Die goldene Nuss - Luskas Bücher

Direkt zum Seiteninhalt

Die goldene Nuss

Buch 8

Zurück im Norden
 
An einem schönen Frühlingsmorgen verdunkelte sich der Himmel. Wohin man schaute sah man grosse kräftige schwarz-weisse Flügel, die sich in der aufgehenden Sonne auf und ab bewegten. Die Störche waren aus dem Süden zurückgekehrt. Sie hatten eine anstrengende und lange Reise hinter sich und suchten hier im Norden einen Platz, wo sie den Sommer verbringen können. Nicht alle hatten diesen Höllentrip überstanden, manche von ihnen mussten unterwegs aufgeben.

Für Adebar war es die erste Reise in den Süden gewesen. Er war im Herbst mit seinen Eltern mitgeflogen. Jetzt im Frühling hatten sie den Weg nach Hause angetreten. Es war eine sehr, sehr lange Reise durch Kaltzonen und wärmere Gebiete. Sie hatten verschiedene Länder überquert und auch ein Meer, das unendlich schien. Unter sich hatten sie die Berge gesehen, die hoch zum Himmel hinauf ragten und auch um diese Jahreszeit noch mit Schnee bedeckt waren. Nun waren sie kurz vor dem Ziel, an dem Ort, wo Adebar zur Welt kam. Wie alle Störche kehrten sie dorthin zurück, wo ihr Leben begonnen hatte. Sie hatten das grosse Glück, dass es in diesem kleinen Dorf noch Tradition war, dass man den Störchen Nester bereit stellte und diese hegte und pflegte. Es gab sie überall auf den Dächern. Die Dorfbewohner hatten sich versammelt und auf die Rückkehr der Tiere gewartet. Nun waren sie endlich da. Sie zogen am Himmel noch ihre Bahnen und suchten ihren Horst, wo sie sich niederlassen konnten. Auch Adebars Eltern spähten nach dem Kirchturm nahe des Flusses, wo sie schon letztes Jahr ihre Kinder geboren und aufgezogen hatten. Dann landeten sie mit flatternden Flügeln sanft im für sie vorbereiteten Nest. Die Landung dieser grossen Vögel war ein Spektakel, wie sie sich mit den langen dünnen Beinen voran im Nest niederliessen. Sie waren unheimlich müde. Die Reise war extrem anstrengend und gefährlich gewesen. Sie legten ihre Flügel an den Körper und schliefen sofort ein.

Für Adebar war die Reise aber noch nicht zu Ende. Er hatte noch einen Auftrag zu erledigen, eine Mission zu erfüllen. Man hatte ihm unterwegs etwas mitgegeben, das er noch abliefern musste. In seinem Schnabel trug er ein Tuch mit einem zappelnden Wesen drin. Das Kleine hatte lange geschlafen, doch nun war es durch den Lärm im Dorf aufgeweckt worden. Es strampelte mit seinen kleinen Beinchen. In der Hand hielt es eine kleine goldene Nuss. Die Reise war für das Kleine lange und langweilig gewesen. Nun wollte es mit etwas spielen. Mit seinen kleinen Patschhändchen drehte es die Kugel hin und her. Adebar musste aufpassen, dass er das Bündel nicht verliert, da das Baby so stark strampelte. Bei einer starken Windböe begann die Fracht so heftig zu schwanken, dass die Nuss herausfiel, hinunter in einen Park. Adebar hatte grosse Mühe, um das Gleichgewicht zu halten. Er sah gerade noch, wie die Nuss in einem Gebüsch verschwand. Darum würde er sich später kümmern. Er musste die Nuss beim Rückflug wieder holen. Doch nun musste er zuerst seine Mission beenden und das Bündel abliefern.

Bei Anna hatten in der Nacht die Wehen eingesetzt. Jetzt war es endlich so weit. Ihr erstes Kind würde schon bald auf die Welt kommen. Ihr Mann Gerd und sie freuten sich ganz wahnsinnig auf den Nachwuchs. Er stand draussen auf dem Balkon und schaute ungeduldig zum Himmel. Dann sah er die grossen Flügel und den prächtigen Vogel, der sich sanft auf dem Hausdach niederliess. Ganz vorsichtig überreichte dieser Gerd die kostbare Fracht. Dieser schielte verstohlen in das Tuch und lächelte vor lauter Glück. Sofort brachte er das kleine Bündel zu Anna. Sie schlug das Tuch zurück und sah auf ihre kleine Tochter, die nun wieder friedlich schlief. "Du sollst Adele heissen", flüsterte sie. Ihr Mann nahm sie in die Arme und küsste sie liebevoll. "Danke, Anna, dass du uns eine Tochter geschenkt hast. Der Name ist wunderschön." Sie konnten sich kaum sattsehen an ihrem Nachwuchs. Viele Monate mussten sie auf diesen Moment warten. Immer wieder hatten sie gehofft, dass Anna ein Kind bekam, leider vergebens. Doch nun war es so weit. Ihr Kindchen war geboren. Sie waren dankbar und überglücklich.


