Die beiden Schwestern (ES) - Luskas Bücher

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Die beiden Schwestern (ES)

Buch 7
Fast zwanzig Jahre sind nun vergangen, und doch erinnere ich mich an alles so genau, als wäre es gestern gewesen. Die Geschichte beginnt mit einem längst fälligen Verwandtenbesuch in der Oststeiermark. Dort - in einem Dorf in der Nähe der Raabklamm – betreibt Peters Bruder Sepp eine kleine Landwirtschaft.

Nach etwas mehr als einer Stunde Autofahrt erreichten Peter und ich unser Ziel. Wir parkten den Wagen direkt vor Sepps Anwesen auf einem Wiesenfleck und gingen durch den Vorgarten .Die Eingangstür stand sperrangelweit offen, im Haus aber war alles still.

„Jemand daheim?“ rief Peter. Wir horchten. Nichts regte sich. Ein wenig besorgt traten wir ein, gingen durch den dunklen, schmalen Flur und stießen die Küchentür auf. Obwohl es bereits spät am Vormittag war, stand noch das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch. Auf dem Herd kochten in einem großen Topf Kartoffeln. Von der Hausfrau fehlte jede Spur. Wir durchquerten die Küche und den angrenzenden Abstellraum und öffneten die Tür zum Wirtschaftshof. Auch er wirkte auf den ersten Blick leer und verlassen. Nur ein paar Hühner scharrten gackernd vor der Tenne im Staub.

Doch dann entdeckten wir unsere Schwägerin. Sie sass im Schatten der offenen Stalltür auf einem Holzklotz und beschäftigte sich mit etwas, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Wir traten näher und blickten ihr über die Schulter.in ihrem Schoss lagen zwei winzige Kätzchen, die sie zu füttern versuchte. Sie tunkte ihren Zeigefinger in eine Schale mit Milch und liess den Tropfen, der sich an seiner Spitze gesammelt hatte auf eines der fest geschlossenen Mäulchen fallen. Vergeblich. Keine Zunge erschien, um ihn abzuschlecken. „Hallo Siggi“, sagte ich „seit wann bist du Katzenmutter?“ Sie zuckte zusammen und blickte erschrocken auf. Als sie sah, dass wir es waren, lächelte sie erfreut und sagte: „Was für eine Überraschung. Schön euch zu sehen“.

Sie stellte die Schale mit der Milch neben dem Holzklotz auf den Lehmboden, legte die Kätzchen in einen bereitstehenden Korb mit Heu, stand auf und umarmte uns herzlich. Nach der Begrüssung zeigte sie auf die Kätzchen und sagte: „Es ist ein Jammer. Ich hab sie heute Morgen auf dem Heuboden gefunden. Eigentlich waren es drei, aber eines war tot. Weiss der Himmel, was mit der Mutter passiert ist. Wahrscheinlich überfahren von einem Auto. Die Kleinen sind am Verhungern. Ich fürchte, sie werden nicht mehr lange machen. Und die Kuhmilch wollen sie nicht, stellt Peter fest“. Siggi schüttelte den Kopf. „Nicht einen Tropfen. Ich hab’s den ganzen Vormittag versucht. Ohne Erfolg. Am besten, wir ertränken sie. Da müssen sie wenigstens nicht länger leiden“. Sie seufzte, warf noch einen bedauernden Blick auf die wimmernden Kätzchen und forderte uns mit einer Handbewegung auf, ihr ins Haus zu folgen.

Als wir in die Küche kamen, war der ganze Raum voll Dampf, der mit dem stechenden Geruch angebrannter Kartoffeln angereichert war. Siggi stürzte zum Herd, packte den grossen Topf mit zwei Lappen und kippte seinen Inhalt in einen Eimer. „Auch das noch“, jammerte sie. Jetzt stinkt das ganze Haus. Sie riss das Fenster auf und wedelte mit einem Handtuch die übel riechenden Schwaden hinaus. Dann räumte sie eilig den Tisch ab, verstaute das Frühstücksgeschirr im Spüler und lud uns, verlegen wegen des Durcheinanders, zum Sitzen ein. „Heute gibt’s kein Mittagessen“, verkündete sie fröhlich.

Als mein Blick unwillkürlich den Eimer mit den angebrannten Kartoffeln streifte, lachte sie. „Nein, nein! Nicht deswegen. Die waren für unser Schwein bestimmt. Der Grund ist ein anderer. Lydia und Robi haben heute schulfrei. Sie sind mit belegten Broten losgezogen und bleiben bis zum Nachmittag bei den Schafen auf der Wiese hinter dem Rosenwald. Dort können sie sich austoben und nebenbei aufpassen, dass sich die Schafe nicht verlaufen“. Siggi hatte also gewissermassen einen freien Tag, denn Sepp, ein Nebenerwerbsbauer, kam an Wochentagen immer erst abends von der Arbeit nach Hause. Dann erst gab es für ihn eine warme Mahlzeit.
Dass dieser Tag anders geplant war, sollten wir gleich erfahren. „Sepp ist heute beim Zahnarzt“, berichtete Siggi. Er hat sich den Rest des Tages freigenommen und wird bald daheim sein. Mit dem Essen wird es aber kaum was werden. Wer will schon beissen, wenn die Zähne wehtun? Deshalb habe ich mir das Kochen geschenkt und stattdessen zwei Bleche Obstkuchen gebacken. Den mag er immer“, lachte sie. „Wir können ihn gleich probieren.“

