen, waren in wenigen Tagen gegessen. Ab und zu schenkte ihm die Bäuerin Eier und Milch. In der Bäckerei bekam er manchmal altes Brot vom Vortag, das man nicht mehr verkaufen konnte. Doch oftmals blieben die Kinder hungrig. Deshalb ging er mit ihnen regelmässig in den Wald, sammelte dort Beeren oder Kräuter.
An einem schönen Spätsommertag spazierte Familie Bocht bei Abele vorbei. Sie betrachteten den vertrockneten Baum. Wie schade, dass dieser Baum so trostlos aussah und keine Früchte trug. Es war wieder einmal ein Tag, an dem der Waldspaziergang vergebens war. Die Erntezeit war vorbei, die Beeren vertrocknet. Es gab nur noch ganz wenige Pilze, die kaum für ein Mittagessen reichten. Wie sollte er seinen Kindern erklären, dass sie auch heute wieder mit knurrendem Magen ins Bett müssten?

Er sass mit seiner Frau traurig auf der schiefen Holzbank und sah seinen Kindern zu, die zusammen spielten. Er fühlte sich schuldig an der Situation, in der er seine Familie gebracht hatte. Es nützte auch nichts, dass ihn seine Frau tröstete. Bestimmt kämen bessere Zeiten, erklärte sie. Der da oben im Himmel würde ihnen beistehen, davon war sie überzeugt. Der Mann schaute traurig zum Himmel hoch. Er war zwar ein gläubiger Mensch, doch an Wunder glaubte er nicht mehr. Das Schicksal hatte es in letzter Zeit nicht gut mit ihm gemeint. Er stand auf und hockte sich in den wenigen Schatten, den Abele spenden konnte. Wie heiss es heute war. Die Sonne brannte erbarmungslos. Er lehnte sich an den Baumstamm und schaute zum Himmel hoch, als erwarte er von dort oben ein Zeichen, das alles gut werden würde.

Was war denn das? Er traute seinen Augen nicht, rief seiner Frau, sie solle doch zu ihm kommen. Sie sass noch immer auf der Bank und fragte sich, was denn jetzt in ihren Mann gefahren sei. Er rief immer: "Schau, schau, es ist ein Wunder." Sie sah nichts, schon gar kein Wunder. Hatte ihr Mann nun den Verstand verloren? Sie setzte sich neben ihn unter den Baum, nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest. Und dann sah auch sie das Wunder. Ueber ihnen hingen unter grünen Blättern saftige Aepfel. Abele liess seine Aeste tief hinunter hängen, damit die Familie seine süssen Früchte ernten konnten. Sie füllten ihre Taschen und Körbe, bedankten sich bei Gott für das Wunder, und eilten nach Hause. Kaum hatten sie den Baum verlassen, war dieser wieder struppig und fruchtlos.

