Wuschels Familie
Buch 7
Wuschels Familie
Wuschel war ein Produkt der Liebe. Seine Mutter, eine extrem schöne graue Langhaarkatze, war selber noch sehr jung, als sie Simba traf. Simba trug ebenfalls ein Langhaarfell und war ein riesengrosser Tigerkater ohne festes Zuhause. Er kam regelmässig zu Tina, die ihn fütterte und versorgte. Sie hatte wochenlang nach dem Besitzer gesucht, jedoch ohne Erfolg. Niemand wusste, wem er gehörte. Wie es schien, lebte er wild. Im Sommer kam er mit dem Sonnenuntergang auf den Sitzplatz, frass die Schalen leer, die ihm Tina gefüllt hatte, und verschwand wieder. Im Winter hingegen war es draussen zu kalt. Dann wartete er, bis Tina das Licht löschte, und schlüpfte durch die Katzentüre in die Wohnung. Hier gab es genug Fressen und Schlafmöglichkeiten. Die anderen Katzen, die bei Tina lebten, kannten Simba und wussten, dass er ihnen nichts tat. Sie akzeptierten seine Gesellschaft und teilten mit ihm das Futter und die Schlafkörbe. Am Morgen war Simba wieder verschwunden. Er verbrachte die Tage draussen, musste sein Revier abchecken, ob noch alles in Ordnung war. Und Simbas Revier war riesengross. Hinter der Ueberbauung erstreckte sich ein grosses Industrieareal. Auch dort war Simba zu Hause. Dort gab es Mäuse und ein paar Unterschlüpfe, die ihn vor Regen schützten. Am Wochenende, wenn niemand arbeitete, gehörte das ganze Parkhaus ihm, so meinte er mindestens. Auch wenn das offene Parking keine schützenden Aussenwände hatte und der Wind hineinblasen konnte, schützte es ihn mindestens vor der Regen. Dahinter floss in einem kleinen Gewürzgarten ein kleiner Bach, der in einen Teich mündete. Dort konnte er seinen Durst stillen. Auch wenn das Areal wunderschön angelegt und riesengross war, waren die Gebäude gut bewacht. Tiere hatten keinen Zutritt. Er konnte dort nirgendwo hinein. Die Türen waren fest verschlossen. Er war jedoch nicht der einzige Kater, der dort lebte. Vor ein paar Wochen hatte er Emsy kennengelernt, der jeden Tag dort vorbei kam. Er gehörte zu Tinas Katzenfamilie, verbrachte aber die Tage in einem Büro, das in der Nähe des Parkhauses lag. Er lief jeden Tag den langen Weg von Tina zu „seinen“ Frauen in „seinem“ Büro. Sein Marsch von Tina zum Büro führte ihn immer durch das Industrieareal, in dem sich Simba aufhielt. Manchmal unterbrach Emsy seinen Arbeitsweg und spielte mit Simba. Er bewunderte den wilden Simba, wie er sich allein durchs Leben schlagen konnte und trotzdem gesund blieb. Von Emsy erfuhr Simba dann auch, wo die besten Plätze waren, wo es die meisten Mäuse gab. Emsy lebte schon seit vielen Jahren bei Tina. Seinen Zweitwohnsitz hatte er in einer Spedition, die ganz hinten im Industrieareal lag. Am Abend holte ihn Tina jeweils nach Hause und am nächsten Morgen spazierte er den langen Weg zurück. Für seine Beine waren die zwei Kilometer eine lange Strecke. Doch in diesem Büro arbeiteten seine Freundinnen. Sie hatten ihn nach einem Autounfall aufgenommen und versorgt. Seither war das Büro seine zweite Heimat geworden.
Er kannte hier alles, jeden Stein und jeden Busch. Er verbrachte hier Tage und Stunden. An den Wochenenden war das Büro geschlossen, dann hatte er Zeit, alles zu erkunden. Oft lag er im kleinen Park, durch den das Bächlein floss. Wenn er Simba traf, machte er einen kleinen Halt. Obwohl beides Kater waren, verstanden sie sich gut. Emsy zeigte seinem Freund auch die Kantine. Im Sommer sassen die Chemieangestellten draussen, assen ihr Mittagessen in der Sonne. Dann warteten die Katzen bis die Mittagspause zu Ende war und sammelten alles auf, was auf den Boden gefallen war. Meistens war das nicht viel, nicht genug, um den Hunger zu stillen. Doch es war eine Art Spiel.