Siggi tischte also Kaffee und Kuchen auf, und wir verzehrten mit gutem Appetit, was sie uns vorsetzte. Dabei redeten wir über dies und das, denn wir hatten uns schon lange nicht gesehen. Ich beteiligte mich nur sehr zerstreut an unserer Plauderei, denn mir gingen die Kätzchen nicht aus dem Kopf. Während einer Pause fragte ich bedrückt: „Willst Du sie wirklich ertränken?“ „Was soll ich denn sonst tun?“ entgegnete meine Schwägerin aufgebracht. Soll ich vielleicht zusehen, wie sie verhungern?“ „Was sagst du dazu“, wollte ich von Peter wissen, aber der reagierte nicht, sondern horchte nach draussen.
Ein Wagen war in den Hof gefahren. Eine Autotür klappte zu, und Schritte näherten sich. Dann ging die Tür auf und mein Schwager kam in die Küche. Er sah ein wenig mitgenommen aus und hatte eine geschwollene Backe, war aber sonst guter Dinge. Er schlug Peter zur Begrüssung kumpelhaft auf die Schulter, schmatzte mir einen Kuss auf die Wange, legte einen Arm um die Schultern seiner Frau und orderte Kaffee und Kuchen. Als das Gewünschte vor ihm stand, begann er Peter von Reparaturarbeiten zu erzählen, die am Haus notwendig geworden waren. Peter hörte interessiert zu, und bald war ein typisches Männergespräch im Gange. Siggi machte sich davon, um draussen irgendwelche Arbeiten zu erledigen.

Ich drückte mich unauffällig zur Hintertür hinaus, um nach den Kätzchen zu sehen. Sie schliefen nicht, sondern zappelten kläglich wimmernd im Korb herum. Beide waren Mädchen. Das eine, ein schwarz-weisses, hatte noch ein Auge geschlossen, das andere, ein Tigerli mit weissem Schnäuzchen, weisser Brust und weissen Söckchen, war völlig blind. Sie konnten kaum mehr als acht Tage alt sein. Obwohl sie offensichtlich schon lange gehungert hatten, waren ihre Bäuche aufgetrieben. Sicher war es eine Weile her, seit sich ihre Mutter das letzte Mal um ihre Verdauung gekümmert hatte. Ich zog ein Papiertaschentuch aus meiner Jacke und begann damit Tigerlis Hinterteil zu massieren. Im selben Masse wie das Taschentuch nass wurde, schrumpfte das Bäuchlein. Dieselbe Behandlung liess ich auch dem schwarz-weissen Katzenkind zu teil werden. Beide schienen sich danach wohler zu fühlen, denn sie lagen still und jammerten nicht mehr. Jetzt konnte ich erst erkennen, wie mager beide waren. Jeder ein winziges Etwas aus Haaren und Knochen. Jedes ein Häufchen Elend, dem Tod näher als dem Leben.geleiten werden in ein Land, in dem es weder Kummer noch Trennung, sondern nur Glück, Liebe, Freude und ein immerwährendes Beisammensein geben wird.
Es machte mir das Herz schwer, sie so schwach und hilfsbedürftig zu sehen und nichts für sie tun zu können. Aber wenigstens versuchen wollte ich es. Ich tunkte, wie zuvor Siggi, meinen Zeigefinger in das Milchschälchen, das vergessen neben dem Holzklotz stand, und liess einen dicken Tropfen auf das Schnäuzchen des schwarz-weissen Katzenkindes fallen. Es wandte angewidert den Kopf, und die Milch versickerte um es.

„Ich sehe, du hast auch nicht mehr Glück als ich“, hörte ich hinter mir meine Schwägerin sagen. Wie lange war sie wohl da gestanden und hatte mich beobachtet? „Sie sind noch zu klein, um ohne ihre Mutter  überleben zu können“, fuhr sie fort. „Glaub mir, es ist am besten sie zu ertränken.“ Als ich traurig den Kopf senkte, setzte sie tröstend hinzu: „Mach dir deswegen keinen Stress. Es gibt genug Katzen auf der Welt. Du hast ja selber jede Menge daheim. Wie viele sind es denn jetzt?“ Sie lächelte schief. “Sieben“ sagte ich, „und alle waren Findelkinder, die ohne unsere Hilfe umgekommen wären.“ Es wunderte mich, wie verärgert meine Stimme klang. Aber es brachte mich immer schon auf die Palme, wenn jemand glaubte, mich wegen meiner Tierliebe belächeln zu müssen. Und genau das hatte Siggi eben getan. „Reg dich nur nicht auf“, sagte sie und klopfte mir beschwichtigend auf die Schulter. „Ich finde es jedenfalls ungewöhnlich, dass jemand so viel Zeit und Geld aufwendet, um diese Streunet zu retten. Wie lange machst du das eigentlich schon?“ „Weiss ich nicht mehr“, antwortete ich mürrisch. „Frag den Peter! Der ist schliesslich auch beteiligt.“ „Beteiligt? Ich denke mir, der wird eher vor vollendete Tatsachen gestellt?“ Sie lachte gutmütig. Aber ich war sauer und schwieg.

Die Kätzchen wimmerten und Siggi beugte sich über den Korb und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Nach einer Weile richtete sie sich auf und sagte nachdenklich: „Du hast doch jede Menge Erfahrung. Warum nimmst du sie nicht einfach mit? Bei dir haben sie vielleicht noch eine Chance.“ „Was höre ich da?“ fragte Peter scharf. Er war eben über den Hof gekommen und hatte Siggis Vorschlag mitbekommen. „Schlag dir das ganz schnell aus dem Kopf. Was denkst du dir eigentlich? Wir haben schon Katzen genug. Unser Haus ist schliesslich kein Tierasyl“. Ich musste ihm im Stillen zustimmen. Er war wirklich tolerant, aber es gab auch Grenzen. Es war einfach unmöglich, jede kranke und notleidende Katze zu retten, die uns über den Weg lief. Trotzdem kamen mir die Tränen, wenn ich mir vorstelle, was Siggi mit den Kleinen machen würde. Meine Schwägerin gab nicht so schnell auf. „Hast du gar kein Herz?“ fragte sie hinterhältig, „gleich wird deine Frau losheulen wie ein Schlosshund.“ Sie legte mir die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Peter warf ihr einen bösen Blick zu, den sie mit einem entschuldigenden Augenaufschlag erwiderte. Er starrte eine Weile missmutig vor sich hin, dann sah er mich an und dann die Katzen. Endlich sagte er: „Also gut! Ein Kompromiss! Wir nehmen sie mit und versuchen sie aufzupäppeln. Gelingt es uns nimmst du sie gefälligst  zurück, liebe Schwägerin. Und dabei bleibt es.“