Doch der Tag der Familie Bocht war gerettet. Am Abend gab es Apfelkuchen, eine Delikatesse für die ausgehungerten Kinder. Auch in den nächsten Tagen kamen sie regelmässig bei Abele vorbei. Sie ernteten alle Früchte, die er ihnen schenkte und verkauften diese auf dem Markt. Niemand im Dorf hatte je so saftige und süsse Aepfel angeboten. Alle fragten sich, woher Familie Bocht diese wohl hatten. In deren Garten stand jedenfalls kein Baum. Davon hatten sie sich bereits überzeugt. Doch das blieb ein Geheimnis. Niemand ausser den armen Kindern und deren Eltern konnten die Früchte sehen.
Igel in Not
Langsam ging das Jahr zu Ende. Es wurde schon recht kühl in der Nacht. Abele hatte Angst, dass er im Winter erfrieren würde, so schutzlos wie er war. Er war daher sehr dankbar für die Dienste seiner neuen Freunde, der Familie Bocht. Diese brachten ihm regelmässig Wasser aus dem Bächlein, das am Waldrand seine Bahnen zog. Immerhin musste er im Winter nicht verdursten. Dennoch spürte er, dass er krank war. Sein Baumstamm wurde hohl und trocken. Wenn er nur den Winter überleben würde. Er sehnte sich nach seinen Eltern und wollte sie nochmals sehen bevor er sterben würde. Es war zwar noch zu früh um diese Welt zu verlassen, das wusste er, doch er fühlte sich elend und schwach.
Mitte November kam eine Igelfamilie zu ihm. Sie suchten einen Unterschlupf für sich und ihre Kinder. Durch den recht nassen Frühling war ihr Nachwuchs viel zu spät geboren und somit noch viel zu klein um alleine in den Winterschlaf zu gehen. Doch die Welt hatte sich in den letzten Jahren verändert und die Igel vor grosse Aufgaben gestellt. Auf dem kargen Boden wuchs nichts mehr, kein Busch, kein Baum. Das Feld war bereits umgepflügt und hatte tiefe Furchen, in denen im Winter der Schnee liegen blieb und eine Eisschicht bildete. Die Gärten im Dorf wurden durch Zäune geschützt. Dort konnten sie sich auch nicht verstecken. Wo früher Buchen- und Ligusterhecken standen, wurde heute Thuja gepflanzt. Die Leute wollten keine Hecken mehr, die im Winter ihre Blätter verloren. Auch der Kompost wurde entweder abgeführt oder in Plastikbehältern aufbewahrt, die nach unten durch ein Gitter gegen Mäuse geschützt waren. Wer eine Scheune besass, hatte diese schon längst mit einem Hängeschloss versehen, um ungebetene Gäste abzuhalten.

Es war nicht einfach für Igel, einen geeigneten Unterschlupf zu finden. Dabei hatten sie so viel Talent beim Nestbau. Doch dazu brauchten sie das nötige Material, aus dem sie ein dichtes Nest bauen konnten, das auch gegen Kälte sicher war. Doch hier gab es weder Laub noch Aeste.

Sie trotteten traurig übers Feld, schauten umher. Nichts! Bald würde es eisig kalt werden. Für die Igel war zwar nicht die Kälte das grösste Problem, sondern die Tatsache, dass sie keine Nahrung mehr fanden. Normalerweise würden sie im Winter schlafen. Wenn sie aber ohne Winterschlaf auskommen mussten, brauchten sie Nahrung für sich und ihre Kleinen. Es zog ein beissend kalter Wind auf. Sie legten sich dicht an den Baum und zogen die Kleinen nahe an ihren Körper. Sie rollten sich zusammen und nahmen ihre Kinder an ihren Bauch, der weich und zart war. Dieser würde sie für den Moment schützen und den kalten Wind abhalten.

Plötzlich bewegte sich der Baum, öffnete an der Stelle wo sie lagen, seinen Stamm. Sie konnten ins Innere schauen, in eine wunderbare Höhle, die nach aussen durch die Baumrinde geschützt war. Sie schnappten ihre Kinder und gingen hinein. Wie schön war es hier und wie gemütlich. Trotzdem mussten sie noch etwas Laub und Holz haben, um sich ein Nest zu bauen. Sie erklären ihren Kindern, dass sie sich ganz ruhig verhalten sollen. Sie müssten noch Material für das Nest holen, seien aber sofort wieder zurück.

Dann gingen sie wieder hinaus. Draussen fanden sie zu ihrem Erstaunen grüne Blätter, Gräser und reife Aepfel, die vom Baum gefallen waren. Sie hatten keine Ahnung, woher diese Geschenke kamen. Doch sie nahmen sie noch so gerne entgegen. Damit könnten sie nun ein schönes Nest bauen und den Kindern Schutz bieten.

Sie brachten die ersten Errungenschaften ins Innere des Baumes. Die Mutter begann sofort mit dem Bau. Sie flocht aus den Gräsern und Blättern eine Art Matratze, die sie mit Harz verschloss. Aussen wurde das Nest mit geflochtenen Zweigen versehen, die dem Ganzen Halt gaben.

