Ein fataler Fehler
Buch 5
Ein fataler Fehler
Sie war die Schönste, und das wussten alle. Und diese Tatsache war sogar in einer Urkunde eingetragen. "Snowbell della Luna von Inch Allah's" war ihr richtiger Name. Der war ihr jedoch viel zu lange, und sie nannte sich schlicht und einfach Snowbell. Sie war blendend weiss und trug eine dunkle Gesichtsmaske. In Züchterkreisen wurde die Zeichnung der schönen Heiligen Birma "chocolate-point" genannt. Ihr Fell war weich wie Watte und hüllte ihre schlanke Figur in Flaum ein. Aus ihrer dunklen Maske schauten zwei kristallblaue Augen hervor, typisch für Heilige Birmas.
Sie durfte ihren Menschen auf Katzenausstellungen begleiten. Manchmal war das allerdings recht langweilig. Den ganzen Tag musste sie in einem Ausstellungsgitter sitzen und sich von den Besuchern anstarren lassen. Meistens legte sie sich auf ihr blaues Kissen und schlummerte vor sich hin. Mehrmals am Tag musste sie dann zur Jury. Dort wurde sie abgetastet, gestreichelt, hochgehoben und begutachtet. Sie zerrten an ihrem Schwanz herum und schauten ihr ins Maul. Alle fanden sie bezaubernd. Da konnte man nach Fehlern suchen, wie man wollte. Es gab einfach keine. Die Natur hatte es wirklich gut mit ihr gemeint und ihr ein perfektes Aussehen geschenkt. Sie erhielt mehrere Preise und durfte sich fortan Champion nennen. Es gab auch Tage, an denen sie die allerbeste ihrer Klasse war. Dann trug sie am Abend einen Pokal und eine Urkunde nach Hause und trug ihren Schwanz voller Stolz noch viel buschiger.
Daheim war sie keineswegs ein Champion. Wenn sie mit den anderen Katzen zusammen war, vergass sie den Ausstellungsstress. Dann war sie einfach eine liebe, verschmuste Katze, die gerne spielte.
Zwei Mal bekam sie Nachwuchs. Ihre Babies, Jaicka, Jamiro, wie auch Kyra und Kito waren genau so schön wie die Mutter. Jaicka, die ebenso weisse Tochter, durfte bei ihr bleiben. Die anderen Babies wurden, als sie alt genug waren, in andere Familie platziert. Sie hatte ein schönes Leben, denn daheim durfte sie mit vielen anderen Katzen zusammen sein. Jetzt, wo sie Babies hatte, musste sie nicht mehr an Ausstellungen gehen. Solange sie ja noch säugte, wurde sie nicht zur Wertung zugelassen. Jetzt durfte sie aus der Ferne beobachten, wie ihre Kinder bewertet wurden.
Als auch Jaicka gross genug war und nicht mehr ständig am Schwanz der Mutter hing, erwachte in ihr die Abenteuerlust. Bei ihr daheim gab es einen grossen, jedoch ausbruchsicheren Laufkäfig im Garten. Dort verbrachte sie die warmen Frühlingstage, immer mit Blick nach draussen, wo die Vögel ihre Frühlingskonzerte abhielten. Wie gerne wäre sie doch einmal durch den Garten geschlendert und hätte ihre Nase in die Blumen gestreckt. Sie sass im Freigehege und sehnte sich danach, durch das üppige Gras zu schlendern und sich die ersten Sonnenstrahlen auf den Pelz scheinen zu lassen.
Eines Tages, als ihr Herrchen einen Moment nicht aufpasste, entwischte sie ihm. Sie rannte davon, hinein in die grüne Wiese, die sie seit Wochen inspiziert hatte. Er sah nur noch ihren dunklen Schwanz, der aus der hoch stehenden Magerwiese herausschaute. "Ups", dachte er "hoffentlich kommt die Schöne wieder". Er liess deshalb die Türe einen Spalt offen und war sich sicher, dass sie nach ihrem Ausgang den Weg nach Hause wieder finden würde.
