Flucht - Luskas Bücher

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Flucht

Buch 3
Als kleines Kätzchen kam Simba zu Familie Messmer. Zusammen mit den Eltern und zwei Kindern bewohnte er eine geräumige Vierzimmerwohnung im zweiten Stock eines Hochhauses. Dort gab es einen grossen Balkon, auf den im Sommer die Sonne schien. Damit er nicht runterfallen konnte, hatte Herr Messmer ein Katzennetz gespannt. Simba verbrachte viele sonnige Tage und auch manch laue Sommernacht auf diesem Balkon. Von hier aus konnte er alles sehen. Er beobachtete jedes Auto, das auf der nahegelegenen Strasse vorbeifuhr. Am Morgen schaute er den Kindern nach, die sich auf den Schulweg machten. Manchmal entdeckte er auch eine Maus, die in Nachbars Garten vor der schwarzen Katze wegrannte. Es war sein Lieblingsplatz, denn hier hatte er den Ueberblick über das ganze Geschehen.

Er hatte ein schönes Katzenleben, denn die Kinder liebten ihn. Bei seinem Einzug lernte er Sereina kennen. Sie war eine wunderschöne Tigerkatze. Stundenlang lagen sie beieinander. So war er nie allein. Sie ersetzte seine Mama, die er verlassen musste. Sereina mochte den kleinen Kerl sehr. Zusammen verbrachten sie viele Nächte auf dem Balkon. Sie schauten zum Mond hinauf, der von Tausenden von Sternen umgeben war. Wenn sie ihn mit ihrer rauen Zunge bürstete, schnurrte er selig vor sich hin.

Nach wenigen Monaten änderte sich die Situation, denn aus Simba dem Katzenbaby war ein grosser, stämmiger Kater geworden. Sein Fell war dicht und lang. Es war nicht mehr zu übersehen, dass Simbas Vater eine norwegische Waldkatze war. Er war schon fast doppelt so gross wie Sereina. Seine Beziehung zu Sereina änderte sich allmählich. Er sah in ihr nicht mehr die Katzenmutter, sondern eine Partnerin. Ihn überkamen Gefühle, die er vorher noch nicht gekannt hatte. Auch Sereina hatte sich verändert. Sie miaute ununterbrochen und zeigte ihm, dass sie für ein Liebesabenteuer bereit war.

Die Natur nahm ihren Lauf und aus den beiden wurde eine Familie. Sereina brachte an einem schönen Maitag vier kleine Katzenbabies auf die Welt. Alle waren zauberhaft und Simba war stolz wie ein Pfau. Die kleinen waren so winzig und dennoch wunderschön. Er küsste seine Sereina auf die Nase und dankte ihr, dass sie ihm so schöne Kinder geschenkt hatte. Sie war ebenso stolz und zeigte ihren Menschen die Neuankömmlinge. Viele Wochen lebten sie als kleine Katzenfamilie. Sereina und Simba versuchten den Kleinen all das zu vermitteln, was eine Katze für die Zukunft brauchte. Eines Tages kamen Leute und suchten sich ein Katzenbaby aus. Sereina und Simba wussten, dass sie sich nun von ihren Kätzchen trennen mussten. Es war Zeit, dass diese nun ein eigenständiges Leben führen sollten, in einer Familie, wo man sich um sie kümmerte und sie gern hatte. Sie nahmen schweren Herzens Abschied von ihren Babies und wünschten ihnen viel Glück im neuen Heim.

Nun war es wieder ruhig geworden im Hause Messmer. Alles ging den gewohnten Gang. Mindestens für Aussenstehende schien das so. Das Schicksal nahm aber seinen Lauf, als Herr Messmer eines Tages nach Hause kam und seiner Frau beichten musste, dass man ihn im Geschäft rausgeschmissen hatte, weil er trotz Verbot, während der Arbeitszeit Alkohol getrunken hatte. Frau Messmer war sehr traurig, denn sie wusste, dass es nicht einfach war, eine neue Anstellung zu bekommen. Besonders jetzt, wo ihrem Mann wegen eines Fehlverhaltens gekündigt worden war, bestand wenig Hoffnung auf eine neue Stelle. Dennoch waren sie beide voller Hoffnung, dass sich bald ein anderes Türchen öffnen würde und Herr Messmer wieder Arbeit fände.