Was Siggi dazu sagte, weiss ich nicht mehr, denn im selben Moment kam Sepp über den Hof. Er hatte ganz glasige Augen und hielt sich die Backe. „Die Spritze hat ausgelassen“, murmelte er dumpf. „Tut ganz schön weh. Ich glaube, ich leg mich ein bisschen hin.“ Siggi, ganz besorgte Ehefrau, lief sofort ins Haus. Ich wusste, sie würde jetzt aus irgend einer Lade Aspirin-Tabletten hervorkramen, eine kalte Kompresse vorbereiten, Salbeitee kochen, ihrem Mann ins Bett helfen und ihn bemuttern wie ein Baby.

Wir fühlten uns überflüssig und beschlossen heimzufahren. Der Abschied war kurz. Als wir zum Auto gingen, rief uns Siggi eilig nach: „Vergiss die Katzen nicht. Ich kann mich jetzt auf keinen Fall um sie kümmern.“ Unsere Heimfahrt verlief schweigsam. Peter konzentrierte sich auf die enge kurvige Landstrasse, ich hielt die Kätzchen im Schoss und wärmte sie mit den Händen, ständig in Sorge, ihr Leben könnte verlöschen, ehe ich wenigstens einen Rettungsversuch gestartet hatte.
Als wir, freudig begrüsst von unseren sieben pelzigen Hausgenossen, daheim ankamen, liessen die Kätzchen wieder ein schwaches Wimmern hören. Ohne auf das Betteln und Drängeln unserer hungrigen Stubentiger zu achten, wärmte ich etwas Kuhmilch. Da fiel mir ein, dass sie pur getrunken eventuell Durchfall hervorrufen könnte. Deshalb brühte ich Kamillentee auf und goss etwas von beiden Flüssigkeiten in eine Tasse, drehte den Schraubverschluss samt Dosierungsröhrchen von einem Medikamentenfläschchen und saugte etwas von dem Tee-Milch-Gemisch auf. Dann nahm ich das schwarz-weisse Katzenkind in die Hand und versuchte es zum Trinken zu bewegen. Ich hatte Glück. Es öffnete das Mäulchen und liess sich Tropfen um Tropfen einflössen. Nach einer Weile verweigerte es. Aber ich war zufrieden. Zuversichtlich ging ich daran, den Versuch bei Tigerin zu wiederholen. Als ich ihm jedoch das Röhrchen in sein winziges Maul steckte, wandte es angewidert den Kopf und meine Gesundheitsmischung versickerte im Brustfell. Da es von seinem abwehrenden Gestrampel ganz erschöpft war, legte ich es Peter, der mir assistiert hatte, in die Hand und wandte mich meinen sieben Hausgenossen zu, die immer energischer ihre schon überfällige Mahlzeit
reklamierten. Es gab wie immer von allem etwas. Dosenfleisch, Trockenfutter und eine unabänderliche Tatsache. Ich tröste mich mit dem Gedanken ,dass uns unsere Lieblinge einmal mit steil emporgestreckten Schwänzen und freudig schnurrend an der Tür zum Jenseits erwarten und hinüber geschnittenes Rindfleisch. In einer Dose befand sich diesmal besonders viel Sauce. Da kam mir ein Gedanke. Ich saugte etwas davon mit dem Dosierungsröhrchen auf und unternahm einen neuerlichen Versuch, Tigerli zum Trinken  zu bewegen. Es funktionierte .Tigerli öffnete sein Mäulchen und schluckte. Tigerli war gerettet. So dachten wir wenigstens. Aber schon am nächsten Tag schwand unsere Zuversicht dahin. Tigerli hatte Verstopfung. Es drückte und drückte, das Bäuchlein blähte sich, aber nichts kam.

Am dritten Tag fuhren wir zum Tierarzt. Er sah sich das Katzenkind an, runzelte die Stirn, wiegte den Kopf und meinte: „Einem so kleinem Tier möchte ich lieber keine Spritze geben. Aber versuchen Sie’s mit Babylax. Sie erhalten die Zäpfchen rezeptfrei in jeder Apotheke. Bei mir gibt’s leider nur Medizin für Tiere.“ Wir kauften also Babylax, versorgten damit unser Katzenkind und warteten hoffnungsvoll auf ein Ergebnis. Vergeblich! Am nächsten Tag ertrugen wir den Anblick des sich plagenden Katzenkindes nicht mehr. Um der Quälerei ein Ende zu bereiten, wickelten wir es in ein Handtuch und machten uns wieder auf den Weg zum Tierarzt, diesmal um es erlösen zu lassen. Während der ganzen Fahrt schwieg ich bedrückt. Dieses kleine Wesen hatte kaum erst zu leben begonnen und nun sollte es schon sterben.

