Ausgesetzt und abgeschoben
Buch 5
Ausgesetzt und abgeschoben
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Noch sah man den Mond hoch oben am Himmel stehen. Am Horizont wurde es allmählich heller. Im Halbdunkeln sah man Silhouetten, eine kleine Gruppe. Die Tiere hatten panische Angst, sassen dicht aneinandergeschmiegt unter dem Lorbeerstrauch. Es war totenstill im Schulgelände. Niemand war zu sehen, denn es war Ferienzeit. Die Schulkinder waren mit ihren Eltern in Urlaub gefahren, verbrachten die heissen Sommerwochen im Süden.
Von ausserhalb des Schulhofes hörte man Motorgeräusche und eilige Schritte. Die Stadt war aus ihrem Schlaf erwacht. Die ersten Bauarbeiter waren unterwegs zur Arbeit. Aus dem offenen Fenster von gegenüber hörte man einen Radiowecker: "Guten Morgen, es ist 6 Uhr 15". Wer es nicht eilig hatte, wälzte sich noch etwas im warmen Bett.
Die Kleinen wichen noch weiter zurück. Man sah nur ihre aufgerissenen Augen, die im schwachen Mondschein glänzten. Wo waren sie? Was war mit ihnen geschehen? Wann würde ihre Mutter kommen? Sie hatten gelernt, sich absolut still zu verhalten, bis ihre Mutter sie abholen würde. Sie bewegten sich kaum. Man hörte nur das leise Schnurren, das aus ihrer Kehle kam. Es war ein Angstschnurren. Sie warteten geduldig.
Doch nichts geschah. Die Hektik in den Strassen nahm zu. Die Stadt war wie jeden Morgen zum Leben erwacht. Man hörte die vielen Autos, die sich in Schlangen durch die engen Strassen zwängten. Wer nicht schnell genug zum Ziel kam, drückte kurzerhand auf die Hupe. Es war, wie jeden Tag, ein gespenstiges Chaos in den Strassen der Kleinstadt.
Bereits stand die Sonne hoch oben am Himmel und nichts war passiert. Die Katzenbabies bekamen es allmählich mit der Angst zu tun. Sie streckten ihren Kopf ganz kurz aus dem Dickicht hervor. Es gab nicht viel zu sehen, alles war gespenstisch leer. Das Schulgelände bestand aus mehreren, kleinen Gebäuden. Jedes hatte eine andere Farbe und war am Eingang durch einen grossen, farbigen Buchstaben markiert. Zwischen den Gebäuden lag ein grosser Spielplatz. An manchen Stellen waren Hüpfspiele auf den Boden gezeichnet. Ganz hinten am Ende des Platzes stand eine hohe Kletterwand, rechts daneben eine grosse Treppe mit hohen Stufen. In der Pause sassen hier normalerweise die Schülerinnen und erzählten sich von ihren Erlebnissen. Es gab zahlreiche grosse und kleine Bäume. Manche von ihnen waren schon so alt, dass ihr Stamm über einen Meter dick war. Um diese Bäume herum hatte die Schulleitung eine Sitzbank montiert. So konnten die Kinder während den Pausen im Schatten sitzen.
Neben dem blauen Gebäude war ein grosser Sandkasten. Eine Rutschbahn führte mitten hinein. Auch am Rande des Sandkastens gab es eine Sitzbank. Diese war aber aus Baumstämmen gefertigt und bildete einen natürlichen Kontrast zu den restlichen, eher kahlen Spielgelegenheiten. Dahinter erstreckte sich eine kleine Grasfläche, auf der ein Indianerzelt aufgestellt war. Hier gingen wahrscheinlich die Kindergärtner zur Schule. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit farbigen Bildern dekoriert.