Die Monate gingen vorbei und noch immer war er arbeitslos. Er wusste nichts mit seiner Zeit anzufangen, wurde mürrisch und ungerecht. Das Bier war sein ständiger Begleiter geworden. Er trank Unmengen davon. Meistens torkelte er betrunken durch die Wohnung. Seine Frau versuchte ihm mit allen Mitteln Mut für die Zukunft zu machen und ihm in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Je länger die Arbeitslosigkeit dauerte, desto schlimmer versank Herr Messmer im Alkohol. Er hatte keine Perspektive mehr, kein Ziel vor Augen. Aus einem netten Mann war ein gebrochener und böser Mensch geworden. Er war dem Alkohol verfallen. Manchmal erhob er die Hand gegen seine Frau, wenn diese versuchte, ihm das Bier wegzunehmen. Sie hatten oft lautstarken Streit, und die Kinder sassen verängstigt in ihrem Zimmer. Alle hörten das Gebrüll von Herrn Messmer. Nach einem Streit knallte er jeweils die Haustüre zu, um sich in der nächsten Bar volllaufen zu lassen. Frau Messmer vergoss viele Tränen. Sie wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Ihre beiden Kinder litten sehr unter den ständigen Streitereien. Sie hatten bereits grosse Angst vor ihrem Vater. Wo würde das hinführen?

Als Herr Messmer eines Tages mit einer Bierflasche auf seine Frau losging, war das Mass voll. Frau Messmer schnappte sich ihre beiden Kinder und verliess fluchtartig das Haus. Simba und Sereina sahen sie nur noch ein einziges Mal, als sie ein paar Tage später zusammen mit der Polizei ihre Sachen abholte.

Der Ehemann blieb mit den beiden Katzen zurück. Nun begann für das Katzenpaar eine elende Zeit. Herr Messmer trank weiter, gab sein letztes Geld für Bier aus. Manchmal brachte er etwas Futter nach Hause, doch meistens mussten sie die Resten seiner grässlichen Mahlzeit fressen. Er kümmerte sich überhaupt nicht um die Tiere. Das Katzenklo war voller Kot und Urin und stank entsetzlich. Der Teller, auf dem er ihnen das Futter hinstellte, wurde nie gewaschen. Man sah darauf noch immer die Futterreste der vergangenen Tage. Herr Messmer lag meistens auf dem Sofa und schaute fern. Neben ihm stand immer eine Flasche Bier, die er alle fünf Minuten zum Mund führte. Er ging selten weg, lebte zwischen Schlaf und Volltrunkenheit. Herr Messmer war ein Wrack.

Aus dem freundlichen Herrn Messmer war mittlerweile ein böser Mensch geworden. Er liess seinen Unmut an seiner Umwelt aus. Alles brachte ihn zur Rage, auch kleine Dinge, die ihn früher nicht gestört hatten. Wenn sich Simba ihm näherte und um Futter bettelte, kassierte dieser Fusstritte. "Geh weg, du Dreckvieh" schrie er und warf mit den leeren Bierflaschen nach ihm. Simba hasste seine Füsse. Mit seinen Schuhen trat er regelmässig nach ihm. Simbas Rippen waren gequetscht, er war von Blutergüssen übersäht. Ueberall lag Schmutz. Herr Messmer räumte nie auf und verpflegte sich ausschliesslich von Dosennahrung und Fertiggerichten. In der ganzen Wohnung lagen leere Pappkartons mit Pizzaresten herum, ebenso leere Dosen. Es roch allmählich sehr unangenehm. Simba und Sereina waren hilflos. Sie wollten hier weg, doch es gab keine Möglichkeit. Die Türe war zu und der Balkon mit einem Netz gesichert. Sie waren in der Falle und Herrn Messmers Hieben ausgeliefert. Je mehr sie sich wehrten, desto kräftiger schlug er zu. Sie lagen stundenlang unter dem Bett und bewegten sich nicht. Ihre Angst war unermesslich.

Eines Tages verletzte sich Sereina sehr. Sie trat mit ihrer Pfote in eine der zahlreichen Scherben, die überall in der Wohnung verstreut waren. Simba versuchte seiner Partnerin zu helfen. Sie leckten die Wunde so gut es ging, doch die Verletzung war zu tief. Sereina wurde sehr krank. Sie bekam hohes Fieber und eine dickgeschwollene Pfote. Es war eine aussichtslose Situation. Herr Messmer interessierte sich nicht für das kranke Tier. Es war ihm egal, ob dieses leben oder sterben würde. Ihn ärgerten lediglich das Miauen und das ständige Markieren des Katers. Er hasste die beiden, hätte sie am liebsten vom Balkon gestossen. Simba wusste nicht, was er tun sollte. Er sah Sereina da liegen, halb tot, von Fieberschüben geschüttelt. Sie hatte eine Blutvergiftung und rang mit dem Tod. Er legte sich zu ihr, leckte ihr mit seiner rauen Zunge über die heissen Ohren. Er schaute zum Mond und zu den Sternen und erzählte ihr von den schönen alten Zeiten. Sie malten sich aus, wie schön es ihre Kinder hätten. Sie trösteten sich mit den Gedanken an ihre vier Babies. Zusammen träumten sie noch ein letztes Mal von der Vergangenheit und ihren Kindern, die hoffentlich ein besseres Leben hatten.