Obwohl wir angemeldet waren, mussten wir warten. Der Herr Doktor operierte gerade. Während der ganzen Zeit gab unser Kätzchen keinen Laut von sich. Man hätte meinen können, es sei schon tot. Dann war es so weit. Der Tierarzt schlug das Handtuch auseinander und betrachtete den Inhalt. Ungeachtet des traurigen Anlasses, war seine Miene unbekümmert, ja beinahe fröhlich. Mir stieg die Galle hoch. Dass er angesichts eines sich quälenden todgeweihten Lebewesens eine derart aufreizende Gleichgültigkeit empfinden konnte, war mir unbegreiflich. Und dann begann er auch noch zu lachen. Er hielt uns das Bündel hin. Wir warfen einen Blick darauf und dann lachten auch wir. Neben dem strampelnden Katzenkind lag ein bohnengroßes braunes Etwas, das einen typischen Geruch verströmte. Der Tierarzt zupfte Papier von einer Rolle, nahm mit spitzen Fingern die kleine Bohne auf und entsorgte sie im Abfalleimer. „Das hätten wir“, sagte er zufrieden. „Wenn die kleine Dame wieder einmal Verstopfung bekommt, einfach Babylax!“ Er drückte mir das Bündel in die Hände und wir waren entlassen.

Unsere sieben Hausgenossen waren über den Zuwachs wenig erfreut. Sie fauchten und murrten und zeigten sich von ihrer unfreundlichen Seite. Deshalb quartierten wir die Kinder in einer Kammer ein, die uns sonst zum Überwintern frostempfindlicher Blumen diente. Sie bekamen ein weich gepolstertes Lager in einem flachen Karton und ein Katzenklo mit feinem Sand, das sofort willig und mit rührender Selbstverständlichkeit benutzten.
Da nun unsere Kleinen, soweit wir die Lage einschätzen konnten, über den Berg waren, fanden wir es an der Zeit, über passende Namen nachzudenken. Diese sollten gewissermassen ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit sein. Da wir unsere Kätzchen für aussergewöhnlich hielten, kamen solche wie Miez, Minki, Schnurrer oder Mauzi sowieso nicht in Frage. Den Richtigen zu finden war also gar nicht so leicht. Das Tigerli war wissbegierig, lernfähig, lebhaft und neugierig, aber es war trotz seiner grossen ausdrucksvollen Augen keine Schönheit. Sein Körper war mager und ein wenig unproportioniert, sein Fell rau und sein Schwänzchen lächerlich dünn. Jeder gewöhnliche Katzenname würde seine Unscheinbarkeit nur unterstützen. Tigerli sollte - gewissermassen als Gegengewicht - einen ganz besonderen, einen königlichen Namen haben. Nach einigem Hin und Her einigten wir uns auf den der schönen Pharaonin und nannten sie Nofretete. Gerufen wurde unser Kätzchen allerdings später Tete. Das schwarz-weisse Katzenmädchen verdankte seinen Namen einem Zufall. Ein Bekannter kam zu Besuch und wollte unbedingt
unseren neuen Zuwachs sehen. Als wir ihm die Katzen vorstellten, hatte er nur Augen für alle anderen so sehr von uns geliebten vierbeinigen Hausgenossen im Garten unter einer grossen Birke begraben werden. Auch Peter und ich werden einmal gehen müssen. Das ist das Los aller Lebewesen und das Schwarz-weisse. Er betrachtete es fasziniert, schüttelte den Kopf und sagte; „Die Katz hat was von meiner Tante Luise“. Und nach einer Weile „Unglaublich, die Tante Luise wie sie leibt und lebt.“ Seine Tante Luise gehörte nicht zu unserem Bekanntenkreis. Wir konnten daher auch nicht nachvollziehen, ob seine Behauptung zutreffend war oder nicht. Aber vielleicht hatte unser Kätzchen wirklich etwas Tantenhaftes? Jedenfalls blieb der Name an ihm hängen. Von dem Tag an wurde es Tante Luise, kurz Luise gerufen.

Unsere Kleinen entwickelten sich zufriedenstellend. Sie assen, was wir ihnen vorsetzten, benutzten brav das Klo, spielten miteinander und hielten Peter und mich für Papa und Mama, was man aus der überschäumenden Freude schliessen konnte, mit der sie uns begrüssten, wenn wir das Blumenzimmer betraten. Besonders Peter hatte es ihnen angetan. Was für ein Spass, wenn er sich mit gegrätschten Beinen hinstellte, auf seine Oberschenkel klopfte und sie auf diese Weise zum Klettern aufforderte. Dann schlugen sie ihre winzigen Krallen in seine Jeans und hievten sich hoch. Anfangs plagten sie sich sichtlich, wurden aber im Laufe des Trainings immer geschickter, bis sie schliesslich an ihm hochsausten wie zwei Raketen. Das Spiel machte ihnen unglaubliches Vergnügen. Auch Peter liebte es, bis er einmal versehentlich kurze Hosen trug. Dann war der Spass - wenigstens für diesen Tag - vorbei.
Im Blumenzimmer gab es eine Menge zu erforschen. Da standen Kartons, Blumentöpfe, ein Tisch, eine wackelige Stellage und eine grosse Kiste voll Torf, die von Tete entdeckt und sofort zu ihrem persönlichen Klo erwählt wurde. Obwohl es dem winzigen Tierchen ausserordentlich schwer fiel, die Aussenwand der Kiste zu erklimmen, konnte es einfach nicht aufhören, es immer wieder zu versuchen. Hatte es endlich den oberen Rand erreicht, liess es sich auf der anderen Seite erschöpft in den Topf plumpsen, verrichtete sein Geschäft und machte sich wieder auf den Rückweg, der sich jedes Mal als Herausforderung erwies. Sass unser Kleines endlich auf der Oberkante der Kiste, starrte es lange, anscheinend die Tiefe auslotend, hinunter auf den Fußboden. Irgendwann begriff es, dass seine Kletterkünste nicht ausreichten, den Abstieg zu schaffen, also sprang es, das heisst, es fiel. Da es aber ein wenig kopflastig war, landete es stets auf der Nase. Die Folge dann war, dass das Schnäuzchen anschwoll und rot leuchtete wie ein kleines Signallicht. Tete schien das nichts auszumachen. Sie war hart im Nehmen und Hindernisse waren schliesslich da, um überwunden zu werden.