Suche nach der goldenen Nuss
Adebar hatte seinen Auftrag erledigt. Nun wollte er nach Hause zu seinen Eltern und vorher noch schnell die Nuss holen, die er unterwegs verloren hatte. Es war nämlich keine normale Nuss, die in den Park gefallen war. Diese Nuss verlieh dem Besitzer ganz spezielle Kräfte. Er flog zum Park zurück, wo er sie verloren hatte. Mit seinen Augen konnte er auch von hoch oben die kleinsten Details sehen. Doch die Nuss war unter ein Gebüsch gerollt, weshalb er landen musste. Er liess sich elegant auf der Wiese nieder, genau dort wo die Kugel zum Boden gefallen war und staunte nicht schlecht, als er sich umschaute. Ueberall gab es Tiere. Die einen waren eingezäunt, die anderen konnten sich frei im Tierpark bewegen. Er hatte im Süden auch viele Tiere gesehen, die meisten von ihnen lebten in Grossfamilien und zogen durch die Steppe. In Afrika hatten sie ein hartes Leben. Es war ein ständiger Kampf ums Ueberleben, um Fressen und Wasser. Der Feind war überall und lag auf der Lauer. Sie hatten nie ihre Ruhe, mussten ständig sprungbereit sein, um sich in Sicherheit zu bringen.
 
Hier grasten die Esel neben den Pelikanen, Bären dösten in der Sonne, Elefanten badeten in ihrem Wasserteich. Weiter hinten, in einem grossen Gehege, lag ein Löwe auf einem Felsen und gähnte vor sich hin. Er war eine imposante Erscheinung mit seiner riesigen Mähne. Auf der anderen Seite des Zaunes zog eine Hyäne ihre Bahnen. Aus dem Vogelhaus hörte er Papageien schreien, die ihre Schnäbel an den Zweigen wetzten. Für Adebar war dies ein sehr eigenartiger Ort. Alle lebten friedlich zusammen und hatten genug Nahrung und Wasser. Er war im Zoologischen Garten gelandet, dem Ausflugsziel von Erwachsenen und Kindern. Sie freuten sich über die vielen Tiere und konnten so ein wenig über die Mannigfaltigkeit der Natur erfahren. Einige der Tiere waren auch hier zum Schutz ihrer Art. In der freien Natur waren sie vor dem Aussterben bedroht. Hier hatten sie nichts zu befürchten. Es war wie im Paradies.

Adebar spähte unter den Busch, unter dem er die Nuss vermutete, doch er sah sie nicht. Sie war verschwunden. Er konnte sich das nicht erklären, war es keine Viertelstunde her, seit er die Nuss verloren hatte. "Schade", sagte er zu sich selber, "dann muss ich später nochmals kommen, wenn ich ausgeruht bin." Er schwang sich in die Lüfte und flog davon in Richtung Osten. Endlich erreichte er den Horst seiner Eltern. Diese lagen im Tiefschlaf und merkten es nicht, als er sich an sie legte und einschlief.

Der fliegende Bösewicht
Natürlich konnte Adebar die Nuss nicht mehr finden. Binky, das schwarze Eichhörnchen hatte mitangesehen, wie die Nuss vom Himmel fiel. Da der Storch davongeflogen war, ohne sich um den Verlust zu kümmern, war es unter den Busch gerannt, hatte die Nuss an sich genommen und war damit auf den Baum geklettert. Es hielt sie noch immer in der Hand und betrachtete sie. Dies war keine normale Nuss, wie es sie kannte. Diese Kugel glänzte im Schein der Sonne, hatte eine ganz spezielle Farbe. Sie war golden. Auch war sie steinhart, denn Binky hatte bereits ohne Erfolg versucht, ans Innere der Nuss zu kommen. Sie konnte noch so kräftig hinein beissen, sie ging nicht auf.

