Kiki und das Liebesleben
Buch 7
Kiki und das Liebesleben
Wuschel war erwachsen geworden. In ihm war eine Unruhe entflammt, die er vorher nicht gekannt hatte. Seine Liebe zu Kiki war erwacht. Kiki glich Giny aufs Haar. Sie war eine junge Langhaarkatze, die seit ein paar Monaten bei Tina lebte. Sie war kaum älter als Wuschel und vom Charakter her viel scheuer. Im Vergleich zu Wuschel war sie ein zierlich kleines Kätzchen. Auch Kiki verbrachte viel Zeit in den Reben oberhalb des Hauses, kam aber jeden Abend nach Hause. Als sie aber rollig wurde, veränderte sich ihr ganzes Leben. Von der Glut in ihrem Körper getrieben, zog es sie davon. Sie lief in den Wald, und Wuschel folgte ihr. Sie war wie eine Sirene, für Wuschel einfach unwiderstehlich. Egal wohin sie ging, Wuschel war dicht hinter ihr. Sie war so schön und duftete so gut nach Wollust, er musste sie haben.
Sie verbrachten eine schöne Liebeswoche, wechselten von einem Ort zum anderen. Die meiste Zeit hielten sie sich in den Reben oder im Wald auf. Auch als Kikis Hitze erlosch, blieb Wuschel bei ihr. Sie zogen zusammen durch die Felder und ernährten sich von Mäusen. Er hatte von Simba gelernt, wie man ohne Mensch auskommt. Und er war ein sehr guter Jäger geworden. Er konnte genügend Nahrung beschaffen, damit auch Kiki satt wurde.
Als Wuschel nicht mehr nach Hause kam, machte sich Tina Sorgen. In der ersten Zeit war sie überzeugt, dass er einfach einen längeren Ausflug gemacht hatte. Doch mit den Tagen und Wochen musste sie einsehen, dass er definitiv weg war. Trauer überfiel das Katzenhaus, in dem Giny und Merlin noch immer lebten. Auch Kiki blieb verschwunden. Tina setzte alle Hebel in Bewegung, um ihren schönen Wuschel zu finden. Sie platzierte Inserate in den gängigen Suchbörsen im Internet, informierte den Tierarzt und das Tierfundbüro. Leider blieben alle Suchbemühungen erfolglos. Wuschel war verschwunden. Die einzige Hoffnung bestand darin, dass Wuschel einen implantierten Chip trug, mit dem er jederzeit identifiziert werden konnte. Doch dafür musste man ihn zum Tierarzt bringen, damit dieser den Chip ablesen konnte. Und Tina wusste, dass in diesem kleinen Dorf viele gar nicht wussten, dass man Tiere mit einem Chip versehen konnte. Sie gab nicht auf. Sie spürte, dass Wuschel noch irgendwo war. Hätte er einen Unfall gehabt, hätte man sie informiert. Durch den Chip hätte man feststellen können, wer der Besitzer ist. Ihre Trauer war nicht zu übersehen. Sie hatte ihren schönen Kater verloren und wusste nicht, was mit ihm passiert war. Sie tröstete sich damit, dass sie daran glaubte, dass er irgendwo lebte und es ihm gut ging. Sie gab nicht auf. Irgendwann würde sie ihn finden.
Wuschel wusste nichts von Tinas Sorgen. Er war mit Kiki glücklich und zog mit ihr davon über Felder und Hügel. Sie entfernten sich jeden Tag etwas weiter von Tinas Haus, doch das störte sie nicht. Sie waren glücklich und vermissten nichts und niemanden. Eines Tages mussten sie auf ihrem Weg inne halten. Kiki hatte Schmerzen. Sie wusste nicht, was mit ihr passiert war. Seit einigen Wochen spürte sie, wie sich etwas in ihr bewegte. Und nun würde sie erfahren, was das war. Sie legte sich mit Wuschel unter einen Baum. Er konnte ihr nicht helfen, spürte aber, dass Kiki grosse Schmerzen hatte. Er wachte über sie und schaute, dass sich niemand näherte. Irgend etwas stimmte nicht mit seiner Geliebten. Kiki jammerte und bog sich. Dann gebar sie nach einer Stunde zwei Katzenbabies. Wuschel staunte nicht schlecht, als er die beiden quietschenden Kätzchen sah. Sie waren kerngesund und suchten bereits die Zitzen der Mutter. Die Augen waren geschlossen, die Oehrchen ganz dicht am Kopf angelegt. Sie sahen aus wie kleine Mäuschen, die sich am Fell der Mutter hochzogen. Kiki hatte sie trocken geleckt und half ihnen, die Zitzen zu finden. Sie mussten von ihrer Milch trinken, damit sie die ersten Abwehrstoffe bekamen.