Der Igelvater war noch draussen. Als er die letzten Blätter aufnahm, sah er den Feind. Dieser stand kaum zwei Meter von ihm entfernt und leckte seinen Mund. Der Fuchs hatte das Stacheltier gerochen. Er hatte grossen Hunger und wusste, dass wenn er schnell genug war, er den Igel packen und fressen könnte. Er müsste einfach so schnell sein, dass der Igel sich nicht einrollen konnte. Im Moment war dieser ja mit etwas beschäftigt. Zwar konnte er nicht sehen, was der Igel trug, doch das war für ihn eh nicht wichtig. Er schaute sich kurz um, ob nicht noch ein Jäger in der Nähe war. Dann setzte er zum Sprung an. Er hörte ein Quietschen, als ob sich eine Tür öffnete, dann war die Beute verschwunden. Hier ging es doch nicht mit rechten Dingen zu? Der Fuchs lief auf und ab, um den Baum herum. Er schnupperte am Boden, ob es irgendwo eine Höhle gab, in der sich der Stachlige hätte verkriechen können. Auch das wäre für ihn kein Problem gewesen. Dann hätte er ihn ausgegraben. Doch er sah nichts, obwohl er den Igelgeruch noch in der Nase hatte. "Die Welt wird auch immer verrückter", dachte er und sprang davon.

Als die Igelfamilie ihr Nest fertig gebaut hatte, verschloss Abele den Eingang mit Harz. Niemand sollte die Stachligen stören. Im Frühling, wenn sie wach würden, würde er das Tor wieder öffnen. Abele war glücklich. Er konnte den Tieren helfen und hatte nun Freunde bei sich. So war er nicht mehr ganz allein.
Heimwärts
Am gleichen Nachmittag kam ein Vogel vorbei und zwitscherte vor sich hin. "Abele, du bist ein gutes Wesen. Du hilfst den Tieren und Menschen. Manchmal geschehen Wunder, glaub mir." Und der Vogel sollte recht behalten.

Als der Mond langsam hinter dem Horizont hervorschaute, entdeckte er eine Unzahl Flügel. Sie flogen direkt auf ihn zu und setzten sich, wie schon vor einiger Zeit, auf seine kahlen Aeste. Die Feen waren zurückgekehrt, um ihr Versprechen einzulösen.

Wiederum sprach die Dienstälteste. "Abele, wir haben dich in den letzten Monaten beobachtet. Du hast viele gute Taten gemacht. Du hast der Katze und den Igeln geholfen und den Armen Nahrung und eine Existenz gegeben. Deine Güte ist tausend Mal mehr wert als der Fluch der Trolle. Du bist nun erwachsen geworden und hast es verdient, nach Hause zu gehen. Nun bist du so stark, dass dir die Trolle nichts mehr antun können. Danke Abele für deine Geduld und dein gutes Wesen." Sie flog hoch, nahm den Zauberstab und schüttelte Zauberstaub über ihn.
Der Himmel verdunkelte sich, und der Mond war kaum mehr zu erkennen. Der Boden öffnete sich und schob die Erde zur Seite. Jetzt sah man Abeles Wurzeln, die trocken und rissig waren. Der Apfelbaum mitsamt seinen Wurzeln erhob sich. Er wurde von Tausenden Feen getragen. Sie trugen ihn wie auf Wolken. Sie flogen mit ihm zum Schloss. Im Schlossgarten setzten sie ihn sanft ab, an der Stelle, an der er vor langer Zeit gestanden hatte. Dann flogen sie davon. Er sah die kleinen Figuren mit ihren filigranen Flügeln, wie sie dem Mond entgegen flogen und hörte ihren himmlischen Gesang, den er nie vergessen würde.

Abele hatte vom nächtlichen Flug nicht viel mitbekommen. Er war in einen tiefen Schlaf gefallen. Am nächsten Morgen, als die Sonne aufging, traute er seinen Augen nicht. Er spürte, dass etwas passiert war und sich alles verändert hatte. Er schaute sich um und sah neben sich seine Eltern, die es kaum fassen konnten, dass ihr Sohn wieder da war. Abele schüttelte sich und rieb seine Aeste an denen seiner Mutter. Nun war er fast gleich gross wie sie. Er spürte, dass Wasser durch seine Zweige floss und dass seine Wurzeln gut und fest verankert waren. Sein Stamm war dick und hatte keine rissigen Stellen mehr. Er war ein gesunder, wunderschöner Baum geworden. Seine Eltern weinten vor Freude. Ihr Junge war heimgekehrt.