Binky hatte einen Schatz gefunden, den sie nicht so schnell wieder hergeben würde. Bei der Dämmerung wollte sie ihren Fund unter dem Baum vergraben, damit ihn niemand stehlen konnte. Kaum war sie vom Baum geklettert, noch immer die Nuss in der kleinen Pfote, stand der Rabe Kik vor ihr. "Gib mir sofort diese Nuss, sonst passiert was!" Binky erschrak mächtig, als sie den schwarzen bösen Raben vor sich sah. Dieser richtete sich steil auf und flatterte wie wild mit seinen schwarzen Flügeln. Dazu krähte er laut. "Gib es her, aber etwas schnell!". Alle wussten, dass Kik ein böser Kerl war und hielten sich von ihm fern. Er hatte mit seinem grossen Schnabel schon einige verletzt, weshalb die meistens flohen, wenn er ihnen zu nahe kam. Auch Binky wollte keinen Streit mit ihm, weshalb sie ihm die goldene Nuss kampflos überliess. Sie brachte sich blitzschnell auf den Baum in Sicherheit. Dann sah sie, wie Kik versuchte, die Nuss in den Schnabel zu nehmen. Jedes Mal, wenn er den Schnabel öffnete, um die Nuss zu schnappen, rollte diese davon. Es war für ihn unmöglich, das Ding zu packen. Etliche Versuche waren vergebens, er konnte die Nuss nicht aufnehmen. Kik hatte es nämlich mit einer Zaubernuss zu tun, was er nicht ahnen konnte. Nur gute Menschen und Tiere konnten sie berühren. Diesen Geschöpfen verlieh sie Glück und Kraft. Bei bösen Wesen rollte sie davon. Da half auch Schreien und Schimpfen nichts. Die Nuss war für Kik unerreichbar. Die tierischen Zuschauer um Kik herum, lachten ihn aus. So ein grosser Vogel konnte diese kleine Nuss nicht packen? Das war ja zum Lachen. Und Kik schämte sich gewaltig. Er flog in die Luft und verzog sich. Wie peinlich, er der grosse Rabe konnte nicht mal eine Nuss schnappen, und das erst noch vor einer grossen Zahl Zuschauer. Er hörte das Gelächter noch, als er schon auf der anderen Seite der Wohnsiedlung war.
 
Spielstunde bei den Affen
Als Kik verschwunden war, holte sich Binky die Nuss zurück. Wie schön sie doch war. Dass es sich hier um eine besondere Nuss handelte, war Binky und seinen Freunden nicht klar. Die anderen Tiere hatten das Schauspiel verfolgt, wie Kik versucht hatte, die Nuss zu greifen und es nicht geschafft hatte. Irgendetwas Spezielles war an dieser Nuss. Alle wollten das Geheimnis erkunden. Es nützte also nichts, dass Binky die Nuss in ihr Nest legte. Am gleichen Abend hangelte sich ein kleines Aeffchen auf Binkys Baum. Er krallte sich das goldene Etwas und hüpfte davon. Am nächsten Tag sah man die kleinen Affenkinder mit der goldenen Kugel spielen. Sie warfen sie sich zu und rollten sie über die Felsen. Auch wenn die Nuss manchmal unten aufprallte, ging sie nicht kaputt. Sie spielten den ganzen Vormittag damit zur Freude der Zoo-Besucher. So viel Leben im Affengehege hatten sie es schon lange nicht mehr gesehen.


Der Tauchgang
Dann passierte es. Die Nuss prallte auf einem der vorderen Felsen auf und spickte davon, direkt in den Wassergraben im Nachbarsgehege. Dort waren die Seehunde untergebracht. Als Yuma, das Seehundbaby das "Platsch" hörte, als die Nuss auf dem Wasser aufprallte, erwachte es. "Platsch" heisst normalerweise Fressen. Es watschelte eilig zum Wassergraben und sprang hinein. Die Nuss war im Wasser versunken. Man sah nur noch den goldenen Schein am Boden. Yuma tauchte hinunter und schnupperte an diesem komischen Ding. Das war vermutlich nichts Fressbares, aber sicher war es sich nicht. Also nichts wie zurück und Mama fragen. Yumas Mutter sonnte sich gerade auf dem Felsen, als ihre Kleine ganz aufgeregt angewatschelt kam. "Mama, komm mit und hilf mir." Sie folgte ihrem Sprössling zum Wassergraben, in den sie fast lautlos hineinglitt. Für die Mama war das keine grosse Sache, die Nuss vom Boden zu holen. Sie balancierte sie auf ihrer grossen schwarzen Nase, als wenn sie ein Spielball war. Dann warf sie das glitzernde Ding wieder ins Wasser und gab Yuma zu verstehen, dass sie nun selber tauchen soll. Sie musste lernen, dass das Futter nicht aus dem Fressnapf des Betreuers kam, dass man das normalerweise mit Tauchen verdienen musste. Und dies war die richtige Uebung für Yuma. Es gelang der kleinen Yuma nicht auf Anhieb, das runde Ding zu fassen. Doch nach einigen Versuchen kam sie voller Stolz aus dem Becken und balancierte die Nuss auf der Nase, so wie es ihre Mutter schon getan hatte. Es gab grossen Applaus von den Zoo-Besuchern und Yuma war mächtig stolz auf sich. Bald hatte sie aber das Interesse an der Nuss verloren und legte sie an den Beckenrand.

