Schöne wilde Chiara - Luskas Bücher

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Schöne wilde Chiara

Buch 3
Giulia war nicht die einzige Katze, die eine ungewollte Reise mit dem Lieferwagen machte. Es gab noch eine andere Katzendame, die wegen ihrer Neugier in ein Auto geklettert war und deswegen eine lange Reise hinter sich hatte. Emsys Wochensitz gehörte ja bekanntlich zu einem Paketdienst. Die Lieferwagen fuhren jeden Tag kreuz und quer durch die Schweiz. Wenn die Fahrer am Laden oder Entladen waren, blieb die Hecktüre für ein paar Momente offen. Für eine neugierige Katze war es ein Leichtes, mit einem Sprung in den Lieferwagen zu gelangen. So erging es auch Chiara, als sie eines Tages mit langgestrecktem Schwanz um die Ecke raste. Sie wurde von einem fetten Hund gejagt. Sie sprang, ohne sich genau umzusehen, mitten in einen Stapel Kartons. Bevor sie sich nach dem kläffenden Hund umschauen konnte, sah sie schon den Fahrer des Lieferwagens. Er schloss die Ladetür und Chiara war eingesperrt. Sie spürte, wie sich der Lieferwagen in Bewegung setzte. Es wurde eine lange Reise, denn der Fahrer hatte soeben seine letzte Ladestelle hinter sich. Er war auf dem Weg ins Depot, auf dem Weg zu Emsys Wochensitz.

Die Fahrt dauerte zwei Stunden und Chiara war es unheimlich. Nur wenig Licht drang ins Innere des Lieferwagens. Rechts uns links stapelten sich kleine und grosse Pakete. Wenn der Fahrer mit etwas Schwung um die Kurve fuhr, fielen sie im Innern des Wagens hin und her. Chiara legte sich auf eine Wolldecke, die im hintersten Teil des Wagens aufgestapelt war. Hier war sie in Sicherheit, denn die Pakete waren im vorderen Wagenteil verstreut. Für ihre Begriffe dauerte die Fahrt unendlich lang. Plötzlich hielt das Auto und sie hörte Schritte, die sich näherten. Der Fahrer öffnete die Hecktüre. Da er gleichzeitig mit seinem Arbeitskollegen redete, sah er die erschreckte Katze nicht, die mit einem grossen Satz von der Ladefläche sprang.

Dies war vor fast einem Jahr geschehen und Chiara hatte sich, wie Simba auch, erst am Rheinufer dann beim Reitstall aufgehalten. Nun war der Winter gekommen und der Hunger trieb die schöne Katze in ein neues Jagdrevier.

Auf einem seiner Streifzüge entdeckte Emsy die schöne Chiara. Sie lag zusammengerollt in einer riesengrossen Betonröhre direkt neben dem Feld, in dem er jeden Tag auf Beute ging. Er war schon oft in dieser Gegend gewesen. Sein täglicher Ausflug führte ihn regelmässig zu den hier deponierten Bauelementen. Er hatte schon selber in den aufgestapelten Röhren herumgeturnt, doch diese Katze hatte er bisher noch nie gesehen. Sie schien hier neu zu sein. Er betrachtete die schlafende Katzendame sehr genau. Sie war extrem hübsch, doch wie es schien auch todmüde. Obwohl er sehr nahe zu ihr hinging, bewegte sie sich kaum. Er konnte klar erkennen, dass Chiara eine Langhaarkatze war, denn ihr Schwanz war so buschig wie der eines Fuchses. Sie war am Rücken und Schwanz dunkelbraun getigert, nur das Kinn und die Bauchpartie waren ein paar Farbtöne heller. Auf der Stirn war das grosse M zu erkennen, das alle edlen Tigerkatzen tragen. Ihre Schnauzhaare waren weiss und extrem lang. Sie hatte sich stark eingerollt, damit sie trotz der eisigen Kälte etwas Wärme behalten konnte. Rings ums Gelände lag tiefer Schnee und Emsy sah, dass er Spuren im Schnee hinterlassen hatte.

Er ging ganz nahe zu ihr hin und schnupperte an Chiara. Nicht einmal sein warmer Atem konnte das schlafende Tier wecken. Mit einer seiner Pfoten berührte er sie. Jetzt wurde sie wach. Sie erschrak und sprang blitzschnell in die Höhe, als sie Emsy vor sich hocken sah. Dann fauchte sie ihn mit grimmiger Miene an. Doch Emsy liess sich nicht beirren. Es brauchte viel bis er vor einer anderen Katze davonlief. Hartnäckig blieb er sitzen und betrachtete die Neue von oben bis unten. Dann ging er wieder zurück auf sein Jagdfeld.