Die Kätzchen lugten mit weit aufgerissenen Augen aus ihrem Versteck hervor. Sie wollten alles sehen, mussten unbedingt wissen, wo sie sich befanden. Ihre Blicke schweiften unruhig umher. Wo war ihre Mutter? Was war eigentlich passiert? Sie konnten sich nur noch daran erinnern, dass sie heute früh nach dem Spielen eingeschlafen waren. Und jetzt waren sie hier im Schulgelände unter dem Gebüsch aufgewacht. Sie ahnten, dass bald die ersten Schüler eintreffen würden. Dann wäre hier Lärm und Geschrei. Sie wollten sich so lange verstecken, bis ihre Mutter hier war. Gott sei Dank waren sie zu viert. Weil jedes von ihnen panische Angst hatte, war es gut, dass sie nicht allein waren. Sie leckten sich gegenseitig die Ohren, um ihre Angst zu verbergen. Dann legten sie sich dicht aneinander und versuchten zu schlafen. Jedes noch so leise Geräusch weckte sie auf. Sie änderten ihre Position alle fünf Minuten, blieben jedoch immer dicht beieinander. Doch irgendwann schliefen sie ein, ein kleines, pelziges Bündel.
Zwei Stunden später wurden sie blitzschnell wach. Sie hörten das Eingangstor, das quietschend zur Seite fuhr. Ein blaues Auto fuhr in den Hof und hielt nur wenige Meter neben ihrem Versteck. Ein junger Mann stieg aus, gefolgt von einem kleinen Mädchen. Beide gingen in den Kindergarten und schlossen von innen die Türe zu. Es war schon eigenartig. Die Katzenbabies befanden sich mitten im Schulgelände, doch hier war es totenstill. Wo sonst alle Dreiviertelstunde der Teufel los war, regte sich heute nichts. Nur ab und zu überquerte der Hauswart den Hof. Er trug Material umher, brachte es von einem zum anderen Gebäude. Ansonsten war alles wie ausgestorben. Sie sassen noch immer in ihrem Versteck und warteten auf ihre Mutter. Doch nichts geschah. Allmählich spürten sie ein leeres Gefühl im Magen, Hunger. Es war ja auch schon Stunden her, seitdem sie das letzte Mal etwas zu fressen hatten. Mikesch war der Mutigste von allen. Der kleine Tigerkater unterbrach die Stille. Er wollte sich mal rausschleichen und nachschauen, ob es da irgendwo etwas zu fressen gab. Seine Geschwister fanden das keine gute Idee. Die Gefahr war zu gross. Doch Mikesch hatte Hunger. "Wer wagt, gewinnt", bemerkte er mutig, bevor er unter dem Busch hervorkroch. Nun stand er in der Sonne, allein auf dem riesengrossen Schulgelände. Er rannte blitzschnell zum nächsten Gebäude und schlich dort der Wand entlang. Irgendwo würde es bestimmt einen Eingang geben. Vielleicht fand er ja auch in einem Papierkorb ein liegengelassenes Butterbrot? Er drückte sich der Wand entlang, unter der Treppe hindurch zum nächsten Gebäude. Nichts, einfach gar nichts! Es war absolut leer hier. Sogar die Abfalleimer waren blitzsauber. Mist! Wie konnte er auch ahnen, dass Sommerferien waren, dass die Kinder nicht zur Schule kamen, sondern irgendwo mit ihren Eltern und Geschwistern in der heissen Sonne am Strand lagen? Es war zum Verrückt werden. Der kleine Kater hatte grossen Hunger, doch hier war niemand, der den kleinen Kätzchen helfen konnte. Je länger es dauerte, desto klarer wurde, dass ihre Mutter nicht mehr kommen würde und sie sich alleine durchschlagen mussten. Er ahnte, was passiert war, eine grausame Wahrheit. Man hatte sie allein gelassen, ausgesetzt und verstossen. Wie sollte er das seinen Geschwistern beibringen? Er schlich um alle Gebäude, schaute unter jeden Busch und hinter jede Treppe. Nirgendwo war Futter zu entdecken. Auch schien es hier keine Mäuse zu geben. Er war verzweifelt. Nun musste er auf seine Geschwister aufpassen, dabei war er selber erst ein Dreistiefelhoch. Beim letzten Gebäude angekommen, stand die Sonne schon ganz oben am Himmel. Es waren zwei Stunden vergangen, seitdem das blaue Auto gekommen war. Noch immer war es vollkommen ruhig hier.