Am Abend kehrte sie nicht zurück, ebenso blieb es am darauf folgenden Tag. Allmählich wurden die Besitzer unruhig. Wo war Snowbell geblieben? Nach einer Woche setzten sie eine Suchmeldung auf und informierten die Polizei. Bestimmt würden sie ihre Katze wieder finden, denn sie war ja mit einem Microchip versehen und registriert. Sie waren sich sicher, dass dies nur ein kurzer Albtraum sei und dass Snowbell schon bald wieder daheim sein würde.
Die Wochen und Monate vergingen. Snowbell tauchte nicht mehr auf. Die Familie musste mit der schrecklichen Erkenntnis leben, dass sie Snowbell verloren hatten.
50 Kilometer weiter sass eine schneeweisse Katze im Feld und schnappte sich eine Feldmaus, die unvorsichtig war. Ihre Füsse waren leicht geschwollen, denn ihre zarten Zehen waren sich nicht gewohnt, einen so langen Spaziergang zu machen. Zudem war sie keine gute Jägerin und unter ihrem flauschigen Fell sah man nur noch Haut und Knochen. Sie war am Verhungern.
Da erinnerte sie sich daran, dass die Menschen ihr bisher immer geholfen hatten. Sie setzte sich vor eine Tür und stimmte in einen jämmerlichen Gesang ein. Am ersten Haus hatte sie damit keinen Erfolg. Statt einem Happen Futter erntete sie einen Kessel Wasser. Sie schlich weiter, von Haus zu Haus. Irgendwo würde sie bestimmt einen Menschen finden, der ihr etwas Futter spendierte. Es dauerte aber noch Tage, bis Snowbell endlich fündig wurde.
Jens sass im Garten vor seiner Wohnung und döste vor sich hin. Er genoss die ersten Sonnenstrahlen und den freien Sonntag. Snowbell nahm allen Mut zusammen und sprang neben ihn auf die Gartenbank. Als er aus seinem Halbschlaf erwachte, schaute er direkt in die strahlend blauen Augen der weissen Katze. Er war kein Katzenkenner und wusste nicht, dass es auch Katzen mit blauen Augen gab. Er starrte die Kleine an und war vollkommen irritiert von ihrem Blick. Sie legte ihre Pfote auf seine Schenkel und blickte flehend zu ihm hoch. Als er sie zaghaft streichelte, wusste er, was sie ihm sagen wollte. Er spürte jeden Knochen unter ihrer Haut und wusste, dass die Katze Hunger hatte. Jens war ein guter Mensch, vielleicht etwas unbeholfen im Umgang mit Tieren, aber jederzeit bereit zu helfen. Er ging in die Küche und schaute in den Eisschrank. Der war, wie so oft, fast leer. Er war kein guter Koch, ging sowieso meistens in der Kantine essen. Doch heute wäre er froh gewesen, mindestens etwas Wurst daheim zu haben. Er nahm ein Stück Brot und teilte es in kleine Stücke. Dann goss er Milch darüber und setzte diese "Bröckeli" der Katze vor. Welch herrliche Mahlzeit! Snowbell putzte den Teller innert Sekunden leer. Dann schaute sie wieder zu ihm hoch. "Noch mehr?" Jens füllte die Schale erneut und war froh, dass er der weissen Katze fürs Erste helfen konnte.
Aus dieser Begegnung wurde eine innige Freundschaft. Snowbell blieb bei Jens, und seither war auch sein Eisschrank wieder gefüllt. Er war ihr ein guter Mensch und umsorgte sie wirklich fürsorglich. Ein paar Wochen später war es wieder einmal so weit. Snowbell wurde unruhig. Ihre Hormone spielten verrückt. Sie war auf der Suche nach einem Partner. Ihre Rolligkeit war kaum mehr zu übersehen. Sie wälzte sich vor Jens und schrie Tag und Nacht. Jens wusste nicht, was mit der Katze los war. War sie wohl krank? Er brachte sie zum Tierarzt. Dieser untersuchte sie kurz und bestätigte Jens, dass die Katze wohl nur rollig, ansonsten gesund sei. Das würde wieder vorübergehen. Er solle sie einfach im Hause behalten, nicht dass sie noch Nachwuchs bekäme. Und niemand ahnte, dass der Tierarzt etwas vergessen hatte.