Wenige Minuten später stand auch schon Chiara bei ihm. Sie konnte nun nicht mehr einschlafen und war ihm gefolgt in der Hoffnung, dass sie mit Emsys Hilfe ein paar Mäuse erbeuten konnte. Sie hatte grossen Hunger, denn im Winter verkrochen sich die Mäuse in die tief gelegenen Höhlen und kamen nur selten an die Oberfläche. Für eine freilebende Katze war der Speiseplan im Winter sehr mager und Chiara ging oft mit leerem Bauch schlafen. Heute nun hatte sie aber Glück, denn Emsy war ein guter Mäusefänger. Es dauerte nicht lange, und er hielt eine zappelnde Maus in der Schnauze. Er war ein richtiger Kavalier, denn er übergab seinen Fang der neugewonnen Freundin. Diese dankte ihm mit Schnurren und verschlang das Graupelzchen im Nu.

Emsy und Chiara verabredeten sich für den kommenden Tag. Sie hatten erkannt, dass eine gemeinsame Jagd mehr Erfolg brachte. Als beide satt waren, verkroch sich Chiara in ihre Röhre und Emsy stiefelte den Hügel hinunter zu seinem Katzenhaus. Er schauderte beim Gedanken, dass Chiara zwar ein trockenes Bett, aber keinerlei Wände um sich herum hatte. Er hätte sie gerne zu sich ins Haus eingeladen, doch dafür war seine Villa schlicht und einfach zu klein. Es war tiefster Winter und das Thermometer zeigte in der Nacht bis zu 10 Grad unter Null. Emsy war froh, dass er eine trockene Villa hatte und bekam grosses Mitleid mit der armen Chiara.

Chiara hingegen war froh, dass sie überhaupt einen Unterschlupf gefunden hatte. Sie hatte sich nun seit fast einem Jahr ohne menschliche Hilfe durchgeschlagen. Die Erlebnisse machten sie unsagbar müde und sie fühlte sich je länger je mehr geschwächt. Manchmal ging es ihr so schlecht, dass sie gar nicht aus ihrer Röhre rauskroch. Stattdessen schlief sie den ganzen Tag. Es war Zeit, dass der Frühling einkehrte und Chiara sich ein neues Zuhause suchen konnte.

Als Tina an einem schönen Samstagnachmittag wie gewohnt ihren Streuner suchte, entdeckte sie ihn beim Vorbeifahren auf dem freien Feld hinter der Spedition. Dort hockte er bocksteif, den Blick nach unten gerichtet. Sein Körper war starr und angespannt, kein Härchen bewegte sich. Er schien eine Maus im Visier zu haben. Ihr Rufen überhörte er einfach, er war viel zu konzentriert. Tina hielt an und schaute ihm zu, wie er seinen Leckerbissen anpeilte. Mit einem Sprung sprang er auf die kleine Feldmaus und griff zu. Trotz seiner Grösse war Emsy sehr schnell. Es war nicht erstaunlich, dass er beim Hochkommen eine Maus im Maul hatte. Er schleuderte sie hoch in die Luft, um sie sofort wieder aufzunehmen. Das Spiel ging noch lange weiter und Tina hockte in ein paar Meter Entfernung auf einem Stein und schaute ihrem Kater beim bösen Spiel zu.

Da entdeckte sie in einer der gelagerten Betonröhren Chiara. Auch ihr Blick war auf Emsy gerichtet, denn sie wusste, dass er ihr seinen Fang überlassen würde. Sie wartete nur noch auf den Moment, in dem Emsy die Maus aufgab. Dann würde sie aufs Feld eilen und die Beute verschlingen. Tina betrachtete das wunderschöne Tier und ging zum Auto zurück. Dort hatte sie immer eine grosse Dose mit Katzenfutter. Sie nahm den Deckel weg und füllte eine Schale mit Trockenfutter. Diese stellte sie Chiara hin. Nachdem Chiara seit einem Jahr keinen Menschen mehr um sich gehabt hatte, war sie ängstlich geworden. Sie versteckte sich und wartete, bis Tina sich vom Futternapf entfernt hatte.
Dann schlich sie sich zur Futterstelle und begann zu fressen. Es war ein ungewöhnliches Mahl, denn seit Monaten lebte sie ausschliesslich von Beutetieren. Es erinnerte sie an alte Zeiten, als sie noch bei ihrer Familie wohnte. Ob die sie wohl suchten?