Er rannte quer über den Platz, den Schwanz wie einen Wegweiser der Länge nach ausgestreckt. Noch nie war er so schnell gelaufen. Er schaute nicht nach rechts oder links, hatte nur das Versteck im Visier, wo sich seine Geschwister aufhielten. Deshalb sah er im Vorbeirauschen auch nicht, dass die Türe aufging und der Mann mit seinem Kind oben an der Treppe stand. Die Beiden sahen gerade noch das Schwänzchen, das unter dem Gebüsch verschwand. Dann schauten sie sich verwundert an. War es Einbildung oder rannte da tatsächlich ein kleines Kätzchen quer über den Hof? Der Mann sprach kurz und leise mit dem Mädchen. Dieses setzte sich brav auf die oberste Stufe der kurzen Treppe und schaute seinem Vater zu. Er ging langsam und ruhig zum Gebüsch, unter dem Mikesch verschwunden war.
Die Katzengeschwister hörten leise Schritte, die näher kamen. Sie drückten sich dicht zu einem kleinen Fellhaufen aneinander. Dabei verhielten sie sich mucksmäuschenstill. Nur Mikeschs Atem war zu hören. Nach seinem rasanten Lauf war sein Puls noch immer erhöht. Sie drückten sich, so gut es ging, an den Baumstamm, der mitten im Gebüsch wuchs. Dann sahen sie ihn. Er kniete vor ihnen und schob mit der rechten Hand das Gebüsch zur Seite. Erst sah er gar nichts, denn das Gebüsch war dicht und dunkel. Doch dann entdeckte er die Kleinen mit den grossen Augen, wie sie mit Panik im Gesicht vor ihm kauerten. Er zählte sie kurz durch und hielt Ausschau nach der Mutter. Doch ausser den Kleinen gab es nichts zu sehen. Die Katzenkinder waren auf alles gefasst. Sie wetzten bereits ihre Krallen. Sie würden sich wehren. Je näher er ihnen kam, desto grimmiger fauchten sie ihn an. Nach hinten gab es kein Entrinnen, denn das Gebüsch war direkt an einer Wand gewachsen.
Doch der Mann sagte nichts. Er inspizierte das Gebüsch und schaute sich nach links und rechts um. Es sah aus, als suche er etwas. Weiter geschah nichts. Als er alles gesehen hatte, stand er wieder auf. Dann drehte er um und ging zurück zu seiner Tochter. Sie sass noch immer auf der Treppe und schaute ihrem Vater zu. Wieder besprachen sie kurz etwas. Dann setzten sich beide ins Auto und fuhren davon. Mikesch hörte das quietschende Tor, das sich hinter den beiden schloss. Entwarnung! Nach der Inspektionstour und dem Abenteuer von eben, war er katzenmüde. Er legte sich zu seinen Geschwistern und fiel in einen tiefen Schlaf.
Er hörte das Tor nicht, das erneut quietschte. Auch sah er das blaue Auto nicht, das eine Stunde später schon wieder ins Areal fuhr. Stattdessen drang ein wunderbarer Geruch in seine Nase - Futter! Ob er das geträumt hatte? Mhhhh, das roch ja lecker! Er weckte seine Geschwister, die dicht bei ihm lagen. Sie waren sofort wach. Auch ihnen drang der fleischige Duft in die Nase. Ihr Maul füllte sich mit Speichel. Jetzt konnten sie sich kaum mehr zurückhalten. Der Hunger war zu gross. Bis jetzt hatten sie immer mehrmals täglich Futter bekommen, doch heute waren schon viele Stunden seit der letzten Mahlzeit vergangen. Sie krochen etwas aus dem Gebüsch hervor und schauten unter den Zweigen durch. Vor ihnen, kaum einen Meter entfernt, stand das Futter. Es war genug für sie alle, frisch und unwiderstehlich. Vom Hunger getrieben, rannten sie zum Futternapf. Dabei übersahen sie die Kiste, in der das Futter bereit stand. Sie frassen gierig, schnappten sich riesige Stücke aus der Schale. Wie lecker doch jeder Bissen war! Dabei mussten sie sich nicht streiten, denn es gab genug Fleisch, dass alle vier ihren Hunger stillen konnten. Mitten im Festmahl hörten sie einen leisen Knall. Die Fallentüre hinter ihnen war zugeknallt. Nun waren sie eingesperrt. Plötzlich war ihnen der Hunger vergangen. Sie erkannten, dass es keinen Ausweg gab. Sie sassen in der Falle, vor ihnen das leckere Futter und hinter ihnen die geschlossene Türe. Als der Mann die Kiste in sein Auto hob, schrieen sie aus Leibeskräften. Bevor er davonfuhr, kontrollierte er nochmals ihr Versteck. Er wollte sicher sein, dass er keines der Katzenbabies vergessen hatte. Das Versteck war leer. Auch sah er im ganzen Areal kein Muttertier, das nach ihren Kätzchen suchte.