Abele spürte aber noch ein sanftes Kribbeln in seinem Bauch. Die Igel waren mit ihm umgezogen. Ihr Winternest hatte den Flug über die Wolken gut überstanden. Im Frühling, wenn sie wach würden, könnten sie im Schlossgarten leben. In seinem Stamm gab es fortan ein kleines Loch, durch das die Stachligen ein- und aussteigen konnten.

Es hatte sich einiges verändert im Schloss. Zwar gab es dort immer noch Bonsais, doch hatte man sie umgepflanzt. Sie wohnten jetzt auf der anderen Schlossseite in einem Treibhaus und wurden dort von den Besuchern bewundert. Nun hatten sie, was sie wollten. Und Abele hatte ihnen schon längst vergeben.

Trotzdem war er noch immer etwas beunruhigt. Wo waren die Trolle geblieben? Würden sie ihn nun in Ruhe lassen oder wieder mit einem Fluch belegen? Am Abend wartete er auf sie. Jetzt wäre es Zeit, dass sie aus ihren Verstecken kamen und Unfug machten. Aber nichts passierte. Es war totenstill im Schloss. Niemand feierte, keiner schrie, niemand schmiss Steine und Früchte durch die Gegend. Es gab keine Bösewichte mehr. Die Feen hatten sie versteinert. Sie standen nun wie Gartenzwerge bocksteif inmitten des Areals. Die Besucher lachten über sie und erzählten sich wahre und unwahre Geschichten über die Zeit, als hier noch Trolle ihr Unwesen trieben. Und die Trolle hörten das alles, jedes Wort. Wie gerne hätten sie die Leute angeschrien, sie sollten mit den doofen Geschichten aufhören. Doch sie waren nun aus Stein und konnten sich nicht wehren. Sie mussten die Schauermärchen über sich ergehen lassen.

Im Dorf ausserhalb des Schlosses lebte noch immer Familie Bocht mit ihren Kindern. Sie hatten sich ein grösseres Haus gebaut mit dem Geld, das sie auf dem Markt verdient hatten. Nun fehlte es ihnen an nichts mehr. Die Kinder bekamen neue saubere Kleider und regelmässig Essen. Sie waren glücklich, auch wenn sie nicht in Saus und Braus lebten. Ihre Bescheidenheit war geblieben, auch wenn ihr Leben geordneter war.

Bei einem Ausflug entdeckten sie voller Schrecken, dass der Baum, der ihnen geholfen hatte, verschwunden war. Vermutlich war er gefällt worden. Das machte sie sehr traurig. Wie gerne hätten sie dem Baum geholfen und ihn davor bewahrt, umgebracht zu werden. Wie sehr hatten sie doch gehofft, dass er eines Tages wieder gesund würde. Nun war es zu spät.

Als sie traurig nach Hause kamen, fanden sie in ihrem Garten einen kleinen Apfelbaum vor. Auf den ersten Blick sah er aus wie jeder Baum im Winter. Doch wenn sie ihn berührten trug er saftige rote Früchte, auch wenn es mitten im Winter war. Abele hatte ihnen aus der Ferne einen Gruss geschickt und ihnen übermittelt, dass es ihm gut ging. Er hatte ihnen seinen Erstgeborenen geschenkt, der die gleichen Fähigkeiten besass wie der Vater.

So lebte die Familie weiterhin sorgenfrei. Sie konnten auch im Winter knallrote saftige Früchte auf den Markt bringen. Die Dorfbewohner wunderten sich zwar darüber, konnten aber das Geheimnis nie lüften. Was die Feen angekündigt hatten, wurde wahr. Wer Gutes tut, wird belohnt, wer schlecht ist wird eines Tages bestraft. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.
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