Luise beteiligte sich selten an Tetes anstrengenden und für sie so unnötigen Aktivitäten. Sie sass lieber auf einem sicheren Aussichtsplatz und beobachtete ihre Schwester mit halb geschlossenen Augen und einem leicht verächtlichen Zug um die Nase. Peter hatte sich gegenüber unseren sieben Stubentigern stets tolerant und wohlwollend verhalten und die von ihnen oft recht energisch geforderten Streicheleinheiten willig gegeben und so gerecht wie möglich unter ihnen verteilt. Zu mehr Engagement hatte er sich nach einem langen Arbeitstag allerdings
nicht aufraffen können. Seit die Kleinen im Haus waren, trat ein Wandel ein. Anstatt sich nach der Arbeit beim Fernsehen zu entspannen oder die Zeitung zu lesen, besuchte er unsere Mädchen im Blumenzimmer, verwöhnte sie mit Leckerbissen, liess sie nach einer Schnur haschen, warf ihnen ihre Quietschmaus zu, spielte Kletterbaum oder sass einfach da und beobachtete sie. Die Kätzchen vergötterten ihn. Er war ihr Spielgefährte, ihr Ernährer, ihr geliebter Mensch, kurz - der Mittelpunkt ihrer kleinen Welt. Und Peter fühlte sich ganz als Katzenvater. Eines Tages läutete es. Als Peter öffnete, standen Sepp und Siggi mit ihren Sprösslingen Lydia und Robi vor der Tür. Bei belegten Broten und Tee wurden Neuigkeiten ausgetauscht und Familienangelegenheiten besprochen. Als uns einmal der Gesprächsstoff ausging, fragte Siggi: „Was ist eigentlich aus den kleinen Katzen geworden?“ „Sie leben noch“, antwortete Peter kurz. „Sind sie gesund?“ bohrte Siggi weiter. „Ja“, erwiderte Peter erstaunlich einsilbig. „Dann können wir sie ja heute mitnehmen“, meinte Siggi. „Die Kinder freuen sich schon darauf. Sie haben ihnen sogar schon Namen gegeben. Stimmt’s?“ Die Kinder nickten eifrig.
Mir blieb beinahe das Herz stehen. Natürlich war es irgendwann einmal so ausgemacht worden, aber das war lange her. Seitdem hatte ich den Gedanken an dieses Übereinkommen aus meiner Erinnerung verbannt und vergessen. Mein erschrockener Blick suchte Peter. Aber er ignorierte ihn. Er schob den Teelöffel auf dem Tisch hin und her und schwieg. Ich wusste, was in ihm vorging. Eine einmal getroffene Entscheidung war ihm heilig. Was würde er tun? Würde er diesmal über seinen Schatten springen? Als er sich nach einer Weile immer noch nicht äusserte, wandte ich mich in meiner Not an die himmlische Anlaufstelle für dringende Ansuchen und bat: „Lieber Gott, mach dass die Mädchen bei uns bleiben, und ich werde immer deinen Willen respektieren.“ Ich wusste, dass der liebe Gott jetzt milde lächeln würde, denn er kannte mich und meine Versprechungen nur zu genau. Dennoch baute ich auf seine Güte.

Da hob Peter den Kopf, liess seinen Blick über Siggi und die Kinder schweifen und sagte in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloss: „Die Kinder bleiben bei uns. Sie sind noch lange nicht robust genug und brauchen immer noch Pflege. Dazu aber hat keiner von euch Zeit!“ Sofort stimmten Lydia und Robin ein Protestgeheul an. Die fühlten sich um ihr Spielzeug betrogen. Aber Peter blieb hart. Siggi war einerseits bereit, Peters Entschluss ohne Wenn und Aber zu akzeptieren, andererseits war sie frustriert, weil ihre Kinder so ein Theater veranstalteten. Um die Lage zu entschärfen, sagte sie: „Aber sehen dürfen wir sie doch wenigstens?“ Dagegen war schlecht etwas einzuwenden. Also machten wir uns auf zur Blumenkammer. Peter und ich mit gemischten Gefühlen, denn unsere Katzenmädchen kannten nur uns und hatten bisher kaum mit anderen Menschen Kontakt gehabt, Siggi und die Kinder mit grossem Hallo und lautem Getrampel. Sepp beteiligte sich nicht an der Exkursion. Er hatte unsere Tageszeitung gefunden und angefangen in ihr zu lesen.
Als wir die Tür öffneten, hatten sich unsere Kleinen wegen des Wirbels, den Siggi und die Kinder veranstalteten irgendwo verkrochen. Sie wurden mit viel Trara hinter leeren Blumentöpfen aufgestöbert, eingefangen und festgehalten. Robin hatte Tete erwischt und sie hochgehoben. Auf einmal verwandelte sich das schlanke elfenzarte Katzenmädchen in eine fauchende kratzende kleine Furie, die ihre nadelspitzen Krallen unbarmherzig in den nackten Arm des Jungen schlug. Er stiess einen Schmerzensschrei aus und ließ das wehrhafte Biest fallen. Lydia hatte Luise eingefangen, die sich - starr vor Entsetzen - ohne Gegenwehr hochnehmen liess. In ihrer Angst verlor sie jedoch die Kontrolle über ihren Blasenschliessmuskel und pinkelte der lieben Nichte aufs Sonntagskleid.