Dann hörten sie, wie er die Autotüre schloss. Einmal mehr quietschte das Tor, als sie das Areal verliessen. Sie hörten ihn mit seiner Tochter sprechen, die sie bis jetzt noch gar nicht gesehen hatten. Sie sass auf der Rückbank, keinen Meter von der Falle entfernt. Das Mädchen sprach mit den Katzenbabies: "Ihr müsst keine Angst haben, denn Papi ist ein lieber Mann. Er bringt euch nun ins Tierheim. Dort wird man gut für euch sorgen, ihr arme Kätzchen. Ich werde euch jeden Tag besuchen kommen."
Die Fahrt war endlos, so empfanden es die Kleinen jedenfalls. Dann spürten sie, wie der Mann die Kiste aus dem Auto hob und in ein Haus trug. Dies musste das Tierheim sein, von dem das Mädchen gesprochen hatte. Sie wurden in einen kleinen Raum gebracht, in die Aufnahmestation. Die Frauen warteten bereits auf die Neuankömmlinge. Sie hoben die Falle auf den Tisch. Endlich ging die Fallentüre auf, doch die Kleinen waren nicht mehr so neugierig und unvorsichtig wie vorhin. Sie drückten sich ganz hinten in die Ecke und waren mit nichts zu bewegen, herauszukommen. Es gab ja auch keinen Grund dazu, denn der Hunger war gestillt. Doch sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die zwei Tierpflegerinnen kannten dieses Spiel bereits.
Sie waren Profis in ihrem Fach und wussten genau, wie man verängstigte Kätzchen anlocken konnte. So vergingen nur wenige Minuten, und die Katzenbabies sassen mitten auf dem Tisch. Sie wurden von allen Seiten betrachtet. Mikesch war ein brauner Tigerkater, der Grösste von allen. Er schien der Anführer zu sein, denn ihm war die Frechheit auf die Stirn geschrieben. Dann gab es noch einen zweiten Tiger mit weissem Bauch, doch dieser schien viel ängstlicher als sein Bruder. Das Schwesterchen war weiss und hatte mehrfarbige Flecken auf dem Rücken und Kopf. Das Näschen triefte und die Augen waren alles andere als klar. Sie schien leicht krank zu sein. Und dann standen die Frauen vor dem jüngsten Kätzchen, einer wahren Schönheit. Sie war wahrscheinlich die Schwester, wie hätte es auch anders sein können, doch glich sie nicht im Geringsten ihren Geschwistern. Sie hatte kurze, stämmige Beinchen, dafür einen buschigen Schwanz. Kopf, Rücken und Schwanz waren dunkelgrau, schon fast schwarz. Kreuz und quer über die schwarze Färbung verteilten sich rotblonde Flecken. Ihr Bauch war schneeweiss, ebenso die Pfoten. Besonders auffallend war ein kleines rotes Flämmchen, das über ihrem Auge stand. Und was kaum zu glauben war, das Katzenbaby war langhaarig, vollkommen anders als ihre Geschwister. Aus ihren Ohren ragten lange Haarbüschel heraus, ein klarer Hinweis dafür, dass aus dem Kätzchen mal eine extravagante Langhaardame werden würde. Sie war die Kleinste des Quartetts und auch die Aengstlichste. Doch die Frauen mussten nicht lange überlegen. Sie hatten schon lange kein so schönes Katzenkind mehr gesehen. Sie bekam den Namen "Beauty", denn sie sollte so heissen, wie sie wirklich war.