Es grenzte an ein Wunder, dass die Rettung in letzter Minute kam. Am nächsten Tag standen zwei Personen vor der Türe, die Herrn Messmer abholten. Nachbarn hatten die Polizei alarmiert, denn aus Herrn Messmers Wohnung drang übelster Geruch. Die beiden Polizisten schauten sich in der Wohnung um, die einer Müllhalde glich. Sie konnten nur noch den Kopf schütteln, waren entsetzt, was aus dem einst netten Mann geworden war.

Ganz hinten im dritten Zimmer unter dem Bett entdeckten sie die beiden Katzen. Simba lag neben Sereina und leckte ihre Pfote. Es war leicht zu erkennen, dass es Sereina nicht gut ging. Beide Katzen waren knochendürr und schmutzig. Sereinas Fell war matt und sehr struppig. Ihre rechte Pfote war doppelt so dick als gewöhnlich. Die Frau nahm ihr Handy zur Hand und rief den Tierschutz an. Es dauerte nicht lange und ein freundlicher Mann kam vorgefahren. Er trug zwei Transportkörbe. Sie packten die verletzte Sereina in den einen Korb. Dort lag sie nun auf einem weichen Kissen und schaute dankend zu Simba hinüber. Nun wusste er, dass man sich nun um seine Sereina kümmern und ihr Medikamente geben würde. Er streckte seine Pfote durch die Maschen des Korbes und berührte seine Sereina sanft ein letztes Mal. Es war sein Abschied, denn Simba dachte nicht daran, in einen Transportkorb zu klettern. Nie mehr wollte er bei Menschen sein, er wollte nur noch weg. Er hatte zuviel erlebt in Gefangenschaft, nun wollte er die Freiheit kennenlernen.

Noch immer stand die Haustür offen. Die Männer waren bereits damit beschäftigt, den Müll einzusammeln und wegzubringen. Simba sah den Ausgang, ergriff in Windeseile die Flucht. Er rannte blitzschnell die vielen Treppen hinunter und raus auf die Strasse.
Als er zurückblickte, sah er noch, wie man Sereina im Transportkorb in ein Auto hob. Sie schnurrte leise, ein Schnurren zwischen Schmerz und Erleichterung. Die Männer suchten den entlaufenden Kater, schauten nach links und rechts. Sie riefen seinen Namen, wollten ihn auch mitnehmen. Doch Simba reagierte nicht. Er sass in einem Gebüsch und schaute dem Treiben auf Distanz zu. Er blieb unbewegt und unentdeckt. Sie hatten Sereina bereits weggebracht, denn sie brauchte sofort Medikamente. Ein Tierarzt würde sich um sie kümmern, hatten sie gesagt. Noch immer riefen sie nach dem Kater, doch nach einer Stunde gaben sie schlussendlich auf.

Simba lag noch immer mucksmäuschenstill unter dem Gebüsch und wartete, bis alles vorbei war. Er sah die beiden Autos, wie sie wegfuhren. Jetzt war der Spuk vorbei, er war frei. Es war unheimlich hier, viele neue Geräusche und Gefahren. Die Autos fuhren dicht an diesem Gebüsch vorbei, unter dem er Unterschlupf gesucht hatte. Leichtes Unbehagen stieg in ihm hoch. Hatte er einen Fehler gemacht? War er der Freiheit überhaupt gewachsen? Die Hektik und die vielen neuen Geräusche bereiteten ihm Angst. Doch die Erlebnisse der letzten Wochen hatten ihn auch unsagbar müde gemacht. Er schlief bald ein.

