Tinas Pflegestelle - Luskas Bücher

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Tinas Pflegestelle

Buch 6
Früh am Morgen weckte er die anderen und erklärte ihnen, dass sie sich sofort auf den Weg machen würden. Seine Unruhe war gewachsen, doch wollte er die anderen damit nicht belasten. Sie zogen weiter, heimwärts.

Mit jedem Tag kamen sie Basel näher. Die grossen Felder wichen den neuen Wohnbauten. Dahinter standen unzählige Einfamilienhäuser mit liebevoll angelegten Vorgärten. Sie wurden in kleinen Blöcken errichtet und standen in Reih und Glied dicht beieinander. Verbunden waren sie durch Fusswege. Als die Katzen die ersten Häuser erreichten, hörten sie bekannte Geräusche. Hier gab es viele Katzen, die nachts unterwegs waren. Sie sahen ein paar von ihnen, die zwischen den Gärten hin und her pendelten. Im Mondschein sahen sie ihr glänzendes Fell. Manche verschwanden ins Hausinnere, indem sie sich durch eine kleine Türe zwängten.

Ganz am Schluss, beim letzten Haus, entdeckten sie einen Katzengarten. Er war wild und etwas ungepflegt, genau das Richtige für Fellnasen. Auf dem Sitzplatz hinter dem Haus standen Kratzbäume, auf denen Liegeplätze und Kuschelhöhlen angebracht waren. Eingehagt war der Garten durch eine Hecke. Sie hockten sich darunter und schauten dem Treiben zu. Sie sahen einen ganz kleinen, weissen Kater, der eben durch die Katzentüre kam. Sein Fell war vollkommen weiss wurde nur durch ein paar wenige, schwarze Tupfen unterbrochen. Er hatte extrem grosse Augen, die ihm ein noch kindlicheres Aussehen gaben. Auf seiner Stirn thronte ein kleiner, schwarzer Halbmond. Ihm folgte ein ebenso kleines Katzenmädchen. "Hutscha, Hutscha", das Kätzchen schien Schnupfen zu haben. Doch das schien das Duo überhaupt nicht zu stören. Sie spielten miteinander, machten eine kleine Hetzjagd über den Hügel, der den Privatgarten zum Gehweg abgrenzte. Dann versteckten sie sich unter den kleinen Bäumen und rannten von einem Gebüsch zum nächsten. "Hutscha, Hutscha", auch der weisse Kater schnupfte in die dunkle Nacht. Er putzte sich mit der Vorderpfote den Rotz von der Nase und rannte der kleinen Katze nach.

Sie schauten den beiden Jungtieren zu, wie sie sich müde spielten. Welch Energie und welch Lebensfreude war in diesen Katzenkindern zu sehen. Sie sassen bestimmt schon eine halbe Stunde unbewegt unter der Hecke und betrachteten das Duo, das unermüdlich schien. Dann verschwand das Mädel im Innern des Hauses. Der kleine Weisse setzte sich hin und schaute zum Mond hinauf, der heute besonders hell zur Erde schien. Es war wolkenlos und etwas kühler als normal. Seine Neugier war noch nicht gestillt. Er musste alles sehen und entdecken, was es auf dieser schönen Erde gab. Er drehte langsam den Kopf nach links. Hatte sich da nicht etwas bewegt? Auf leisen Sohlen schritt er auf die Gruppe zu. Er hatte sie entdeckt und ging langsam auf sie zu. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt blieb er sitzen. Mit seinen schwarzen Kulleraugen betrachtete er ein Tier nach dem anderen. Er wohnte doch schon seit ein paar Wochen hier, doch diese Katzen hatte er noch nie gesehen. Es war totenstill in dieser Nacht. Nur das Niesen des Katzenbabies war von Zeit zu Zeit zu hören. Sie blieben unbewegt unter der Hecke sitzen und waren auf alles gefasst. Wer fremden Boden betritt, muss mit allem rechnen. Wie würden die Katzen, die hier wohnten, wohl auf ihr Erscheinen reagieren?

Doch der kleine Kerl war absolut freundlich. Nachdem er alle begutachtet hatte, ging er auf sie zu. Er streckte seine klitschnasse Nase zum Gruss hin und drückte sein Köpfchen in ihr Fell. Kaum zu glauben, dass sich ein fremder Kater derart gastfreundlich verhielt. Er war ja noch ein Kümmerling, ein Miniatur-Kater. Jetzt, wo er so nahe bei ihnen war, hatten sie sofort erkannt, dass er noch ein Baby war. Er wollte sofort mit ihnen spielen, hielt seine Pfote hoch und strich ihnen damit über den Rücken. Dann gab er ihnen einen kleinen, freundlichen Hieb. Wieso passierte nichts? "Hey, Leute, kommt schon. Ich will mit euch spielen". Doch die Katzen waren von der langen Reise zu erschöpft, als dass sie sich auf ein wildes, nächtliches Spiel einlassen wollten. Sie verspürten zudem einen Riesenhunger.

Nach dem fünften Versuch gab Tüpfli auf. Schade, er hätte so gerne noch eine Runde verstecken gespielt. Er schlenderte zurück zum Sitzplatz und hockte sich erneut hin. Dann hörten die Katzen ein wohliges Schmatzen. Jetzt wurden sie hellwach. Ihre Müdigkeit war verschwunden. Sie stellten ihre Schnauzhaare in Richtung Schmatzgeräusche. Trotz Dunkelheit konnten sie genau erkennen, wohin sich der kleine Kater verzogen hatte.