Dies hatte das Meerschweinchen fast das Leben gekostet. Es hatte die Nuss entdeckt und wollte sie haben. Es schlüpfte durch die Maschen des Zaunes und wollte das runde Ding holen. Doch der Beckenrand war sehr rutschig, sodass es in den Wassergraben fiel. Es quietschte und strampelte, was die Seehunde wieder anlockte. Sie liessen sich ins Becken fallen, denn sie waren überzeugt, dass nun Essensausgabe war und man ihnen den ersten Fisch ins Becken geworfen hatte. "Hilfe, Hilfe" kreischte das Meerschweinchen, als es die grossen Mäuler der Seehunde vor sich sah. Doch dieses Geschrei war vollkommen unnötig. Die Seehunde hatten schnell gemerkt, dass dieses strampelnde Ding keinesfalls ein Fisch sein konnte. Zudem hatte es ja Fell – igitt – nichts für Seehunde. Sie schnappten sich das Meerschweinchen und balancierten es auf der Nase. Am Ufer setzten sie es ab. Das Meerschweinchen rannte so schnell es konnte davon. Nie mehr würde es durch diesen Zaun gehen. Das war ja echt knapp gewesen. Da verzichtete es lieber auf die Nuss.


Der Dieb
Auch Atzel, die Elster, hatte das Geschehen im Seehundteich verfolgt. Während alle um das Leben des kleinen Meerschweinchens bangten, waren seine Augen nur auf das goldene Ding gerichtet, um das es schlussendlich ging und das er unbedingt haben wollte. Man nennt diesen Vogel nicht umsonst die diebische Elster. Auch Atzel war, wie seine Artgenossen, ganz besessen von glitzernden Gegenständen. Schlüssel, Münzen, Kettchen, Bierdosen, er hatte bereits eine grössere Sammlung in seinem Nest aufgebaut. Für die Elster war der Zoo eine echte Fundgrube. Da gab es so viele Besucher, die ständig glitzernde Ware dabei hatten. Es war ihm eigentlich egal, ob es sich dabei um Alu-Folie handelte oder um eine Münze, die versehentlich runtergefallen war. Alles was glitzerte, war seine Beute. Und diese goldene Nuss glitzerte extrem. Er starrte noch immer auf die Kugel, der niemand mehr Beachtung schenkte und die noch immer am Beckenrand des Seehundteiches lag. Er hatte allerdings den grössten Respekt vor den Seehunden und wollte ihnen nicht zu nahe kommen. Sie waren gigantisch gross. Er musste den richtigen Moment abwarten bis sie sich zum Mittagsschlaf verzogen hatten.

Statt des Mittagsschlafes kam das Mittagessen. Der Zoowächter brachte der Seehundfamilie frische Fische. Er warf sie ihnen nicht einfach hin sondern verband das mit einem Spiel. Sie mussten sich das Essen verdienen und Kunststücke machen. Erst dann warf er ihnen einen Fisch in den Rachen. Die Zuschauer klatschten vor Begeisterung. Und die Seehunde hatten ihre Freude an diesem Spiel. Aus der Fütterung wurde eine Show für die Zoobesucher, und den Seehunden wurde es auf diese Weise nie langweilig. Sie genossen diese Zeit, wo man sie bewunderte und mit Fisch belohnte.

