Auf leisen Sohlen kommt der Dieb
Buch 3
Fortan brach er jede Nacht in diese Wohnung ein. Aus Simba war ein Dieb geworden. Die Frau wunderte sich jeden Morgen, wieso ihre Katzen so viel gefressen hatten und alle Töpfe sauber leergeleckt waren. Den Dieb hatte sie aber nicht entdeckt. Er war auf leisen Sohlen gekommen und genauso leise wieder weggegangen. Je mehr er frass, desto mehr Futter stellte sie hin. Sie wunderte sich sehr über das neue nächtliche Verhalten ihrer Stubentiger. Obwohl der Herd ein absolutes Tabu für die Katzen war, entdeckte sie eines Morgens Pfotenabdrücke darauf. Der Brotkorb lag am Boden und der Butterzopf wies klare Beissspuren auf. Hier war ein hungriges Tier am Werk gewesen. Unglaublich, da verfütterte sie schon fast die doppelte Menge wie bis anhin und die frechen Katzen frassen ihr noch das Frühstück weg.
Als sich das Verhalten der verfressenen Katzen auch nach einer Wurmkur nicht geändert hatte, blieb sie nachts lange wach. Sie ahnte nun, dass sich ein Dieb bei ihr eingeschlichen hatte. Wenn sie sich in Bett legte und noch etwas wach blieb, konnte sie die Katzentüre hören. Klick-klack machte das Türchen. Es war, als warte das Tier bis in der Wohnung alles ruhig geworden war. Dann hörte sie ein Schmatzen. Sie hätte gerne gewusst, wer sich bei ihr gratis den Bauch vollschlug. Allerdings verschwand das Tier blitzschnell, wenn sie aus dem Bett aufstand. Sie hatte auch schon versucht, ganz leise zu sein, um einmal einen Blick auf den Dieb werfen zu können. Doch Simbas Gehör war wachsam. Selbst wenn er die Schnauze im Futternapf hatte, blieben die Ohren aufgerichtet und seine Sinne wachsam. Noch bevor sie im Wohnzimmer stehen konnte, war er durch die Katzentüre verschwunden.
Sie stand jede Nacht einmal auf, doch konnte sie den Kater nicht entdecken. Es war eine klare Sommernacht, als sie wach wurde. Sie schaute in den Garten und entdeckte ein paar Igel, die eben aus dem Igelhaus hervorkrochen. Da sah sie ihn, wie er in der Hecke sass und dem Igeltreiben zuschaute. Sie musterte ihn. Aha, so sah also ein Dieb aus. Durch die Hecke sah sie noch vier Beine, die hinter dem Kater vorbeiliefen. "Jetzt hat der freche Kerl auch noch seine Freundin mitgebracht", war ihr erster Gedanke. Unweit von ihm schob sich eine Schnauze durch die Hecke. Auch diese hatte den Geruch des Igelfutters gerochen. Sie war aber nicht so flach wie eine Katzenschnauze, sie war lang und spitz. Auch die Beine waren viel länger als die der Stubentiger. Auch wenn der Mond schien, war die Farbe nicht klar zu erkennen. Jetzt blieb ihr fast das Herz stehen. In ihrem Garten stand ein ausgewachsener Fuchs. Simba hatte ihn vermutlich mitgebracht. Sie zählte sofort ihre Katzen und vergewisserte sich, dass alle in Sicherheit waren. Es war ihr aufgefallen, dass Simba den Fuchs kannte, denn er hatte keinerlei Angst vor dem überlegenen Wildtier. Als dieser ihm zu nahe kam, fauchte Simba und der Fuchs rannte davon.