Gesagt, getan! Snowbell musste das Haus hüten. Nach ein paar Tagen war sie wieder die Alte. Der Sommer ging vorbei und der erste Schnee bedeckte den Boden. Noch immer lebte Snowbell bei ihrem neuen Freund und war ihm eine gute Gefährtin an kalten Winterabenden. Dann lagen sie, dicht aneinander geschmiegt, auf dem Sofa und genossen die Zweisamkeit. Nie hätte Jens gedacht, dass er eine Katze haben würde. Nein, eine solche Abhängigkeit wollte er eigentlich nicht haben. Im letzten Jahre hatte er genug Probleme gehabt und wollte sich nicht noch neue ins Haus holen. Doch den blauen Augen konnte er einfach nicht widerstehen.
Als die ersten Frühlingsboten aus dem Boden schossen, kam auch Snowbells Rolligkeit zurück. Der Katzenjammer ging von vorne los. Doch dieses Mal nützte auch Einsperren nichts. Kaum war die erste Hitze in der kleinen Katze verschwunden, kam bereits der nächste Schub. Sie war nicht mehr die Gleiche, unausstehlich und laut. Jens konnte nachts nicht mehr schlafen, denn die Weisse schrie aus Leibeskräften. Vor der Wohnung versammelten sich bereits sämtliche Kater der Region und stimmten ein Lied an. Es war eine fürchterliche Zeit für das Duo. Jens war am Ende. Er musste eine Entscheidung treffen, auch wenn ihm das sehr schwer fiel. Irgendwann musste er ja wieder schlafen können.
Er brachte seine schöne Freundin zu seiner Mutter, die eine Stunde entfernt wohnte. Sie hatte mehr Erfahrung mit Katzen und würde bestimmt eine Lösung finden. Mit einem schlechten Gewissen verabschiedete er sich von der Katze, die ihm die letzten Monate versüsst hatte und ihm eine liebe Freundin gewesen war.
Mama Beate nahm das Tier in die Arme. Sie wusste, dass die Katze ihrem Sohn über die letzten schweren Monate hinweg geholfen hatte. Nun würde sie dem Tier helfen. Snowbell durfte bei Beate bleiben. Bald erkannte die Frau, dass die Weisse einfach nur rollig war. Sie ging zum Tierarzt, der in der Nachbarschaft seine Praxis hatte, und holte die Pille für die Katze. Diese würde sie der Weissen vorerst mal geben. Eine Dauerlösung war das aber nicht, das wusste Beate. Sie hatte schon davon gehört, dass diese Hormonpräparate auch Schaden zufügen konnten. Doch für den Moment müsse sie damit klar kommen.
Snowbell war auf der einen Seite traurig, dass Jens sie verlassen hatte, auf der anderen Seite aber froh, dass ihre Rolligkeit nachgelassen hatte. Auch für sie war ihre Unruhe unangenehm gewesen. Mit Beate verstand sie sich recht gut, auch wenn zwischen ihnen nicht die gleiche Bindung entstand wie zwischen Jens und ihr. Immerhin bekam sie regelmässig Futter und ab und zu ein paar Streicheleinheiten. Beate war eine sehr aktive Frau und abends nur selten daheim. Dann lag Snowbell auf dem Sofa und schlief. Sie ging nur selten nach draussen. Von Monat zu Monat wurde sie trauriger. Plötzlich sehnte sie sich danach, wieder daheim, bei ihren Freundinnen und ihrer Tochter Jaicka zu sein. Was hatte sie nur gemacht? Wieso war sie denn weggelaufen? Wo war sie denn nur?
Wenige Tage später stellte Beate eine Transportkiste hin, die sie sich von Nachbarn ausgeliehen hatte. Die Pille war keine Lösung. Deshalb hatte sie Snowbell zur Sterilisation angemeldet. Sie wurde ins Auto verfrachtet und in die Praxis gebracht.