Mitten in der Nacht erwachte er. Die unheimlichen Geräusche waren verstummt. Es war totenstill. Er sah niemanden. Nun konnte er aus seinem Versteck hervorkriechen. Er stand neben der Strasse, die er vom Balkon aus oft beobachtet hatte. Sein Blick wanderte dem Gehsteig entlang. Weiter unten entdeckte einen kleinen Park. Dort wollte er hin. Er rannte so schnell er konnte. Unterwegs begegneten ihm ein paar Katzen, die nachts auf der Jagd waren. Er grüsste sie kurz und rannte in den Park hinein. Schön war es hier, überall blühten Blumen, es duftete herzhaft nach Gras und Blüten. In einem kleinen Teich tummelten sich Fische. Hier konnte er seinen Durst stillen. Simba verbrachte die ganze Nacht im Park. Es gab so viel zu entdecken, so viel neue Gerüche aufzunehmen. Nur ab und zu kam ein Liebespaar vorbei, das sich auf der Bank niederliess.

Da verspürte er plötzlich Hunger. Er erinnerte sich, dass er schon seit vielen Stunden keinen Happen mehr gefressen hatte. In einem der zahlreichen Mülleimer entdeckte er ein halbes Butterbrot, das er gierig verschlang. Bis zum Morgengrauen war er auf der anderen Seite des Parkes angelangt. Alles hatte er beschnuppert, die ganzen Eindrücke so richtig in sich aufgesogen. So also duftete die neugewonnene Freiheit.

Simba schlenderte weiter. Nun musste er sich ein Schlaflager suchen, denn er spürte, dass es in der Stadt unruhig wurde. Der Morgen war gekommen und die Stadt mit ihrer Hektik wachte allmählich auf. Autos und zahlreiche Passanten besiedelten die eben noch ruhigen Strassen. Die Sonne schaute schon hinter den Hügeln hervor, und die ersten Kinder waren unterwegs zur Schule. Er schlenderte weiter, war aber sehr bedacht, unentdeckt zu bleiben. Noch immer sass ihm die Angst im Nacken, dass man ihn entdecken und nach Hause zurückbringen würde. Nein, dahin wollte er nicht mehr. Er war auf dem Weg in die langersehnte Freiheit, auf dem Weg ins Glück.

Kurze Zeit später war er endgültig am Ende des Parkes angelangt. Ein kleiner Weg trennte ihn noch vom Rheinufer und dessen Grünzone. Simba nahm einen Sprung und schon war er mitten im Dickicht. Tannennadeln und heruntergefallene Blätter überdeckten den Boden. Es roch nach Bärlauch, ein absolut neuer Geruch. Er entdeckte eine kleine Höhle in einem uralten, umgekippten Baumstamm. Dort legte er sich hinein und schlief den ganzen Tag. Er hörte die Vögel nicht, die über ihm zwitscherten. Auch spürte er die wärmende Sonne nicht, die ins Dickicht des Rheinufers schien. Er war weit weg mit seinen Gedanken, in einem tiefen erholsamen Schlaf.

Der Hunger weckte ihn viele Stunden später. Es war schon wieder dunkel. Nun musste er endlich was Festes zwischen die Zähne bekommen. Das Brötchen, das er im Park gefressen hatte, war nicht genug. Er spazierte weiter, dem Flussufer entlang. Nach einem langen Fussmarsch gelangte er zu einem Zaun. Dahinter entdeckte er einen kleinen Schuppen inmitten eines kleinen Schrebergartens. Hier würde er sich niederlassen. Er kroch unter dem Zaun durch und befand sich in einem kleinen aber liebevoll angelegten Garten. Ueberall gab es kleine Beete, in denen Salat und Gemüse wuchs. Ganz hinten stand ein Rondell, in dem der Gärtner seinen Kompost entsorgte. Hier roch es nach Maus. Er setzte sich dicht zum Gitter und wartete bis die erste Feldmaus hervorschaute. Nun wachten die natürlichen Instinkte in ihm auf. Bis jetzt musste er sich nie selber um sein Futter kümmern, nun war es aber an der Zeit, dass er seinen angeborenen Jagdtrieb einsetzen würde. Die ersten Versuche misslangen und die Maus verschwand sofort wieder im Kompostgitter. Simba hatte viel Zeit und enormen Hunger. Er wartete geduldig, eine Stunde lang. Dann schnappte er zu. In seinem Maul zappelte eine kleine quietschende Maus. Endlich ein Leckerbissen. Simba war glücklich.

Er verbrachte viele Monate hier, hatte sich im Geräteschuppen ein Lager eingerichtet. Niemand hatte ihn entdeckt. Ab und zu kam der Gärtner, um nach dem rechten zu sehen, doch kümmerte sich dieser nicht um die schlafende Katze, die auf der Gartenbank lag. Sie war sogar willkommen, denn sie hielt ihm die Mäuse von den Pflanzen fern.