Tina setzte sich wieder auf den Stein und beobachtete das scheue Tier, das ausgehungert schien. Nachdem Chiara ihr Mahl beendet hatte, kroch sie wieder in eine der Röhren. Tina füllte den Napf wieder auf und verliess das Areal. Sie nahm Emsy mit, denn heute war ja Samstag und im Paketdienst war niemand anwesend.

Am nächsten Tag um die gleiche Zeit kam Tina wieder. Heute war sie nicht allein. Sie wurde von Marianne begleitet. Beide suchten mit den Augen das grosse Feld ab und entdeckten Chiara und Emsy auf der Pirsch. Diese sprang, als die Frauen sich ihr näherten, sofort in ihr Versteck zurück. Auch heute gab es Futter, denn Tina hatte wie gestern eine gefüllte Schale mit wohlig duftendem Trockenfutter dabei. Chiara fasste Mut und hockte sich an den Napf. Während sie frass, blieb Marianne ganz in ihrer Nähe. Sie sprach mit Chiara und ihre ruhige Stimme flösste der kleinen Langhaarkatze plötzlich keine Angst mehr ein. Marianne hatte ihr Vertrauen gewonnen. Sie streckte sogar ihre Hand gegen Chiara, doch diese Geste war zuviel. Chiara zeigte ihr die Zähne. Sie fauchte sie heftig an und Marianne wusste, dass die Katze schreckliche Angst hatte.

Trotzdem mussten sie Chiara überlisten, denn das Ziel dieses Ausflugs war es nämlich, die freilebende Chiara einzufangen. Dafür hatten sie einen Transportkorb mitgebracht. Chiara sollte den Winter in der warmen Auffangstation verbringen. Wenn alles klappt, könnte sie im Frühling in eine neue Familie umziehen. Marianne hatte Erfahrung beim Einfangen verwilderter Hauskatzen. Sie stellte den Leckerbissen ganz hinten in den Transportkorb und wartete, bis Chiaras Hunger grösser als ihre Vorsicht war. Es dauerte nur wenige Minuten und sie stieg in die Falle. Marianne verschloss blitzschnell die Türe. Chiara bekam eine Panikattacke. Sie fauchte wild und versuchte, sich aus dem Korb zu befreien. Ihr Getobe war ohne Erfolg, denn sie wurde ins Auto verfrachtet und der Korb mit einem Tuch bedeckt. Zuguterletzt sprang auch Emsy in den Wagen und legte sich neben die Kiste, in der Chiara gefangen war. Nun wurde die Schöne allmählich ruhiger. Wenn ihr Freund bei ihr war, war alles nur halb so wild. Sie liess es über sich ergehen, als man sie in die Auffangstation brachte.

Im Auffangraum sprang sie zuoberst auf den Schrank. Von dort konnte sie alles überschauen und ihr Liegeplatz war so hoch, dass man ihn ohne Leiter nicht erreichen konnte. Dort war sie vor den Menschen geschützt. Sie blieb die ganze Nacht da oben. Erst am nächsten Morgen kletterte sie zu den anderen Katzen hinunter. Sie hatte grossen Durst. Fressen konnte und wollte sie nicht. Sie fühlte sich krank.

Marianne und Tina hatten bemerkt, dass Chiara verletzt war. Sie hatte vor ein paar Wochen beim Ueberqueren der Strasse einen kleinen Autounfall. Dennoch hatte sie grosses Glück, denn sie verlor nur einen Teil ihres Fangzahnes. Es hätte wesentlich schlimmer ausgehen können, denn die Schnellstrasse war immer stark befahren. Noch immer hatte sie Zahnschmerzen und keine Lust zu fressen.

Die beiden Frauen machten sich auf die Suche nach Chiaras Besitzer. Sie inserierten die Fundkatze im Internet und informierten das Tierfundbüro. Es meldeten sich zahlreiche Personen, denn auf Chiaras Foto war klar zu erkennen, dass es sich um eine wunderschöne norwegische Waldkatze handelt. Dennoch blieb Chiaras Frauchen unauffindbar.

