Mona
Buch 7
Mona
Als Shiva wieder aufwachte, war sie nicht im Katzenhimmel. Stattdessen lag sie auf einer dicken warmen Decke. Neben ihr knisterte es im Kamin. Vor ihr stand eine Schale mit Wasser und etwas Brot, das in Milch getränkt war. Eine knöchrige, alte Hand streichelte sie und sprach mit ihr. „Hey, süsse Maus, komm trink und friss. Du hast es nötig“. Die Hand gehörte der alten Frau, die gestern noch strickend vor dem Kamin gesessen hatte. Sie hatte Shiva am Morgen entdeckt, als sie einkaufen gehen wollte. Shiva lag vor ihrer Tür und atmete kaum mehr. Sie trug sie hinein und legte sie auf eine Decke. Die schöne Katze war abgemagert und schon halb tot. Vermutlich hatte sie eine lange Reise hinter sich und die Nähe zum Menschen gesucht. Viel Vorrat hatte sie nicht mehr zuhause. Aber für eine Schale Milch und Brotmocken reichte es noch. Nun endlich wachte das schöne Kätzchen auf. Die Frau nahm den Finger und tauchte ihn in die warme Milch. Damit strich sie Shiva über die Lippen. Nun erwachte neues Leben ihn Shiva. Sie leckte Mona – so hiess die Frau – den Finger trocken. Dann hockte sie sich hin und liess ihre Zunge ins warme Nass gleiten. Shiva war so schwach, dass sie kaum gerade sitzen konnte. Sie kippte ständig um. Dennoch schnappte sie sich die Milchbrocken und schluckte sie gierig runter. Die Milch schlabberte sie in Windeseile. Dabei wurde sie so gierig, dass sie fast die Schale mitgefressen hätte. Zum Schluss leckte sie alles trocken. Jeder Tropfen wurde mit der Zunge aufgenommen. Nichts, aber auch wirklich nichts blieb übrig. Mona schaute ihr zu. Sie wusste, dass dieses Tier ihre Hilfe bitter nötig gehabt hatte. Sie goss noch einmal etwas Milch in die Schale und schaute Shiva zu, wie sie auch diese verschlang.
Mehr konnte sie im Moment nicht bieten. Sie hatte nicht damit gerechnet, Besuch zu bekommen. Sie lebte sehr abgeschieden und allein etwas ausserhalb des Dorfes. Einmal pro Woche ging sie einkaufen, hinunter ins Dorf. Das wollte sie heute machen, weshalb sie sich warm angezogen hatte. Da entdeckte sie Shiva, die zusammengerollt vor ihrer Haustüre lag. Vermutlich war es Schicksal, dass Shiva bei ihr gelandet war. Sie war seit Jahren alleine, nun hat ihr der Himmel ein Wesen geschickt, dem sie helfen konnte und das ihr aus der Einsamkeit half. Es war gar keine Frage, ob sie Shiva helfen wollte oder nicht. Für Mona war es eine Selbstverständlichkeit.
Jetzt wo Shivas erster Hunger und Durst gestillt waren, betrachtete sie das schöne Tier etwas genauer. Früher hatte sie immer Katzen als Begleiter gehabt, doch als die letzte Katze altershalber gestorben war, hatte sie sich keine mehr zugelegt. Sie selber war ja auch schon sehr betagt und wusste, dass Katzen bis 20 Jahre alt würden. Sie wollte nicht, dass das Tier eines Tages alleine sein würde, wenn sie nicht mehr da war.
Shiva war besonders schön gezeichnet, das sah sie sofort. Noch nie hatte sie eine Katze mit diesen Farben gesehen. Zwar hing der Pelz wie ein übergrosser Sack am Körper herunter, denn Shiva war sehr dünn geworden. Auch war das Weiss in ihrem Fell etwas gräulich geworden, vermutlich Schmutz. Mona war sich sicher, dass dieses Tier schlimme Zeiten hinter sich hatte. War es wohl irgendwo weggelaufen oder vor irgend jemandem geflüchtet? Wurde es vielleicht von einem anderen Tier vertrieben oder angefallen? Vermutlich würde sie es nie erfahren. Sicher war aber, dass sie der schönen Shiva helfen wollte. Sie würde sie aufnehmen und versorgen. Schon bald würde es ihr besser gehen.