Es waren sehr schöne Kätzchen und Wuschel konnte die Augen nicht von ihnen lassen. Seine Kinder! Beide waren grau, eines heller und eines dunkler. Sie sahen aus wie ihre schöne Mutter, waren aber noch sehr winzig. Wuschel war stolz wie ein Pfau. Er war Vater geworden. Hier konnten sie aber nicht bleiben. Unter diesem Baum waren sie vollkommen ungeschützt. Er liess Kiki und die Kinder zurück und suchte im Wald nach einem Unterschlupf. Es gab zwar viele Bäume und Büsche, aber nirgendwo eine Höhle, wo sie vor Feinden und schlechtem Wetter geschützt waren. Dann entdeckte er etwas entfernt einen Bauernhof mit einem leerstehenden Nebenhaus. Vermutlich war schon seit Monaten niemand mehr hier gewesen. Ueberall hatten die Spinnen ihre Netze gezogen. Obwohl der Schuppen auf einer Seite offen war, bot er einen guten Schutz. Er war recht gross und tief und an vielen Stellen von aussen gar nicht einsehbar, das ideale Versteck. Vor vielen Jahren, als der Rebbetrieb eingestellt wurde, hatte man hier alte landwirtschaftliche Maschinen und Utensilien, die man für den Rebbau brauchte, abestellt. Alles lag kreuz und quer, war zum Teil verrostet oder vermodert. Unter anderem gab es ganz hinten im Gebäude ein leeres Fass, in dem früher Wein lagerte. Dieses wurde irgendwann aufgeschnitten und zu einem Barhocker umgebaut. Nun lag es hinten im Schuppen, genau das Richtige für Wuschel und seine Familie. Er inspizierte den ganzen Schuppen. Eigentlich war er ideal. Er lief zurück zu Kiki. Sie lag noch immer unter dem Baum und schaute Wuschel fragend an. Hoffentlich hatte er etwas gefunden, wo sie die nächsten Wochen verbringen konnten. Sie war überglücklich, als er ihr vom Rebberg und dem leerstehenden Schuppen erzählte. Sie nahmen die Kleinen hoch und trugen sie in ihr neues Versteck. Die beiden Katzen trugen ihre Babies im Mund. Sie baumelten wie eine Maus unter dem Kopf der Eltern. Dabei zogen sie ihre Beinchen ganz nah den Körper, ein lustiges Bild. Auch wenn die Kleinen noch wirklich winzig waren, mussten die Eltern aufpassen, dass sie nirgends anstiessen. Es war ein anstrengender Weg. Kiki war vollkommen erschöpft. Erst die Geburt und nun der lange Weg in ihren neuen Unterschlupf. Trotzdem war sie Wuschel dankbar, dass er nicht aufgegeben hatte und sie nun ein Nest hatte für sich und ihre Kinder. Sie legte sich in das leere Fass und drückte die Kleinen fest an sich. Wuschel hockte sich davor. Als Kiki einschlief, blieb er sitzen. Auch er war müde geworden. Doch nun musste er seine Familie bewachen. Er konnte die Augen kaum mehr von Kiki und den Kleinen lassen. Es war wie ein Wunder. Wie schön seine Kinder doch waren. Nun hatte er Verantwortung für Kiki und den gemeinsamen Nachwuchs. Wuschel war erwachsen geworden.
Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg, um Futter zu suchen. Hier war der Rebbetrieb schon vor Jahren eingestellt worden und die Felder lagen brach. In diesen Feldern tummelten sich viele Mäuse und andere Tiere. Für Wuschel war es nicht schwierig, Nahrung zu besorgen. Er brachte regelmässig Mäuse nach Hause. Kiki umsorgte die Kleinen, säugte und säuberte sie. Sie verhielt sich allerdings wie eine Wildkatze, war äusserst vorsichtig und schützte ihren Nachwuchs. Sie fuhr ihre Krallen aus und knurrte, wenn sie Geräusche hörte, die sie nicht kannte. Es war nicht zu übersehen, dass sie langsam verwilderte. Sie war dem Menschen zu lange fern geblieben, hatte vergessen, dass es auch gute Menschen gab. Kiki wusste nicht mehr, wie schön es doch war, gestreichelt zu werden. Sie liess sich ausser von Wuschel von niemandem mehr anfassen und fauchte jeden an, der ihr zu nahe kam. Meistens rannte sie davon, wenn sich jemand ihr näherte. Besonders jetzt, wo sie Nachwuchs hatte, verkroch sie sich den ganzen Tag. Nur nachts kam sie manchmal aus ihrer Höhle heraus. Mit ihren wachsamen Augen konnte sie alles sehen und war durch ihr dunkelgraues Fell und die Dunkelheit der Nacht geschützt.