Die Diebestour wiederholte sich Nacht für Nacht. Es kam was kommen musste. Simba schlich sich wie jede Nacht in die Wohnung hinein. Obwohl er so leise wie möglich war, hörte er ihre Schritte. Sie stand vom Bett auf, machte aber kein Licht und schlich fast lautlos quer durch das Wohnzimmer in Richtung Küche. Sie näherten sich ganz langsam dem Kater, der seinen Hunger stillte. "Nur noch einen Happen, dann nichts wie weg!" dachte Simba. Er rannte blitzschnell zur Türe, wollte wie ein Pfeil durch die Türe stossen. Dabei hatte er sich fast den Kopf eingeschlagen. Das Türchen war verschlossen. Tasja hatte bei einem Streit energisch gegen die Katzentüre getrommelt und dabei das Schloss versehentlich von "Tag" auf "Nacht" gestellt. Simba war eingesperrt. Mit seiner Pranke schlug er gegen die Türe. Mit seinem wuchtigen Körper prallte er gegen die verschlossene Glastüre. Er fauchte, tobte, schrie aus Leibeskräften. In seiner Verzweiflung sprang er auf den Herd, stiess Tassen und Besteck herunter. Es klirrte, scherbelte in Tinas Wohnung, und das mitten in der Nacht. Sie war zu Tode erschrocken, denn sie war nicht darauf gefasst, dass diese Begegnung derart hektisch sein würde. Sie hatte erwartet, ein Tier zu entdecken, das sich leise Futter bei ihr stahl. Stattdessen sass auf dem Herd ein wildes Fellbündel, das panisch von links nach rechts rannte. Dabei stiess es mit seinen Pranken alles weg, was ihm in die Quere kam. Noch immer fielen Tassen auf den Boden. Das Tier war vollkommen ausser sich. Simba schrie in den höchsten Tönen. Sein Schwanz wedelte von links nach rechts. Je näher sie ihm kam, desto wütender wurden seine Schreie. Noch nie hatte sie derartige Laute gehört. Es war der Angstschrei eines wilden Tieres. Diese Laute gingen ihr unter die Haut. Er sass sprungbereit, seine Krallen waren ausgefahren. In seinen Augen sah sie die unsagbare Angst. Sie erkannte, dass dieses Tier wild war und sich von ihr bedroht fühlte. Noch war ihr nicht klar, wieso es nicht einfach durch die Katzentüre verschwinden würde wie in den letzten Nächten auch. Sie musste nahe zu ihm, denn die Katzentüre war nur zwei Meter von ihm entfernt. Sie musste ihn in Schach halten, denn Tiere in Not verhalten sich unberechenbar. Noch fehlten ihr etwa eineinhalb Meter. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sein Blick war starr auf ihre Füsse gerichtet. Sie trug keine Schuhe. Als sie bei der Ständerlampe vorbeiging, knipste sie das Licht ein. Ein blasser Lichtstrahl erhellte die Küche. Jetzt konnte sie ihn betrachten. Noch konnte sie das Tier nur wage erkennen, denn der blasse Lampenschein erhellte nur einen kleinen Teil der Küche. Ihre Augen erkannten lediglich eine Katze mit langem Haar. Auffallend war der buschige Schwanz, den er um seine Beine geschlungen hatte. Sie erkannte eine weisse Stirn, die sich vom Dunkel der Nacht abhob. Ihr Herz schlug höher, denn im ersten Moment dachte sie an Wulli, die ihr vor vielen Monaten entwichen war. Ob Wulli zu ihr zurückgekehrt war? Leise rief sie Wullis Namen, obwohl sie eigentlich genau wusste, dass diese Katze ihren Namen nach so vielen Monaten nicht mehr kennen würde. Sie war nicht sonderlich erstaunt, dass sich die Katze nicht bewegte. Sie sassen sich einige Momente still gegenüber und beobachteten sich. Tina hatte Angst weiterzugehen. Sie wusste nicht, ob die Katze sie angreifen oder weitertoben würde. Für einen Moment blieb auch Simba sitzen und sie konnte das Tier etwas genauer betrachten. Welch schöner Kater. Nun erkannte sie ihn. Ihn hatte sie vor vielen Monaten am Rheinufer gefüttert. Er hatte den Weg zu ihr gefunden.