Wie erstaunt war aber die Tierarzthelferin, als sie die Katze sah. Sie hatte bereits von der Geschichte erfahren, wie Snowbell bei Jens im Garten stand und nun bei Beate Unterschlupf gefunden hatte. Und diese Katze soll eine wilde Katze gewesen sein? Nein, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Eine so schöne Katze hatte sie ja noch gar nie gesehen. Die stahlblauen Augen der Birmakatze schauten sie fragend an. Im ersten Moment wusste die Praxisassistentin gar nicht, was sie tun sollte. Es wäre nun an der Zeit gewesen, die Katze für die Operation vorzubereiten. Doch irgendwas stimmte da nicht. Sie hatte ein ganz eigenartiges Gefühl in der Magengegend. Noch einmal schaute sie die Suchmeldungen der letzten 12 Monate im Computer durch. Nein, in ihrer Gegend wurde keine weisse Katze gesucht. Wie konnte das nur sein, dass niemand ein so edles Tier vermisste?
Ihr Chef schaute bereits ungeduldig. Es standen heute einige Operationen an und er wusste nicht, was seine Helferin von den Vorbereitungen abhielt. Da kam ihr die rettende Idee. Sie nahm ein kleines Gerät aus der Schublade und schaltete es ein. Mit dem Ding, das einer Lampe ähnelte, glitt sie der Katze über die Schulter. Ein kleines Licht blitzte auf und die Nummer "756097200041501" erschien auf dem Display. Sie konnte kaum fassen, was sie da sah. Die Katze war mit einem Chip versehen und niemand hatte es gemerkt. Der Tierarzt, den Jens damals konsultiert hatte, musste einen fatalen Fehler gemacht haben. Er hätte bereits merken müssen, dass die Katze gekennzeichnet war. Sofort nahm sie Kontakt mit der Meldestelle auf. Sie wollte wissen, wem die Katze gehörte.
18 Monate nach dem Verschwinden der schönen Snowbell erhielt Tamara einen Anruf. Ihre Katze war 150 km entfernt aufgetaucht, wohlauf und unversehrt. Sie stand wie erstarrt im Flur, noch immer den Hörer in der Hand. Nein, so etwas konnte doch gar nicht sein. Sie setzte sich sofort ins Auto und fuhr gegen Norden. Mit jedem Kilometer, den sie hinter sich brachte, dachte sie darüber nach, wie weit doch ihre Katze gelaufen war. Und nun dürfe sie das Tier endlich wieder nach Hause holen.
Das Wiedersehen war filmreif. Als Tamara die Weisse sah, wie sie verloren im Behandlungszimmer sass, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schloss ihr Schätzchen in die Arme und drückte es fest an ihre Brust. Snowbell wurde mit Küssen übersäht. Sie erkannte ihr Frauchen sofort wieder und war einfach nur glücklich, dass ihre lange Reise endlich vorbei war. Bald würde sie wieder mit ihrer Tochter vereint sein. Und eines war sicher. Nie mehr würde sie davon laufen. Die letzten eineinhalb Jahre waren ihr eine Lehre gewesen. Von jetzt an würde sie wieder eine folgsame Katze sein.
Wenige Monate später, als Snowbell die Spuren der langen Reise abgelegt hatte und ihr Fell wieder prachtvoll und strahlend weiss geworden war, durften sie und ihre Tochter an einer Ausstellung teilnehmen. Was ihr früher langweilig vorkam, fand sie heute wunderschön und interessant. An diesem Tag erhielt sie den Preis für die schönste Katze ihrer Art. Ausschlaggebend waren ihr wunderschönes Fell und das weisseste Weiss. Sie war stolz wie noch nie. Wenn die Richter gewusst hätten, dass sie die letzten eineinhalb Jahre in der freien Natur gelebt und alles andere als ein weisses Fell gehabt hatte. Sie lächelte still, als man ihr einen Pokal und eine Urkunde überreichte. Manchmal ist das Leben halt schon verrückt.