Die Katzengruppe wurde vom Tierarzt untersucht. Bevor sie im Tierheim aufgenommen wurden, mussten sie auf Seuchen und Krankheiten getestet werden. Zudem bekamen alle einen Chip unter die Haut mit einer eigenen Nummer. Dank dieser Metallnummer konnten sie jederzeit erkannt werden, denn diese Nummer wurde in einer Zentralen Datenbank registriert. Sollten sie mal entlaufen, konnten sie dank diesem Chip wieder nach Hause gebracht werden.
Die Untersuchung dauerte nicht lange, doch für die vier Kleinen war sie die Hölle. Sie wurden abgetastet, abgehorcht und vorsorglich entfloht. Dann endlich konnten sie in den Auffangraum, in einen der grossen Käfige. Nun waren sie geschafft. Das alles war für die kleine Gruppe zu viel gewesen. Sie waren vollkommen erschöpft und sehnten sich nur noch nach einem weichgepolsterten Körbchen. Kaum hatten sie ihr neues Zuhause bezogen, kuschelten sie sich zu einem grossen, farbenfrohen Pelzknäuel zusammen und schliefen ein. Ihr erster Tag ohne ihre Mutter war vorbei. Zwar wussten sie überhaupt nicht, was mit ihnen geschehen war, doch nun schien alles gut zu werden. Hier roch es nach anderen Katzen und Futter. Zudem wurde es nun ruhig im Hause, denn am Abend verliessen fast alle Tierpfleger das Heim.
Im Traum sahen sie ihre Mutter noch einmal. Sie sass daheim am Fenster und rief nach ihnen. Auch sie war ratlos, konnte nicht verstehen, wo ihre Kätzchen geblieben waren. Sie hatte sie überall gesucht, in der Wohnung und im Garten. Jeder Winkel wurde untersucht, jedes Brett auf dem Katzenbaum inspiziert. Doch sie konnte sie nicht finden. Sie fühlte sich sehr allein, denn ihre Herrschaften waren heute in den Urlaub gefahren, in den Süden ans Meer. Sie hatte gesehen, wie sie die Koffer packten. Eine Nachbarin würde sich um die Katze kümmern, ihr jeden Tag etwas Futter und Wasser hinstellen. Doch bevor die Herrschaften losgefahren waren, hatten sie die Babies eingepackt und im Gebüsch vor der Schule abgelegt. Bestimmt würde eines der Schulkinder die Katzen mit nach Hause nehmen, beruhigten sie sich gegenseitig, um ihr schlechtes Gewissen loszuwerden. Sie waren schlicht und einfach zu dämlich, um zu realisieren, dass Schulferien waren und keine Kinder die Kleinen entdecken würden. Es war Glück im Unglück, dass ein Lehrer noch Arbeiten zu erledigen hatte und die Kätzchen entdeckt wurden. Was wäre nur aus ihnen geworden, wenn sie keinen Schutzengel gehabt hätten? Sie wären wahrscheinlich verhungert, denn sie waren noch viel zu klein, um alleine jagen zu gehen. Es war grausam und egoistisch von den Herrschaften, die Babies einfach abzuschieben und auszusetzen. Doch dieses Verhalten war typisch für die heutige Zeit. Es passierte leider viel zu oft, dass ungeliebt gewordene Haustiere abgeschoben wurden. Besonders in den Sommerferien werden zahlreiche Hunde und Katzen ausgesetzt, manchmal sogar auf grausamste Weise aus dem Auto geworfen. Einige Tiere tauchen angebunden auf den Autobahnraststätten auf, andere werden auf der Suche nach dem Heimweg überfahren.
Doch das Schicksal meinte es gut mit dem pelzigen Quartett. Sie hatten ein Plätzchen gefunden, wo sie schlafen konnten und wo man sich um sie kümmerte. Sie waren zusammen, brauchten deshalb keine Angst zu haben. So blieb es auch in den nächsten Wochen. Allmählich schwand ihre Angst. Mit jedem Tag wurden sie frecher. Bald durften sie in den Gemeinschaftsraum, wo man rumturnen und spielen konnte. Der Garten blieb für die geschlossen, doch danach sehnten sie sich überhaupt nicht. Das Draussen kannten sie nur von ihrem eintätigen Ausflug in die Schule. Und an diesen Tag wollten sie sich gar nicht mehr erinnern.