Leise sprach sie zu ihm, wie sie es schon damals am Flussufer getan hatte. "Hab keine Angst, ich werde Dir gleich was zu Fressen geben. Auch werde ich Dir die Türe öffnen, damit Du wieder raus kannst." Für einen Moment hielt er inne. Diese Stimme kannte er. Alte Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Er hatte sie vor vielen Monaten schon einmal getroffen. Welch ein Zufall! Sie hatte ihn kurz nach seinem Ausbruch am Rheinufer gefüttert und mit ihm gesprochen. Sein Herz schlug höher. Nun freute er sich, dass er hier gelandet war. Hoffentlich wäre sie heute genau so nett zu ihm wie damals. Er konnte es kaum fassen, dass er ausgerechnet hierher gekommen war. Hatte ihn sein Schicksal zu Tina geführt? War es vorbestimmt, dass sich ihre Wege wieder kreuzen würden?
Sie wandte sich wieder von Simba ab. Sie wusste, dass Katzen es hassen, wenn man ihnen direkt und intensiv in die Augen schaut. Sie ging langsam zur Katzentüre und stellte den Schalter wieder um. Nun war der Weg für ihn frei. Ihr Blick war auf den Futternapf gerichtet, doch aus den Augenwinkeln sah sie die Katze noch immer.
Simba war hin- und hergerissen. Er war ruhiger geworden und schaute ihr zu, wie sie die fast leeren Schalen mit Futter füllte. Eigentlich hatte er Hunger und hätte sich gerne über die Futterschalen hergemacht. Doch seine Vorsicht war grösser. Er hatte die Frau zwar schon einmal getroffen, doch wusste er nicht, was sie mit ihm vorhatte. Wieso hatte sie ihn eingesperrt? Es vergingen einige Minuten, bis sie sich erhob. Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Blitzschnell jagte er an ihr vorbei durch die Katzentüre, hinaus ins Dunkel der Nacht.
Als Tina das Licht ausknipste und sich wieder ins Bett legte, hörte sie ein Klick-Klack. Sie wusste, dass Simba sich wieder hereingeschlichen hatte. "Lass es dir schmecken" waren ihre letzten Gedanken, bevor sie in den Träumen lag.
Von diesem Tag an rechnete Tina mit einem hungrigen Maul mehr. An warmen Sommernächten sass sie lange draussen und schaute dem nächtlichen Treiben zu. Sie entdeckte auch Simba regelmässig, der bei Einbruch der Dunkelheit zu ihnen kam. Manchmal drängte er sich zum Futternapf, der für die Igel bereitgestellt war. Doch dort sassen bereits die Stacheltiere an ihrem Mahl. Zwischen den stacheligen Köpfen gab es keinen Zugang zum Napf. Er konnte nur zuschauen, wie die Igel frassen.
Wenn er Tina entdeckte oder ihre Schritte hörte, rannte er zurück zur Hecke und duckte sich. Tina kam mit einer neuen Futterschale in der Hand auf ihn zu. Sie stellte ihm das Futter ans Ende des Sitzplatzes und ging zurück zu ihrem Schaukelstuhl. Es roch ganz lecker. Schritt für Schritt kam er aus der Hecke hervor. Dann stand er vor dem Abendmahl. Köstliches Fleisch war in der einen Schale und leckere Katzenmilch in der anderen. Sie beobachtete ihn aus sicherer Entfernung, wie er seinen Hunger und Durst stillte. Nun konnte sie ihn besser betrachten. Jetzt war sie sich absolut sicher: es war nicht ihre Wulli. Wulli war viel kleiner und hatte keine weissen Füsse. Hier handelte es sich um ein viel grösseres Tier, das allerdings sehr ausgehungert schien. Sie genoss es sichtlich, dass es dem Kater mundete. Er schmatze vor sich hin und schaute in regelmässigen Abständen zu Tina, die sich nicht bewegte. In seiner Art zu fressen lag Hektik und Angst, etwas das allen wilden Tieren eigen ist. Freilebende Tiere haben eine ganz spezielle Unruhe in sich. Sie sind stets wachsam und können ein solches Mahl nur bedingt geniessen. Ihre Augen sind überall und sie schauen sich immer wieder rechts und links um. Dies tat auch Simba und Tina ahnte da, dass es sich um eine wilde oder mindestens verwilderte Katze handelte. Als Simba den Napf geleert hatte, putzte er sein Schnäuzchen und zog sich zurück. Tina schaute ihm nach, wie er im Dickicht des Parkes verschwand.