Nach diesem Desaster verliessen wir kommentarlos das Blumenzimmer. Peter ging als letzter und schloss die Tür. Als ich den Kopf wandte, kniff er ein Auge zu und grinste. Danach kam keine rechte Stimmung mehr auf. Sepp und Siggi verabschiedeten sich bald, stiegen mit ihren missgestimmten Sprösslingen ins Auto und fuhren davon.
Die Zeit ging dahin und unsere Katzenmädchen nahmen zu an Grösse, Gewicht, Erfahrung und Geschicklichkeit. Eines Tages war es dann soweit, dass wir es wagen konnten, sie mit unseren vierpfötigen Hausgenossen zusammen zu bringen. Entgegen all unseren Befürchtungen kam es zu keinen echten Feindseligkeiten, sondern nur zu halbherzigem Gefauche. Tete nahm es gelassen. Sie blieb einfach sitzen, liess sich beschnuppern und zuckte nur dann und wann mit der Schwanzspitze. Luise dagegen reagierte panisch, flitzte in die nächste Ecke und kreischte um Hilfe. Meine Haustiger waren wegen dieses unnötigen Theaters vorerst verblüfft, begannen aber dann mit vergnügt funkelnden Augen gemeinsam gegen sie vorzurücken. Um ein Drama zu verhindern, mussten wir einschreiten und Luise aus ihrer Ecke holen. Die erste Runde hatte sie verloren. Da Katzen ein gutes Gedächtnis haben, konnte ich mir vorstellen, dass unser schwarz-weisses Mädchen in Zukunft ein dankbares Objekt für vergnügtes Mobbing sein würde. Und genauso war es auch. Tete, die kleine Unscheinbare, hatte Mut und mentale Stärke gezeigt. Sie wurde akzeptiert und in Ruhe gelassen .Luise, die Kräftige, Hübsche, rutschte unaufhaltsam in der Rangordnung nach unten und hatte künftig einiges zu ertragen. Doch damit würde sie allein zurechtkommen müssen. Wir konnten ihr nicht jedes Mal zu Hilfe eilen, wenn für sie die Lage brenzlig wurde.

Mit der Zeit fand sie jedoch eine recht wirksame Methode sich ihrer Haut zu wehren. Kam ihr nämlich eine unserer schwergewichtigen Hauskatzen zu nahe, sprang sie in die Luft wie ein Schachtel Teufelchen und stiess dabei ein schreckenerregendes Kreischen aus. Darauf zog sich der Angreifer meist verblüfft zurück. So wirkungsvoll diese Art der Selbstverteidigung auch sein mochte, so gefährlich erwies sie sich für Luise. Sie sprang nämlich meist in blinder Hast und ohne zu schauen wohin. Deshalb war sie ständig in Gefahr, sich zu verletzen. Einmal stiess sie so kräftig mit dem Kopf gegen ein Hindernis, dass ihr auf der Stirn eine Beule wuchs und sie steifbeinig und schwindlig umhertaumelte. Wir brachten sie zum Tierarzt, der zu allererst einen Hirntumor in Erwägung zog. Als wir ihm jedoch die Beule zeigten, meinte er, es könne auch eine Gehirnerschütterung sein und verordnete Bettruhe.

Luise wurde von da an vorsichtiger. Jahre später allerdings passierte ihr vermutlich durch eine ähnlich hektische Aktion ein arges Missgeschick. Sie sprang, blieb aber mit einer Kralle an ihrer Schlafdecke hängen und zog sich auf diese Weise am rechten Hinterbein einen doppelten Kreuzbandriss zu. Wir waren nicht dabei, aber es kann nur so gewesen sein. Als wir nämlich am Abend heimkamen, schleppte sie ihr Hinterbein nach. Die Schlafdecke lag mitten im Zimmer und die anderen Katzen sassen auf ihren Lieblingsplätzen und schauten verdächtig unschuldig drein. Luise wurde operiert und bekam einen Gipsverband. Peter aber erhielt vom Katzendoktor den Auftrag, einen Käfig zu bauen, um die Patientin am Laufen und Springen zu hindern. Peter zimmerte in stundenlanger Arbeit einen schönen Käfig. Er wurde allerdings nie benutzt. Luise rührte sich nämlich nicht vom Fleck. Sie bekam Essen und Trinken ans Bett geliefert, wurde gehätschelt und verwöhnt und genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Unser Schlafzimmer wurde ihr Salon, in dem sie residierte Besucher empfing und dem Personal ihre Wünsche kundtat. Doch alles, was zu lange dauert, wird langweilig. Ich glaube, sie war ganz froh, als sie sich wieder einigermassen bewegen und ein normales Katzenleben führen konnte.
Eines Tages lief sie, das Gipsbein waagerecht weggestreckt, mit lautem Gepolter die Treppe vom Schlafzimmer zur Diele hinunter, wo sie von der gesamten Mannschaft teils entgeistert, teils beeindruckt in Empfang genommen wurde. Behindert durch die leichte Steifigkeit des Beines, liess sie ihre Springaktionen sein und entdeckte dafür eine andere Möglichkeit sich ihren Widersachern zu entziehen. Sie versteckte sich. Stand eine Lade auch nur einen Spalt breit offen, nützte sie die günstige Gelegenheit und schlüpfte hinein. Dann wühlte sie sich in meine oder in Peters Unterwäsche und war für den Rest des Tages unsichtbar. Da sie sich auf unser Rufen selten oder gar nicht meldete, verging oft viel Zeit, bis wir sie fanden.
Die Möglichkeiten, sich in unserem Haus zu verstecken, sind zwar zahlreich, aber nicht unbegrenzt. Wir sehnten deshalb den Tag herbei, an dem Luise die Ideen ausgehen und sie keinen neuen Schlupfwinkel finden würde. Unser Suchen hätte dann gezielter und zeitsparender ablaufen können. Wir mussten uns jedoch bald eingestehen, dass Luise im Überlisten unschlagbar war. Einmal suchten wir sie lange Zeit ohne Erfolg. Unsere Sorge stieg von Stunde zu Stunde, denn die Möglichkeit, ihr könnte etwas zugestossen sein, durfte nie ganz ausgeschlossen werden. Luise war nämlich ein richtiger Unglücksrabe und zog Missgeschicke beinahe magisch an. Endlich - es wurde schon Abend - hörten wir ein zaghaftes Miau, konnten es aber nicht orten. Wir warteten auf einem weiteren Hilferuf, aber es kam keiner. So starteten wir eine wahrhaft detektivische Fahndungsaktion. Wir guckten in alle Laden, unter alle Möbel und in allen Kästen. Als wir uns die Betten vornahmen, hatten wir Erfolg. Sie steckte im Lattenrost unter der Matratze meines Bettes fest und konnte weder vor noch zurück. Wir waren heilfroh, unsere Luise gesund und munter wieder zu haben. Und sie auch, so denke ich jedenfalls.Die Monate gingen rasch dahin, und meine Mädchen wurden erwachsen. Viel zu schnell für meinen Geschmack. Um künftigen Zuwachs zu vermeiden, wurde es Zeit, sie sterilisieren zu lassen. Luise ertrug die Fahrt zum Tierarzt, die Nachwirkungen der Narkose und den Wundschmerz nach der Operation mit Gleichmut. Tete dagegen litt schrecklich. Schon auf dem Weg zum Tierarzt jammerte sie so Mitleid erregend, als ginge es zu ihrer Hinrichtung. Kaum aus der Narkose erwacht, wand sie sich in Brechkrämpfen, die erst aufhörten, als ihr am nächsten Tag eine Spritze verabreicht wurde. Ich litt mit ihr, wusste aber auch, dass die Operation unvermeidlich gewesen war. Die Pille hatten wir von vornherein nicht in Erwägung gezogen aus Sorge, sie könnte sich mit der Zeit negativ auf die Gesundheit der Mädchen auswirken.