Sie krochen unter der Hecke hervor und gingen den Geräuschen nach. Da sass er, vor einem grossen, prallgefüllten Teller, und liess sich das leckere Mahl schmecken. Die fünf hockten sich neben ihn, steckten ihre Mäuler in den Teller und genossen das frische Fleisch. Sie frassen gierig und der Teller war im Nu leer. Mit der Zunge leckten sie noch die letzten Krümel weg. Nur zwei Pfoten entfernt stand eine Schüssel Wasser. Hier konnten sie auch noch ihren Durst stillen. Wo waren sie denn gelandet? Wieso standen hier so viele Leckereien?

Tüpfli verschwand durch die Katzentüre und schaute von drinnen zu ihnen hinaus. Was dieser kleine Kerl kann, können wir auch. Sie drückten sich, eine nach der anderen, durch die Oeffnung und standen mitten in einem Wohnzimmer. Was sie hier sahen, übertraf all ihre Erwartungen. Das Zimmer war vollkommen auf Katzen ausgerichtet. Ueberall standen Kratzbäume mit Hängematten oder Kuschelhöhlen. Im Flur zur Küche roch es wunderbar. Hier war die Futterstelle. Ein Töpfchen stand neben dem anderen. Alle waren bis an den Rand gefüllt. Galt diese Einladung wohl ihnen? Sie hockten sich hin und frassen einen Napf nach dem anderen leer. Ihr Schlabbern war nicht zu überhören, denn als sie sich ihr Maul sauber geleckt hatten und umsahen, standen etliche Vierbeiner um sie herum. Sie schauten den Fremden beim Nachtmahl zu und begrüssten sie freundlich. "Neu hier?" Als die fünf erkannt hatten, dass hier noch andere Katzen wohnten, fühlten sie sich unbehaglich. Sie wussten genau, dass sie sich hier räuberisch verhalten hatten und hatten Angst, man würde sie deswegen angreifen. Doch erstaunlicherweise passierte überhaupt nichts. Das "Neu hier?" war das Einzige, was sie von den anderen Katzen hörten. Es kam kein Knurren und kein Fauchen über deren Lippen. Fremde waren hier anscheinend normal.

Für die Fünf war das schon sehr eigenartig. Sie hatten auf ihrer langen Reise viele Begegnungen mit anderen Katzen gehabt. Nicht alle waren friedlich vonstatten gegangen. Oft mussten sie ihr Häppchen Futter erkämpfen. Aramis wurde auch einmal bei einem Kampf gebissen und zerkratzt. Dann war er tagelang krank gewesen. Die Wunde hatte sich entzündet und sie mussten ein paar Tage vor Ort ausharren. Erst, als Aramis' Fieberschübe abgeklungen waren, konnten sie ihre Reise fortsetzen.

Manchmal waren die Katzen auch freundlicher gewesen. Sie liessen sie ohne Fauchen und Knurren passieren. Doch meistens hatten sie ihr eigenes Futter verteidigt. Zwar durften sie manchmal etwas Wasser trinken, doch das Fleisch verteidigten die Hauskatzen fast immer. In diesem Bereich waren sie geizig.

Und hier, kaum vorstellbar, kümmerte sich keiner darum, ob Fremde ein und aus gingen und ihre hungrigen Mäuler in ihre Futternäpfe streckten. Sie gingen durch die ganze Wohnung, schauten sich ein Zimmer nach dem anderen an. In jedem Zimmer stand ein Kratzbaum. Liegekörbe und Decken luden sie zum Schlafen ein. Jetzt, wo sie wieder einmal satt waren, spürten sie eine unglaubliche Müdigkeit. Sie legten sich dicht aneinander, so wie sie es immer machten, und schliefen ein.

Sie hörten Tina nicht, die eine Stunde später nach Hause kam. Ihre Müdigkeit war zu gross. Und Tina ging auch nicht in das Zimmer, in dem sie sich zur Ruhe gelegt hatten. Stattdessen ging sie in die Küche und betrachtete die leeren Futterschalen. "Whow, heute habt ihr aber wieder Heisshunger gehabt". Sie öffnete den Schrank und nahm neue Futterdosen heraus. Die Katzen standen dicht bei ihr und beobachteten jede ihrer Bewegungen. Das Klicken des Dosenverschlusses war das klare Zeichen dafür, dass es schon bald wieder was zu futtern gab. Sie strichen ihr um die Beine, sodass sie sich kaum mehr frei bewegen konnten. Und darin waren sie unübertreffbar. Schon oft waren sie von ihr getreten worden, denn sie konnte nicht gleichzeitig Futternäpfe füllen und dazu noch auf den Boden schauen. Doch das störte sie nicht. Sie fanden es lustig, wenn Tina sich kaum mehr bewegen konnte.

Sie füllte die Näpfe auf der Anrichte. Kaum hatte sie diese auf den Boden gestellt, hörte sie schon das Schmatzen der nimmersatten Tiere. Heute war es spät geworden. Sie war selber sehr müde. Trotzdem hockte sie sich noch vor den Fernseher, um die Nachrichten zu schauen. Von der Küche her drangen Schmatzgeräusche zu ihr.

Eine Stunde später lag sie bereits im Bett. Sie schlief sofort ein und spürte die kleinen, schlanken Körper nicht mehr, die sich auf der Bettdecke an sie schmiegten. Die Katzen liebten ihre Tina über alles und wichen ihr nicht von der Seite. Auch nachts wollten sie ihr ganz nahe sein und ihren Geruch einatmen.

Besonders Tüpfli hatte seiner Tina viel zu verdanken. Ohne Tina würde er nicht mehr leben.

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