Für Wuschel war es schwierig geworden. Er liebte die Menschen und mochte es, wenn man ihn streichelte. Manchmal konnte er Kiki nicht verstehen. Wieso versteckte sie sich? Auch wenn der Rebberg nicht mehr bewirtschaftet wurde, war er für Spaziergänger ein geeigneter Erholungsort. Der zum Teil leerstehende Hof stand am höchsten Punkt des Dorfes. Von hier konnte man die ganze Gegend überblicken. Oft kamen Wanderer vorbei um die Aussicht zu geniessen. Von hier konnte man die Hügel der ganzen Umgebung betrachten. Wenn Wuschel einem Kind oder einem Spaziergänger begegnete, ging er zu ihm hin und strich um seine Beine. Oft wurde er gestreichelt, auch wenn sich die Leute wunderten, was dieser grosse Kater hier wohl verloren hatte. Es gab hier kein Wohnhaus und keinen Landwirtschaftsbetrieb mehr. Trotzdem lebte da ein sehr zutrauliches Tier. Niemand ahnte, dass Wuschel hier seine kleine Familie hatte, weit entfernt von der Zivilisation.
Wuschel und Kiki verbrachten hier eine schöne Zeit. Die Kleinen wuchsen heran und wurden von Tag zu Tag schöner. Sie lernten von ihren Eltern, was es heisst, eine kleine Wildkatze zu sein. Sie tobten herum und spielten den ganzen Tag. Der Schuppen war ideal dazu. Es gab so viele Spiel- und Versteckmöglichkeiten. Schon bald durften sie mit Wuschel und Kiki durch die Felder schweifen. Die Kleinen folgten ihren Eltern auf Schritt und Tritt. Meistens waren sie nachts unterwegs, geschützt durch die Dunkelheit. Am Tag, wenn die Sonne heiss auf sie runter brannte, legten sie sich in ihr Fass und schliefen. Kiki war froh, wenn sie niemandem begegnen musste.
Für Wuschel war das anders. Er liebte die Wanderer, die sich hierher verirrten. Sie erinnerten ihn an das Leben bei Tina. Sie hatte ihn sehr lieb gehabt und hatte ihn stundenlang gestreichelt. Oft lag er auf ihrem Schoss, wenn sie einen Film sah. Er liebte ihren Geruch und ihre Nähe. Sie sorgte so gut für ihn. Manchmal bereute er, dass er sie verlassen hatte. Doch nun war es zu spät. Sein Weg hatte ihn sehr weit weg von seinem Zuhause geführt. Nun erfreute er sich an den Leuten, die hierher kamen. Mit den Spaziergängern kam eines Tages auch eine Tricolor-Katze. Sie war bei weitem nicht so schön und gepflegt wie Kiki, dafür aber liebesbereit. Wuschel konnte nicht widerstehen. Er lief ihr nach, wie er es damals mit Kiki gemacht hatte. Sie war so anziehend und heiss. Er liess Kiki eine ganze Woche allein, zog mit der Tricolor durch die Gegend und verführte sie. Irgendwann war es dann vorbei. Die Tricolor ging weiter und liess Wuschel stehen.
Er ging zurück zu seiner Familie. Als er beim Schuppen ankam, fauchte ihn Kiki an. Er roch nach fremder Katze, nach Rivalin. Sie wusste, dass er sie betrogen hatte und war in ihrem Stolz verletzt. Sie liess ihn nicht mehr in ihre Nähe, schob die Kleinen unter ihren Pelz. Wenn sich Wuschel näherte, fuhr sie ihre Krallen aus. Alle Versuche scheiterten. Kiki liess sich nicht mehr beruhigen und trieb ihn weg. Er hatte sie betrogen und verraten, war für die Kleinen kein gutes Vorbild mehr. Sie wollte nicht mehr mit ihm leben. Alles Betteln und Erklären nützte nichts. Kiki blieb hart. Wuschel musste nach ein paar Tagen einsehen, dass er mit seiner Dummheit alles verloren hatte. Mit eingezogenem Schwanz und hängenden Ohren verliess er Kiki und seine Kinder. Er schaute noch einmal zurück auf seine Schätzchen. Dann schlich er davon, hinein in den Wald, aus dem er später nicht mehr herausfand. Er lief tagelang, legte Kilometer um Kilometer zurück. Alles sah gleich aus. Bald wusste er nicht mehr, aus welcher Richtung er gekommen war. Er war gefangen im dunklen Wald. Erst Wochen später fand er endlich den Weg hinaus.
Nun lag er bei Nela im Waschhaus und war froh, dass er mindestens einen warmen Unterschlupf hatte. Er dachte an Kiki und seine Kinder und hoffte sehr, dass es ihnen gut ging und dass auch sie an einem warmen Ort untergekommen waren.