All unsere Katzen haben tagsüber die Freiheit, zu kommen und zu gehen wie es ihnen beliebt. Nachts habe ich sie jedoch gern im Haus. Zu viele Räuber wie Fuchs, Marder und Iltis treiben sich in unserer Umgebung herum. Sie kommen sogar auf die Terrasse und klauen das Trockenfutter, das dort in einer Schüssel für hungrige Bauernkatzen bereit steht. Bis jetzt haben sich zwar alle friedlich verhalten, aber wer kann schon wissen, ob das auch so bleibt. Ich habe beim Tierarzt schon Katzen mit Bisswunden an Kehle, Nacken und Bauch gesehen, die genäht werden mussten. Da Katzen aber - ähnlich wie die kleinen Räuber - gern nachts unterwegs sind, mussten wir ihnen ihre abendliche Heimkehr attraktiv gestalten. Wir lösten das Problem, indem wir ihnen die Hauptmahlzeit erst bei Anbruch der Dunkelheit servierten. Da kamen sie, vom Hunger getrieben, alle gern nach Hause. Waren dann die Schüsseln leer und die Bäuche voll, wurden ausgiebig die Bärte geputzt, ehe sie sich auf ihre Schlafdecken begaben, um zufrieden schnurrend vor sich hin zu dösen und dabei zu verdauen. Bekamen sie später Lust auf eine nächtliche Tour, hatte sich das für ihre Wünsche zuständige Personal bereits in seine Betten zurückgezogen und war nicht mehr verfügbar, um ihnen die Tür zu öffnen. Sie akzeptierten das und gewöhnten sich an diese Hausordnung.

Im Winter, wenn Kälte und Schnee das Land überzogen, blieben sie sowieso rund um die Uhr zu Hause und lagen viele Stunden auf oder neben der Heizung. Erstaunlich, wieviel Wärme Katzen vertragen können. An besonders schönen Sommerabenden kam es allerdings vor, dass der eine oder andere Hausgenosse lieber auf das gewohnte Essen verzichtete, als auf die eingeplante nächtliche Abenteuertour. Am darauffolgenden Morgen forderte dann der Heimkehrer vehement seine versäumte Mahlzeit ein, verzog sich auf seine Decke und verschlief den restlichen Tag.