Manchmal kamen fremde Leute ins Tierheim, oftmals Familien mit kleinen Kindern. Sie interessierten sich für ein Haustier und liessen sich die Tiere zeigen, die ein neues Plätzchen suchten. Doch für die Katzenbabies war es noch zu früh. Sie mussten noch ein paar Wochen hier bleiben, bis sie zur Vermittlung freigegeben wurden. Zudem waren sie noch immer recht zurückhaltend, hatten Angst vor jedem Menschen, der hier herein schaute. Im Grossen und Ganzen war es ganz okay hier. Sie bekamen Futter und Streicheleinheiten. Auch das Rumtoben im Gemeinschaftsraum machte ihnen grossen Spass. Am Abend legten sie sich dicht aneinander, so, wie sie es sich von daheim gelernt hatten. Zusammen waren sie stark und mutig. Nur manchmal vermissten sie ihre Mutter. Sie konnten sich zwar schon fast nicht mehr an sie erinnern. Ihre Mama war eine dreifarbige Langhaarkatze gewesen, ein äusserst liebes Tier. In ihrem Pelz konnten sich die Kleinen warm halten und verstecken. Ihr langes Haar roch nach Mama. Doch mit jedem Tag verringerte sich die Erinnerung an diesen Duft. Die Kindheit war fast vorbei. Die Mutterkatze lebte nur noch in den Träumen der Kleinen. Vor ihnen stand die Zukunft. Doch was würde sie bringen?
Eines Tages wurde es hektisch im Tierheim. Wie jedes Halbjahr gab es einen "Tag der offenen Tür". In diesem Jahr kamen extrem viele Besucher, denn sie wollten das neue Tierheim auch mal von innen sehen. Zudem war dieser Tag für Tierfreunde immer wieder eine willkommene Abwechslung.
Auch Tina ging regelmässig an diese unterhaltsamen und interessanten Veranstaltungen. Sie freute sich immer, wenn sie im Gemeinschaftsraum bei den Katzen sein durfte. Sie hatte selber eine grosse Katzenfamilie daheim und hatte sich den Samtpfoten mit Leib und Seele verschrieben. Sie lebte mit ihren Tieren in einer Gartenwohnung am Rande der Stadt. Aus ihren einst zwei Kätzchen waren mittlerweile sieben geworden. Sie hatten Freunde mitgebracht, die nicht mehr nach Hause wollten. Zudem hatte sie immer wieder ein grosses Herz, wenn es um einen Notfall ging. Sie konnte kaum "nein" sagen, weshalb ihre Katzenfamilie stetig grösser wurde.
An diesem Tag freute sie sich auf den Rundgang durch das neue Tierheim. Sie wollte sich selber davon überzeugen, wie schön alles geworden war. Als sie im Ferienzimmer die Katzen betrachtete, die hier in den Ferien waren, sah sie ein kleines Köpfchen, das sie verstohlen ansah. Das kleine Kätzchen versteckte sich hinter einem Käfig und schaute seinen Brüdern zu, die auf dem Katzenbaum herumhangelten. Dieser eine Blick sollte die Zukunft von Beauty bestimmen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Auch Tina war von Beautys Schönheit überwältigt. Zwar hatte die Kleine noch Angst vor den vielen Leuten, doch Tina liess nicht locker. Sie nahm das Kätzchen auf den Arm und drückte es an ihr Herz. Erst strampelte das kleine Wesen etwas, doch dann wurde es ruhig und begann sich zu entspannen. Tina hörte dem sanften Schnurren zu, streichelte die Schöne fortzu. Es schien ihr, als wolle Beauty ihr sagen, sie solle sie mitnehmen. Auch Beauty hatte sich für Tina entschieden. Das Paar hatte sich gefunden.
Drei Wochen später zog Beauty bei Tina ein.