Als die Fütterung vorbei war, legten sich die Seehunde schlafen. Sie hatten sich nun ein Mittagsschläfchen verdient. Die Elster hockte unbewegt auf einem Baum und starrte zu den Seehunden hinunter. Die Nuss lag noch immer am Beckenrand. Als die Seehunde endlich schlummerten, war der Moment gekommen, wo Atzel ihre Beute holen konnte. Sie liess sich auf einem der Felsen nieder und beobachtete die Seehunde noch einmal genau. Sie musste sicher sein, dass sie auch wirklich schliefen. Dann sprang sie hinunter zum Teich. Auf ihren dünnen Beinen hüpfte sie zum Teich, hielt dabei immer die schlafenden Seehunde im Auge. Die Seehunde schielten nur müde zu ihr hinüber. Sie brauchten ihren Schönheitsschlaf und liessen sich von Atzel nicht den Schlaf rauben. Dann hatte es Atzel geschafft. Sie schnappte sich die Nuss und flog davon.

Als Atzel ihr Nest erreicht hatte, erkannte sie das nächste Problem. Ihr Schlafplatz war überfüllt mit glänzenden Dingen. Es gab nirgendwo mehr Platz für die Nuss. Hätte Atzel die Nuss ins Nest gelegt, hätte wäre sie vielleicht rausgefallen oder sie selber hätte draussen schlafen müssen. Das wollte die Elster natürlich auch nicht. Und trotzdem musste sie den Schatz vor Dieben schützen. Sie hüpfte deshalb zur Wiese, wo die Gärtner eben einen alten Baum ausgegraben hatten. An dieser Stelle war die Erde noch locker und feucht. Dort würde sie die Nuss vorübergehend vergraben bis in ihrem Nest wieder genug Platz war. Die Idee war zwar gut, doch war Atzels Sammelwut so gross, dass sie die vergrabene Nuss auch am nächsten Tag und in den weiteren Wochen nicht holen konnte. Aber die Elster machte sich keine Sorgen, denn die Kugel war ja gut versteckt. Niemand wusste davon. Es spielte also keine Rolle, wenn sie die Nuss später ausgraben würde.

 
Die Sensation
Was Atzel natürlich nicht ahnen konnte; die Nuss begann im feuchten Erdreich zu keimen. Sie entwickelte kleine Wurzeln und einen Trieb, an dem im Frühling Blätter und Blüten wuchsen. Dieser Baum wuchs mit einer extremen Geschwindigkeit. Im Sommer stand an der Stelle, wo die Gärtner die alte Weide ausgegraben hatten, ein grosser Nussbaum mit goldenen Blättern. Die Leute strömten in Scharen in den Zoo und wollten diesen Wunderbaum sehen. Sie zerrten an den Früchten und Blättern und wollten sich ein Andenken mitnehmen. Doch der Baum hielt seine Blätter und Nüsse fest. Niemand konnte etwas pflücken, alles war fest verankert.

Immer mehr Menschen kamen und wollten sich ein Stück des Baumes abschneiden. Damit das nicht passierte und zur Sicherheit des goldenen Baumes liess der Zoodirektor einen Zaun um den Nussbaum errichten. Niemand sollte dem Baum zu nahe kommen. Nur die Schildkröten, die im gleichen Areal wohnten, durften sich in seinen Schatten legen. Manchmal – als Zeichen seiner Freundschaft zu den Schildkröten - liess er still und leise ein goldenes Blatt fallen. Dieses konnte man dann später im Schildkrötenbau wieder finden. Es war sauber ins Nest eingearbeitet.

Auch die Leute vom Fernsehen kamen vorbei. Sie drehten einen Film über den Zoo und den Wunderbaum, an dem goldene Nüsse wuchsen. Die Zeitung veröffentlichte ein Foto und einen Bericht über den wundersamen Baum. Fotografen verbrachten Stunden damit, den goldenen Baum von allen Seiten und zu jeder Tages- und Nachtzeit aufzunehmen. Das Wunderwerk erschien in Büchern, im Internet und auf Kalenderblättern. Sogar im Museum hing ein Bild davon.

Die Nachricht von diesem Wunder verbreitete sich blitzschnell in der ganzen Welt. Die Besucher kamen von überall, um den Baum zu betrachten. Gärtner und Agronomen kamen vorbei, um sich selbst davon zu überzeugen, dass dies kein Scherz war. Niemand wusste, wie so etwas passieren konnte und keiner wusste, um was für einen Baum es sich effektiv handelte. Selbst der Zoodirektor hatte keine Erklärung. Er wusste nur, dass er eines Tages hier stand und goldene Früchte trug.