Auch Tete und Luise durften, wann immer sie wollten, hinaus ins Freie. Unser Garten wird anstatt eines Zauns von Sträuchern umgrenzt. Dahinter erstreckt sich ein schmaler Wiesenstreifen, dichtes Gestrüpp aus Himbeerranken, junge Birken und kniehohe Weiden. Und dann beginnt der Wald. Während es Luise völlig genügte, den Garten kennen zu lernen, wollte Tete die ganze Umgebung erforschen. Als sie das erste Mal durchs Gebüsch schlüpfte, die Wiese überquerte und im Wald verschwand, wäre ich ihr am liebsten gefolgt. Ich wollte sie bei mir und in Sicherheit wissen, sie aber strebte danach, ihre kleine Welt zu erobern. Ängstlich besorgt wartete ich auf ihre Rückkehr. Es dauerte nicht allzu lang, da tauchte sie ganz aufgewühlt durch das Erlebte wieder auf und bat mich inständig um mein Verständnis, indem sie sich immer wieder zärtlich um meine Beine schlängelte. Dann sprang sie auf die Küchenbank, rollte sich zusammen und schlief ein. Es war ein Schlaf voll aufregender Träume, denn ihre Pfoten zuckten und die Barthaare zitterten vor innerer Erregung. Ihr erster Ausflug war gut und ohne Zwischenfall verlaufen, aber ich wusste, dass noch viele, weit ausgedehntere, folgen würden. Und so war es auch. Ihre Neugierde und ihr Forscherdrang trieben sie immer weiter fort. Dabei achtete sie nicht auf die Zeit und blieb immer länger fort. Ich stand tausend Ängste aus, wenn ich mir vorstellte, was ihr alles zustossen könnte. Da waren nicht nur Fuchs, Marder und Iltis, die man fürchten musste, auch ein Habichtspaar kreiste oft hoch oben am Himmel und hielt Ausschau nach Beute für seine Jungen, die es irgendwo im Wald aufzog. Dass meine Haustiger für alle diese Räuber uninteressant waren, leuchtete jedem ein, die sie einmal gesehen hatte. Sie waren zu schwergewichtig und zu wehrhaft. Aber so ein zartes Katzenmädchen wie Tete stellte ohne Zweifel einen willkommenen Happen für jeden einzelnen von ihnen dar. Es wundert mich noch heute, dass meiner Kleinen nie etwas zustiess. Entweder waren uns die Räuber gut gesinnt, weil meine Bestechungsversuche in Form von Fleischbrocken, die ich auf der Terrasse für sie auslegte, Erfolg zeigten, oder der Schutzengel, den ich jeden Tag hinter ihr her sandte, nahm seine Arbeit ungewöhnlich ernst. Und doch war meine Angst immer grösser als mein Vertrauen. Ich wurde stets unruhig, wenn es Abend wurde und brachte es nie fertig zu warten, bis meine Kleine aus eigenem Antrieb nach Hause kam, sondern ging in der Dämmerung den Waldweg entlang, um sie heimzuholen.
Wenn ich ihren Namen rief, huschte sie wie ein Schatten durchs Buschwerk und kam mir auf dem Waldweg entgegen, das Schwänzchen steil aufgerichtet, sein Ende zum Griff eines Regenschirms gebogen. Sie ließ sich willig auf den Arm nehmen und nach Hause tragen, wobei sie mir mit Kopfstössen und hingehauchten Küssen auf die Nasenspitze stürmisch versicherte, dass ihr Herz ganz mir gehöre.
Peter begleitete mich oft und gern. Mit der Zeit wurde dieses Heimholen unseres Katzenkindes fast zum Ritual. Wir gewöhnten uns daran, abends Arm in Arm einen kleinen Waldspaziergang zu machen und den Tag auf diese Weise ausklingen zu lassen. Zu dieser Zeit ergab es sich so, dass immer mehr notleidende Katzen bei uns einzogen. Peter äusserte sich einmal: „Von mir aus kannst du sie überall einquartieren, nur nicht im Schlafzimmer. Da will ich ungestört sein.“ Alle unsere vierbeinigen Hausgenossen respektieren seinen Wunsch. Für Tete und Luise gab es jedoch keine Tabus. Sie eroberten mühelos unser Schlafzimmer und unsere Betten. Kaum hatten wir uns zur Ruhe begeben, folgten sie uns, hüpften vergnügt auf uns herum, schnurrten, dass ihre Körper bebten, überschütteten uns mit Zärtlichkeiten, gaben uns flinke federleichte Küsschen auf Wange und Nasenspitze, suchten sich schliesslich eine bequeme Mulde und rollten sich zum Schlafen zusammen. Weder Peter noch ich kamen jemals auf die Idee, sie aus dem Schlafzimmer zu verbannen. Tete verteilte ihre Zärtlichkeiten annähernd gerecht zwischen Peter und mir. Luise aber war mit Leib und Seele meinem Ehelichsten verfallen, was sie manchmal recht deutlich durchblicken liess. Kauerte sie mit halb geschlossenen Augen behaglich schnurrend auf seiner Brust, konnte es geschehen, dass sie die Ohren anlegte und mit der Pfote drohte, wenn ich es wagte, meine Hand nach ihm auszustrecken. Damit zeigte sie auf sehr eindeutige Weise, dass sie nicht in ihrer Zweisamkeit mit ihm gestört werden wollte.
Seit dem Tag, als wir die beiden Katzenmädchen nach Hause brachten, sind nun zwanzig Jahre vergangen. Unsere vielen Stubentiger von damals leben schon lange nicht mehr. Andere notleidende Katzen sind an ihre Stelle getreten und haben nach und nach von unserem Haus Besitz ergriffen. Unsere beiden Mädchen sind alt und müde geworden. Tetes Appetit hat stark nachgelassen. Sie, die auch bei bester Kost immer zart und schlank geblieben war, ist erschreckend mager geworden. Sie hat sich ein kleines Sofa zum Dauerschlafplatz erkoren, das sie nur verlässt, um einen Rundgang durchs Haus zu machen und abends zu mir aufs Bett zu springen. Dann schenkt sie mir ihre leichten zärtlichen Zungenküsschen auf die Nasenspitze und lässt dabei ihr typisches raues Schnurren hören. Damit will sie sagen: „Wir gehören zusammen.“

Luise ist fast taub und hinkt ein wenig. Ihr alter Kreuzbandriss macht sich bemerkbar. Ausserdem hat sie eine Blasenschwäche, die uns grosse Probleme bereitet. Aber das Essen schmeckt ihr immer noch und und sie zeigt uns bei jeder Gelegenheit, dass sie uns liebt und von uns gehätschelt werden will. Eines Tages, und das wahrscheinlich sehr bald, werden unsere betagten Mädchen für immer von uns gehen und wie alle anderen so sehr von uns geliebten vierbeinigen Hausgenossen im Garten unter einer grossen Birke begraben werden. Auch Peter und ich werden einmal gehen müssen. Das ist das Los aller Lebewesen und eine unabänderliche Tatsache. Ich tröste mich mit dem Gedanken ,dass uns unsere Lieblinge einmal mit steil emporgestreckten Schwänzen und freudig schnurrend an der Tür zum Jenseits erwarten und hinüber geleiten werden in ein Land, in dem es weder Kummer noch Trennung, sondern nur Glück, Liebe, Freude und ein immerwährendes Beisammensein geben wird.
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