Am Abend rannte Simba regelmässig über die stark befahrene Schnellstrasse, denn auf der gegenüberliegenden Seite lag ein landwirtschaftliches Versuchsfeld. Hier wurden neue Getreidesorten angepflanzt. Grosse Plakatwände waren errichtet, auf welchen die Bevölkerung über den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse informiert wurde. Im Herbst blühten hier abertausende von Sonnenblumen. Allmählich hatte Simba die Kunst des Jagens erlernt. In den grossen Feldern gab es so viele Mäuse, dass er seinen Hunger problemlos stillen konnte. Wenn er Durst hatte, ging er zum Rheinufer hinunter und stellte sich auf die grosse Steinplatte. Mit etwas Geschick konnte er mit seiner Rosazunge das leckere Rheinwasser aufnehmen. Niemand war zu sehen, denn keiner kam in diese Wildnis. Manchmal entdeckte er kleine Boote, die auf dem Rhein auf und ab fuhren. Ansonsten war er ganz alleine. Dennoch fühlte er sich gut. Er hatte die Freiheit gesucht, hier hatte er sie gefunden.

Oftmals wurde er aus dem Schlaf gerissen. Er träumte von seinen Qualen, die er bei Herrn Messmer erleiden musste. Immer wieder spürte er die Hiebe und Fusstritte. Welch böser Mensch war sein Herrchen geworden. Auch dachte er an seine Sereina. Es hätte ihn schon interessiert, was aus ihr geworden war. Hatte sie überlebt? War sie wieder gesund? Wo lebte sie nun? Vielleicht würde er es eines Tages erfahren.

Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen des Gartenhauses und kitzelten ihn im Gesicht. Langsam wurde er wach. Er streckte sich der Länge nach aus und gähnte. Bestimmt war der halbe Vormittag schon vorbei. Er hörte durch den Bretterverschlag die Autos, die auf der Schnellstrasse vorbeisausten. Hektik lag in der Luft. Durch eine herausgefallene Astgabel entstand im Bretterverschlag eine kleine Luke. Hier konnte er durchschauen, ohne entdeckt zu werden. Er sah ins gegenüberliegende Feld, das mehr oder weniger brach lag. Nur selten kam jemand vorbei. Die meiste Zeit lag das Gebiet brach und war menschenleer.

Hier wohnte er nun schon seit Monaten, weit weg von den Menschen und seinesgleichen. Er hatte diesen Unterschlupf entdeckt und ihn zu seinem Zuhause erklärt. Bis anhin hatte er sich nie allein gefühlt. Er genoss seine Freiheit und die Möglichkeit, nur das zu tun, was ihm gefiel. Diese Freiheit hatte aber auch seinen Preis. Es gab hier keine gefüllten Futternäpfe und auch keine Hände, die ihn streichelten. Er war auf sich selber gestellt, musste sich seine Nahrung selber fangen. Für einen Kater wie ihn, dem bis anhin das Futter vorgelegt worden war, hiess dies jagen und erlegen. Es gab Tage, da blieb sein Bauch leer. Keine Maus zeigte sich, nicht einmal ein Vogel verirrte sich in diese gottverlassene Gegend. Es war eine harte Zeit für diesen wundeschönen Kater. Dennoch wollte er seine Freiheit nicht mehr gegen die Gefangenschaft eintauschen. Viel eher würde er hungern und von Insekten und Eidechsen leben. Niemals wollte er mehr dem Menschen ausgeliefert sein. Der Mensch war sein Feind geworden.

Am späten Nachmittag hörte er ein Rascheln, und eine bekannte Stimme trällerte ein Lied. Schnell war er wach. Er versteckte sich unter der Bank in einer Werkzeugkiste. Er sass unbewegt, als die Türe geöffnet wurde. Im Lichtstrahl sah er den alten Mann, der einen Sack voller zerlegter Holzstücke hinter sich herzog. Simba wusste, was dies zu bedeuten hatte: der Herbst war eingezogen und Herr Flora würde seinen Garten umgraben und für den Winter vorbereiten. Nun war es aus mit der Ruhe, denn der alte Mann würde jeden Tag kommen und mit der Hacke im Boden wühlen. Manchmal brachte er auch seine Kinder mit. Er hatte sie schon im Frühling gesehen, als er neu hier war. Dann entfachten sie ein Feuer und brieten ihre Bratwürste.