Sie zog das Körbchen, in das sie Shiva nun gelegt hatte, etwas näher zum Kamin. Dann streichelte sie sie wieder. Sie war so zutraulich. Shiva konnte kein wildes Tier sein, davon war sie überzeugt. Sie spürte jeden Knochen unter dem Pelz der Schönen, nur noch Haut und Knochen. Doch Shiva drückte sich fest an Monas Hand, als wolle sie „Danke“ sagen. Es dauerte nicht lange und Mona hörte ein leises Schnurren. Dann sah sie, wie Shiva die Augen schloss. Sie hatte Schlaf nachzuholen.
Mona zog sich wieder an, schnappte die Einkaufstasche und ging davon. Ihr Einkaufszettel hatte nun eine Position mehr – Dosenfutter und Milch für den Neuzugang. Als sie zum Dorf hinunter spazierte, ging ihr so viel durch den Kopf. Sie lebte seit Jahren alleine. Ihre Familie besuchte sie nur selten. Ihre Kinder wohnten weit weg und kamen nur alle paar Monate vorbei. Manchmal fühlte sie sich total überflüssig. Zwar strickte sie den ganzen Tag, doch einen Sinn darin sah sie nur bedingt. Nun wollte es das Schicksal, dass ihr eine Kreatur begegnet war, die ihre Hilfe brauchte. Plötzlich hatte sie wieder eine Aufgabe. Sie freute sich richtig darauf, dass sie daheim von jemandem empfangen wurde. Ihre Schritte wurden immer schneller, je länger sie über Shiva nachdachte. Es war wie ein Geschenk des Himmels.
Mona kaufte auch Futter für Shiva ein. Die Verkäuferin staunte nicht schlecht, als sie von Mona erfuhr, dass eine Katze bei ihr eingezogen war. Sie freute sich mit der alten Dame, denn Mona war allen Dorfbewohnern als liebevolle Frau bekannt. Im Dorf wunderte man sich schon lange, dass sie da oben so alleine lebte. Man hatte ihr schon oft einen Platz im Seniorenheim angeboten. Dort hätte sie weniger Arbeit und wäre betreut. Doch Mona wollte das nicht. Ihr gefiel das Leben da oben. Sie fühlte sich noch zu fit fürs Altersheim. Zudem kam der Arzt alle paar Wochen mal zu ihr hoch. Sie war also bestens betreut und es fehlte ihr an nichts.
Solange sie noch gut zu Fuss war, blieb sie in ihrem kleinen, trauten Heim, in dem sie schon seit ihrer Kindheit wohnte. Es war ihr Elternhaus, das sie nach dem Tod der Eltern übernommen hatte. Dort hatte sie ihre Kinder grossgezogen und mit ihrem Mann eine gute Ehe geführt. Sie fühlte sich da oben noch heute sehr wohl. Seit ihr Mann vor acht Jahren verstarb, musste sie zwar die ganze Hausarbeit alleine machen, doch das ging schon. Sie war noch ganz geschickt und kräftig genug. Wenn sie eine starke Männerhand fürs Holzspalten oder eine kleine Reparatur am Haus brauchte, telefonierte sie Toni, einem Bekannten. Es dauerte dann meist nicht lange bis die Hilfe kam. Man mochte sie, war sie ihr Leben lang doch eine gute Frau, die in der Gemeinde aktiv war und mithalf. Sie hatte viel Fronarbeit geleistet und war immer für das Wohl der Gemeinde da. Jetzt, wo sie betagt war, kam die Hilfe zurück. Man hätte sie zwar lieber im Altersheim gesehen, da die Versorgung einfacher und besser war, doch im Dorf akzeptierte man Monas Entscheid. Und jetzt, wo Shiva bei ihr aufgetaucht war, war das Altersheim schon gar kein Thema mehr.
Der Heimweg fiel ihr heute leicht. Zwar war ihre Tasche schwerer als sonst, aber ihre Stimmung war blendend. Sie freute sich auf Shiva. In ihrer Einkaufstasche lagen einige Dosen Futter für den Anfang. Sie hatte Toni gebeten, bei Gelegenheit einen grösseren Vorrat nach oben zu bringen.