Für den Zoo war dieser Baum aber eine grosse Attraktion und Bereicherung. Die Berichte hatten den Tierpark berühmt gemacht, und die vielen Besucher brachten Geld in die fast leere Zookasse. Endlich konnten das Team mit dem Erlös die maroden Gehege reparieren und ein neues Elefantenhaus bauen. Auch das Dach des Giraffenunterstandes hätte schon längst erneuert werden müssen. Das alles konnten sie nun erledigen. Sie hatten es sich so gewünscht, dass man den Tieren mehr Komfort bieten konnte. Bis jetzt war das einfach nicht möglich gewesen. Doch jetzt, wo genug Geld vorhanden war, konnte man all die Dinge erledigen, von denen man bisher nur geträumt hatte.
 
Wenn Wünsche wahr werden
Doch etwas fehlte noch; ein langersehnter persönlicher Wunsch des Zoodirektors. Er stammte aus dem kleinen Dorf mit den vielen Storchennestern. Schon seit er ein kleiner Junge war, hatte er davon geträumt, eine Storchenfamilie zu beherbergen. Nun sollte sein Traum in Erfüllung gehen. So bestellte er eines Tages die Handwerker zu sich und gab ihnen die Anweisung, ein Storchennest im Wipfel des goldenen Baumes zu errichten. Sie stellten Stützen auf, auf denen sie eine riesige Plattform befestigten. Darauf legten sie viele grosse Zweige. Das fertige Nest sah aus wie ein hoher Turm. Das Gebilde wurde mit Blättern und Lehm zusammengehalten. Ganz oben flochten sie die Aeste zusammen, sodass ein richtiger Nistplatz entstand. Diesen legten sie mit Blättern und Gräsern aus. Als der Horst fertig war und die Arbeiter das Gerüst entfernten, verwandelte sich das Nest. Die braunen Zweige wurden wie durch ein Wunder mit Goldfarbe überzogen. Der Zoodirektor war sehr stolz auf sein Storchennest. Es thronte hoch oben, unerreichbar für Feinde. Nun müsste sich nur noch eine Storchenfamilie dort einnisten.

Zwei Tage später, als er einen Rundgang durch den Zoo machte und zum goldenen Baum hinauf schaute, sah er zwei Störche auf der Balz. Sie hockten im goldenen Horst, wetzten ihre Schnäbel aneinander und spreizten ihre grossen Flügel. Dazu schnatterten sie aufgeregt. Sie bogen ihren Kopf weit nach hinten, dass er fast auf dem Rücken auflag und versuchten mit dieser Pose dem Partner Eindruck zu machen. Adebar hatte sich bei seiner letzten Reise in den Süden verliebt. Seine neue Freundin begleitete ihn, als er den Flug in den Norden antrat. Im Horst der Eltern gab es keinen Platz mehr für ihn und seine Braut. Sie hatten deshalb in der Umgebung einen Unterschlupf gesucht, wo sie sich niederlassen und eine Familie gründen konnten. Und nun war das Liebespaar hier eingezogen, in dem Park, in dem Adebar vor zwei Jahren seine goldene Nuss verloren hatte. Einen Monat später schlüpften vier Störche aus goldenen Eiern. Sie wurden von den Eltern umsorgt und von den Zoobesuchern bewundert. Wenn sie ihre kurzen Flügel spreizten, sah man einen goldenen Schimmer auf ihren Federn. Auch ihre Schnäbel waren nicht nur rot wie der ihrer Vorfahren. Sie hatten einen edlen Glanz in Goldfarbe.


Nachwuchs
Als die Nachricht der goldenen Störche veröffentlicht wurde, konnte sich der Tierpark vor lauter Besucher kaum retten. Der Andrang riss auch in den nächsten Monaten nicht ab. Die Leute kamen aus der ganzen Welt und bewunderten den seltsamen Baum und die edlen Störche.

Im Winter flogen Adebar und seine Frau mit dem Nachwuchs in den Süden. Der Horst blieb in der frostigen Zeit leer. Die Angestellten säuberten das Nest und ersetzten alte Zweige durch neue. Ihr Nest war wieder bezugsbereit, und alle warteten gespannt auf die Rückkehr ihrer Vögel. Denn eines stand fest – Störche kehren immer wieder in den Horst zurück, in dem sie geboren wurden. So geschah es dann auch im nächsten Frühling. Die Familie mit den goldenen Federn bezog wieder das Nest auf dem goldenen Baum. Wenn Sie das nächste Mal einen Storch sehen, schauen Sie genau hin, ob dieser vielleicht einen leichten Hauch von Gold im Gefieder trägt, denn wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.
Zurück zum Seiteninhalt