Er wusste nicht, dass Herr Flora von ihm wusste. Seit Monaten hatte er ausser dem alten Mann niemanden mehr gesehen. Bald würde der erste Schnee fallen und Herr Flora bliebe aus. Im Winter gab es auch fast keine Beute, denn die Mäuse verkrochen sich in die tiefen Höhlen unter der Erde. Ausser seinen Spuren im Schnee gab es keinen Hinweis darauf, dass hier jemand wohnte. Es war monatelang still hier. Je stärker der Winter ins Land zog, desto ungemütlicher wurde es in Simbas Versteck. Der kalte Wind blies durch die Ritzen des Gartenhauses. Auf der Jagd holte sich Simba nasse, kalte Füsse, was er gar nicht ausstehen konnte. Eines Tages musste er sich schweren Herzens dazu entschliessen, sein Versteck zu verlassen und sich auf den Weg nach einem wärmeren Ort zu machen. An einem schönen Morgen brach er auf. Etwas wehmütig schaute er noch ein letztes Mal in Herrn Floras Garten zurück. Hier hatte er ein paar wunderschöne Monate verbracht und vieles gelernt, was er zum Leben brauchte. Er würde diesen Ort nie vergessen. Gern ging er nicht weg, doch die sinkenden Temperaturen zwangen ihn dazu.

Er stapfte durch den tiefen Schnee, der sogar bis unter die Bäume gefallen war. Wie er das hasste, kalte und nasse Füsse zu bekommen. Er schüttelte sich regelmässig den Schnee von den Beinen, doch beim nächsten Schritt hatte er bereits wieder Schneeschuhe an. Es war einfach widerlich, nass und kalt. Es knirschte bei jedem Schritt. Leise rieselte der Neuschnee vom Himmel. Auch das noch! Jetzt wurde er auch noch auf dem Rücken nass, schrecklich. Sein Weg führte ihn rheinaufwärts. Hier war das Rheinufer noch immer unbebaut und verwildert. Es gab zahlreiche Bäume und Gebüsche, doch kein Haus war in Sicht. Er musste aufpassen, dass er nicht ausrutschte und versehentlich in den Fluss fiel. Während er sich mühsam durch den tiefen Schnee vorwärts kämpfte, suchte er mit den Augen das Ufer und die Gegend auf der gegenüberliegenden Strassenseite ab. Er irrte lange umher, suchte einen warmen und sicheren Platz, wo er überwintern konnte. Wo sollte er nur hin? Wo gab es einen wärmeren Unterschlupf ohne dass er dem Menschen begegnen musste? Noch immer sah er keinen Stall, keinen Schuppen und keine Höhle. Er hatte keine Wahl. Wenn er dem Menschen ausweichen wollte, musste er in der Grünzone zwischen der Schnellstrasse und dem Rheinufer bleiben. Allmählich kam er zu den ersten Häusern. Schnee, überall Schnee! An den Fenstern hingen Eiszapfen. Aus dem Schornstein stieg eine Rauchsäule in den Himmel. Da drin war es warm. Er überlegte genau. Würde er sich ins Haus schleichen, wäre er in der Wärme, doch dafür sehr nahe beim Menschen. Was sollte er nur tun? Die Versuchung war gross. Er war hin und her gerissen. Die Angst siegte und Simba stapfte weiter. Hinter den letzten Gärten erstreckte sich ein kleiner Hafen mit wenigen Booten. Die meisten befanden sich vermutlich im Winterschlaf in der Werft. Er begegnete niemandem, denn die Kälte liess die Leute daheim bleiben. Er stellte sich vor, wie er sich auf der warmen Ofenbank ausstreckte. Doch die Kälte weckte ihn abrupt aus seinen Tagesträumen. Es war klirrend kalt und Simba suchte noch immer nach einem geeigneten Unterschlupf, in dem er sich verstecken konnte.

Plötzlich stand er in einem Flussdelta. Hier mündete ein kleines Bächlein in den Rhein ein und Simba sah vor und neben sich nur noch Wasser. Sein Weg schien zu Ende. Er hätte schwimmen müssen, um weiterzukommen. Welch furchterregender Gedanke! Durch den Schnee zu laufen war schon schlimm genug. Die Krallen in das kalte Nass zu stecken, liess seine Nackenhaare aufstehen. Kurzerhand entschloss er sich, dem Bachlauf zu folgen. Er sprang mutig über Steine und umgeworfene Bäume und kroch unter der Strasse hindurch in den muffigen Tunnel, in dem der Bach dem Rhein entgegenplätscherte. Es war unheimlich hier und noch immer beissend kalt. Der Wind fegte durch den Tunnel. Er hörte quietschende Stimmen und leise Füsse. Hier wohnten vermutlich Ratten.