Shiva hob den Kopf, als sie den Schlüssel im Schloss hörte. Noch war sie sehr schwach, doch die warme Milch hatte ihr gut getan. Sie fühlte sich schon wesentlich besser als am Vorabend. Sie hatte warm um die Ohren und ein kuschliges Bett am Kamin. Das hatte sie so lange vermisst. Das letzte Kissen, auf dem sie liegen durfte, war bei Tina gewesen. In den letzten Wochen musste sie in der Kälte und auf hartem Boden schlafen.
Sie schaute Mona an, als diese ihr zulächelte. In Monas Augen spiegelte sich aufrichtige Liebe. Shiva miaute ganz sanft und Mona lächelte. Das Miauen dieser Katze erwärmte das Herz der alten Dame. Dann ging sie in die Küche und holte eine Schale aus dem Schrank. Aus der Einkaufstasche nahm sie eine Portion Futter. Als Shiva das Klick der Dose hörte, stand sie auf. Sie kannte dieses Geräusch, das die menschlichen Dosenöffner von sich gaben. Dieses Klicken war das Zeichen für Fütterung. Sie stellte sich dicht an Monas Beine und schaute flehend nach oben. „Bitte gib mir was.“ Mona bückte sich und stellte Shiva eine vollgefüllte Schale mit Futter hin. Die Kleine konnte es kaum fassen. Sie bekam richtiges Fleisch, eine Mahlzeit, die sie seit Wochen vermisst hatte. Sie putzte alles in Windeseile weg. Noch am gleichen Abend gesellte sich Shiva zu Mona aufs Sofa. Sie legte sich neben die alte Dame und schaute ihr zu, wie sie strickte. Manchmal häkelte sie mit ihrer pelzigen Pfote und versuchte, die Wolle zu erwischen, die sich Mona durch die Hand gleiten liess. Obwohl Mona so kaum stricken konnte, liess sie Shiva gewähren. Sie war so glücklich, dass sie nicht mehr allein war.
Ein paar Wochen später kamen Monas Kinder und die Enkel zu Besuch. Sie staunten nicht schlecht, als sie Mona singend und unbeschwert antrafen. Sie hatte ihnen zwar schon von Shiva erzählt, doch hatten sie Mona seit Jahren nicht mehr so glücklich gesehen. Zwischen Shiva und Mona war eine Verbindung entstanden, die beiden gut tat. Shiva hatte dank Monas Futter wieder zugenommen. Sie war bildschön geworden. Ihr Fell glänzte wie vor Monaten, als sie noch bei Tina gelebt hatte. Sie wurde von Parasiten und Würmern befreit und bekam dank Tonis Hilfe einen Durchschlupf ins Haus. So konnte siekommen und gehen wie sie wollte. Solange es noch Winter war und der Schnee auf den Feldern lag, bevorzugte sie den warmen Fenstersims. Doch als der Frühling einzog, ging sie regelmässig nach draussen. Sie schlenderte durch die Wiesen und Felder und genoss die Sonne, die ihr auf den Pelz schien. Nur den Wald mied sie. Mit dem hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht. Beinahe hätte er sie das Leben gekostet. Sie schaute oft hoch zu den Wipfeln der Bäume und dachte an die harte Zeit, die sie im Wald verbracht hatte. Aber näher als ein paar Meter ging sie nicht mehr zum Waldrand. Auch die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Zuhause in Stadtnähe war verflogen. Sie hatte ihren Heimweg abgebrochen. Bei Mona hatte sie ein neues Zuhause gefunden. Es passte ihr wunderbar. Sie hatte ihre Freiheit und wurde von Mona nach allen Künsten verwöhnt. Sie bekam nebst dem Futter immer wieder Leckereien, die ihr zwar mundeten, ihr aber nicht gut taten. Shiva nahm mehr zu als sie sollte. Bald hatte sie Rundungen, die nicht gesund waren. Mona sah das schon, doch sie zeigte ihre Zuneigung eben durch Leckereien. „Ach, so ein bisschen Uebergewicht macht doch nichts“, erklärte sie den Kindern. Natürlich wussten alle, dass das für die Katze nicht ideal war, doch sie wollten Monas Freude nicht trüben. Hier hatten sich zwei gefunden, eine Art Symbiose.