Ein paar Tage später brachte man Chiara zum Tierarzt. Dieser musste etwas gegen die Zahnschmerzen unternehmen. Er entfernte ihr unter Narkose den abgebrochenen Zahn und checkte das Tier von oben bis unten durch. Er schätzte Chiara auf sechs Jahre ein und stellte mit Genugtuung fest, dass sie sterilisiert war. Immerhin konnte man sicher sein, dass sie nicht trächtig war. Dennoch war sie vollkommen unterernährt. Sie war leicht wie eine Feder. Wahrscheinlich war sie extrem verwurmt, die Folge von einer monatelangen Mausjagd. Er verabreichte ihr eine Dosis Wurmmittel und schickte die Patientin nach Hause zu Marianne.

Chiara gewöhnte sich allmählich an ihr neues Zuhause. Sie wurde sogar zugänglicher und verliess schon in regelmässigen Abständen das Auffangzimmer. Sie gesellte sich zu den anderen Tieren und genoss es, warme Füsse zu haben. Sie bekam regelmässig Futter, von dem sie aber nur kleinste Portionen frass. Manchmal beobachtete sie die anderen Katzen, die sich von Marianne kämmen, streicheln und liebkosen liessen. Wie gern wäre sie an deren Stelle auf Mariannes Schoss gelegen, doch ihre Angst war noch immer zu gross. Sie sah dem Geschehen aus einiger Entfernung zu und schnurrte alleine vor sich hin.

Es waren noch keine drei Wochen vergangen, da wurde Chiara immer schwächer. Sie konnte nicht mehr fressen und fühlte sich krank. Sie verliess ihr Zimmer kaum noch und lag den ganzen Tag in ihrem Korb. Wenn Marianne nach ihr schaute, lag sie fast unbewegt da. Mitten in der Nacht stand Marianne auf, um nach Chiara zu schauen. Sie hatte sich erbrochen. Die Wurmtabletten hatten gewirkt und Chiara schied eine grosse Anzahl Spulwürmer aus. Auch zwei Stunden später ging es der schönen Katze nicht besser. Sie brach immer wieder Würmer. Ihr Körper schied die Plaggeister allmählich aus.

Als Marianne ein paar Stunden später ins Zimmer kam, lag Chiara noch immer am Boden. Erstaunlicherweise liess sie sich jetzt ohne Gegenwehr auf den Arm nehmen und streicheln. Chiara schnurrte und schien glücklich zu sein, doch Marianne fand das sehr eigenartig. Ihre plötzliche Zuneigung machte sie sehr stutzig. Bisher kannte sie die Langhaarige nur als scheues und verängstigtes Tier. Ihr Verhalten war sehr komisch. Sie sass lange am Boden und streichelte Chiara, der es elend ging. Man sah der kleinen Katze an, dass sie sehr krank war. Nun brach sie zwar keine Würmer mehr, dafür ging ihr Puls schnell und flach. Sie schaute zu Marianne hoch mit einem Blick, der mehr aussagte als Tausend Worte. Sie dankte der Frau, die sich in den letzten Wochen um sie gekümmert hatte. Ihre Zunge berührte sanft die Hand, die sie noch immer streichelte. Chiara versuchte mit letzter Kraft, ihr Frauchen zu liebkosen. Marianne war eine sehr erfahrene Tierhalterin und hatte jahrelange Berufspraxis als Tierarzthelferin. Sie wusste, dass der Zustand der schönen Katze sehr kritisch war. Der flache Puls war ein Zeichen dafür, dass es mit Chiara zu Ende ging. Ihre Organe hatten versagt, die Würmer hatten sie zerstört und über das Leben der Schönen gesiegt.

Noch immer lag sie in Mariannes Armen und schnurrte als wolle sie sich dafür bedanken, dass sie ihr geholfen hatte. Beide wussten, dass nichts aus dem neuen Heim würde, das für sie geplant war. Chiara verstarb nur wenige Minuten später noch immer schnurrend in den Armen von Marianne. Ihr Körper hatte den Kampf aufgegeben und ihr Schnurren war verstummt. Als Chiara auf dem Weg in den Katzenhimmel war, blickte sie noch einmal zurück. Sie schaute auf Marianne hinunter und weinte leise. Wie gerne wäre sie bei ihr geblieben. Ihre Tränen tropften sanft auf die Erde hinunter. Als Marianne sich erhob, bemerkte sie, dass es auch draussen tropfte. Sie sah den feinen Regen, der sanft vom Himmel fiel.
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