Er war schon drauf und dran, seine Reise abzubrechen und zum Garten zurückzulaufen. Da entdeckte er die kleine Fussgängerbrücke, die über das kleine Flüsschen führte. Kein Mensch war zu sehen, und dies war die Chance Simbas Chance hinüberzuhuschen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und rannte über die Brücke auf die andere Uferseite. Dort legte er sich sofort wieder unter einen Busch und wartete ab, ob ihn jemand entdeckt hatte. Kein Laut war zu hören, nichts bewegte sich. Nur die Schneeflocken tanzten herab.

Simba lief weiter, rannte den Hügel hoch. Nun befand er sich mitten im Wohnquartier. Es roch nach Mensch und seine Ohren stellten sich ganz fest auf. Jetzt war Vorsicht geboten. Seine Ohren bewegten sich hin und her, seine Gangart war noch behutsamer geworden. Er kroch fast. In einem Hauseingang hörte er einen Hund bellen. Er ging weiter und stand plötzlich mitten in einer Manege. Hier waren ein römisches Amphitheater, ein Museum und viele historische Ausgrabungen. Die Menschen nannten diese stillgelegte Stadt "Augusta Raurica". Hier hatten vor vielen Jahren Römer gelebt. Es gab etliche historische Ausgrabungsstätten. Im Sommer strömten ganze Touristenscharen hierher, und im Theater wurden Konzerte und Schauspiele abgehalten. Neben dem Museum lag in einem Keller die ehemalige Bäckerei. Der Ofen wurde regelmässig geheizt, denn die Kinder der Region kamen hierher, um die Kunst des römischen Brotbackens zu erlernen.

So war es auch heute gewesen, und die Wärme des abkühlenden Ofens lockte Simba an. Noch waren die Ofenwände warm und der Duft von frischgebackenem Brot drang in seine Nase.

Die Bäckerei war nachts nur mit einem Gitter verschlossen, damit die Touristen auch ausserhalb der Oeffnungszeiten hineinschauen konnten. Durch die Gittermaschen konnte Simba hindurchschlüpfen. Er rollte sich zusammen und legte sich in den Keller, dicht an die warme Ofenwand. Auf dem Boden fand er noch wenige Brotkrümel, die er aufleckte. Draussen fing ein starkes Schneetreiben an und Simba war froh, einen warmen Unterschlupf gefunden zu haben. Er wusste, dass er nicht lange hier bleiben konnte, denn schon am folgenden Tag würde die nächste Schulklasse hierher kommen. Für eine Nacht war ihm dieser Unterschlupf aber tatsächlich willkommen. Er fiel in einen tiefen und erholsamen Schlaf.

Am nächsten Morgen ging seine Reise ging weiter. Er machte sich schon früh am Morgen auf, marschierte an den Ruinen vorbei. Hinter den letzten Häusern entdeckte er ein kleines Waldstück. Vielleicht gäbe es hier eine Höhle, in die er sich verkriechen konnte. Vom hochgelegenen Waldrand aus schaute er auf ein kleines Bächlein hinunter, das sich plätschernd durch das Naturschutzgebiet wand. Das Waldstück war nicht gross, aber der geeignete Ort, um sich zu verstecken. Auf seiner Bachseite gab es keinen Weg, also musste er nicht damit rechnen, Menschen zu begegnen. Zudem sah der Wald sehr wild aus, wurde also bestimmt nicht täglich von Touristenströmen besucht. Er suchte das Waldstück nach einem Unterschlupf ab. Simba ahnte nicht, dass es hier tatsächlich viele Höhlen gab, denn er befand sich hier auf römischem Gebiet. Die Einwohner hatten zahlreiche Gänge und ehemalige römische Häuser freigelegt und diese den Touristen zugänglich gemacht. So führte hier ein unterirdischer Weg in die ehemalige Töpferei. Wie auch in der Bäckerei, war das Tor abends mit einer Gittertür verschlossen. Doch nun stand die Sonne am Himmel und das Tor war offen. Zwar waren keine Touristen zu sehen, doch Simba brachte den Mut nicht auf, sich in die unterirdischen Gänge zu wagen.

Stattdessen fand er drei kleine Holzhütten, die unbewohnt schienen. Sie erinnerten ihn an sein Versteck im Schrebergarten von Herrn Flora. Er schlich um die erste Hütte, konnte aber keinen Eingang entdecken. Auch in der zweiten Hütte war ein Eindringen unmöglich. Alle Bretter waren vorhanden und eng ineinander geschoben. Erst im dritten Schuppen gab es einen Durchschlupf. Er musste sich sehr klein machen und unter dem schräg hängenden Brett durchzwängen. Dann stand er in einem kleinen Holzraum. Viel waren da nicht drin, lediglich eine Bank und ein Tisch. Der Schrank, dessen Türen offenstanden, war leer. Auch hier war es kühl, aber immerhin trocken und ruhig. Hier würde er vorübergehend logieren. Hoffentlich würden ihn seine Spuren im Schnee nicht verraten.

Simba blieb ungefähr einen Monat lang und hatte nicht die geringste Ahnung, dass diese Hütte vor einigen Monaten auch Wullis Unterschlupf gewesen war. Hier hatte die Katzendame nach ihrem Ausreissen gelebt. Tina hatte bei ihrer Suche Wulli hier zwar entdeckt, doch hatte sie keine Möglichkeit, die Ausreisserin einzufangen. Wulli war zu wild geworden und liess sich auch mit Rufen und Futter nicht mehr anlocken. Ab und zu kam Tina noch hierher, um nach Wulli zu suchen. Es war schon fast zur Gewohnheit geworden, aber Tina hatte nur noch wenig Hoffnung, die langhaarige Schönheit wiederzufinden. Die Winternächte waren auch für eine Langhaarkatze viel zu kalt.

Tagsüber schlief Simba in seiner Holzhütte, in der Nacht machte er sich auf Futtersuche. Dies war hier sehr schwierig, denn die Mäuse hatten sich ein tiefergelegenes Winterquartier im Boden gesucht. Er streunte durch den kleinen Wald und schaute unter jeden Busch. Es gab keine Fussspuren von Mäusen, nur seine eigenen zeichneten sich im Schnee ab.
Weiter unten gab es eine Stelle, wo man das kleine Bächlein überqueren konnte. Vielleicht hatte er auf der andern Seite des Bächleins mehr Glück? Mit einem grossen Satz sprang er auf die andere Bachseite. Hier gab es nicht mehr so viele Bäume, dafür eine kleine Tiefebene, auf der im Sommer vermutlich hohes Gras stand. Dem Bächlein entlang führte ein Wanderweg, den viele Leute als Hundespazierweg nutzten. Er nahm den gleichen Weg und entdeckte weiter vorne ein Bauernhaus. Je näher er kam, desto interessanter roch es hier. Erst konnte er den Duft nicht richtig einordnen, doch nun wusste er
worum es sich hier handelte. Eine grosse Schale mit Katzenfutter stand vor der Eingangstüre. Er stürzte sich darauf und frass so viel er konnte. Irgendwie schien ihm das eigenartig. Wer stellte denn Katzenfutter mitten in die Natur? Des Rätsels Lösung stand schon bald vor ihm. Ein grosser rotgetigerter Kater stellte sich ihm in den Weg. Ihm folgte eine Dreifärbige. Sie schauten den Eindringling verwundert an.

Simba begrüsste die beiden und dankte ihnen für das Gastmahl. Obwohl der Rote ihn noch immer misstrauisch betrachtete, griff dieser nicht an. Simba war ihm zu gross und mächtig. Zudem war genug Futter für alle drei vorhanden. Die beiden Katzen lebten hier mehr oder weniger alleine. Als ihr Frauchen vor zwei Jahren gestorben war, wurde das Haus abgeschlossen. Die Tochter kümmerte sich seither um die beiden Katzen, die sowieso immer draussen gelebt hatten. Sie wurden täglich mit frischem Wasser und Futter versorgt. Das Bauernhaus stand seither leer. Die beiden Katzengeschwister lebten im leergeräumten Treibhaus, wo es immer trocken und warm war. Dort gab es Körbe und Decken, in die man sich einkuscheln konnte. Zwei Mal täglich kam jemand vorbei, um sie zu versorgen.

Die Samtpfoten waren schon älter und die Hinterbliebenen hatten sich darauf geeinigt, die Katzen in ihrer alten Umgebung zu lassen. Es wurde ja für sie gesorgt. Zudem hatten sie genug Unterschlupfmöglichkeiten. Eigentlich fehlte es ihnen an nichts.

Sie betrachteten Simba, der in seinem Langhaarkleid riesengross schien. Ob sie ihn wohl um Hilfe bitten sollten? Er machte auf sie den Eindruck, als ob er kräftig genug war, um ihnen zu helfen. Vielleicht wusste er eine Lösung bevor es zu spät war? Sie berieten sich kurz und stellten sich vor Simba hin. Sie baten um seinen Rat und erzählten ihm, was hier vorgefallen war.
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