In der näheren Umgebung von Tinas Wohnung gab es sonst keinen Unterschlupf, wo Simba auf Dauer leben konnte. Tina lebte mit ihren Katzen nicht auf dem Land, wo es noch Bauernhöfe und Ställe gab, sondern in einer Gartenwohnung in einem Wohnblock am Rande einer grösseren Stadt. Wenn Simba also seine Ruhe haben wollte, musste er etwas weiter gehen. Tina hatte mehrmals versucht, ob sie Simba etwas zähmen konnte. Obwohl er ihr für das Futter dankbar war, blieb er unzugänglich. Sie konnte ihn nicht anfassen. Wenn sie näher kam, wich er zurück in Abwehrhaltung. Manchmal schnurrte er, wenn sie in seiner Nähe war. Es schien, als wolle er gestreichelt werden. Doch die Scheu war zu gross.
Als er eines Tages mit einer Verletzung kam, musste sie handeln. Sie musste ihn einfangen. Er hatte sie bei früheren Versuchen schon mal böse gekratzt, doch jetzt, wo er verletzt war, liess er es mit sich geschehen. Sie konnte ihn in einen Transportkorb setzen und zum Tierarzt bringen, der die Wunde versorgte. Eigentlich war sie sich sehr unschlüssig, ob sie die Chance gleich nutzen sollte, um ihn kastrieren zu lassen. Der Tierarzt fand den Zeitpunkt aber schlecht. Da er ja auch noch verletzt war und nun Antibiotikum bekam, wäre das alles zu viel gewesen. Zudem war es ja auch nicht schlimm, dass in einer so grossen Umgebung ein unkastrierter Kater lebte.
Dies war das Glück für Wuschels Mami Giny. Als der Tag kam, an dem Giny langsam erwachsen wurde, stand Simba vor der Türe. Diesmal bettelte er nicht um Futter, sondern um die Gunst der schönen Langhaarkatze. Er hatte sie schon seit Tagen umworben und wusste, dass sie bald so weit sein würde. Bevor Tina realisierte, dass Giny rollig war, war es schon passiert. Es funkte zwischen Simba und Giny. Sie waren ein richtiges Liebespaar, obwohl sie körperlich überhaupt nicht zueinander passten. Simba war ein grosser Kater von etwa sechs Kilos, Giny noch eine junge Katze, die kaum drei Kilos auf die Waage brachte. Doch die Natur und die Liebe waren stärker. Sie verbrachten ein paar wunderschöne Tage zusammen, gingen im nahegelegen Park spazieren und drückten sich fest aneinander. Sie tobten auf der grossen Wiese herum und legten sich unter den Büschen schlafen. In dieser Zeit kam Giny nicht nach Hause. Simba war ein behutsamer Liebhaber. Er wusste, dass er der erste Kater in Ginys Leben war. Er musste also warten, bis sie so weit war, dass er sie mit allen Künsten verwöhnen konnte.
Dann, nach ein paar Tagen, kam Giny wieder heim. Sie hatte lange nichts gefressen und hatte einen Riesenhunger. Sie frass gierig und legte sich danach in ihren Korb schlafen. Sie schlief zwei Tage lang, musste das nachholen, was sie in den letzten Tagen verpasst hatte. Sie träumte noch immer von den schönen Erlebnissen der letzten Tage. Ihre Liebe zum grossen wilden Simba war gewachsen und sie freute sich auf seinen Besuch wie jeden Abend.
Er kam allerdings nicht. Auch Simba war erschöpft, dafür glücklich. Er blieb zwei Wochen lang weg, dann tauchte er wieder auf. Tina war froh, dass es ihm gut ging. Auch wenn er nicht ihr Kater war, machte sie sich doch Sorgen, wenn sie ihn lange nicht sah.
Im Winter kam Simba regelmässig in die Wohnung. Dort war es trocken und warm. Jetzt, im Frühling, blieb er meist draussen. Deshalb war Tina sehr erstaunt, als sie Simba eines Tages im Wohnzimmer vorfand. Er hatte sich in Giny verliebt und kam nun öfters rein, kuschelte sich dicht an sie. Es entging Simba nicht, dass Giny einen Bauch bekam. Man konnte nicht mehr übersehen, dass ihre Liebe Konsequenzen hatte. Neun Wochen nach ihrer ersten Liebesnacht schenkte Giny vier Katzenbabies das Leben. Das Erstgeborene war zu schwach. Es verstarb kurz nach der Geburt. Den anderen drei Kätzchen ging es blendend. Der älteste – Wuschel – war das Abbild des Vaters, ebenso die jüngere Schwester, die später den Namen Alaya erhielt. Nur Merlin war vollkommen anders. Sein Fell war vorwiegend weiss mit ein paar Tigerflecken. Natürlich trug er die gleiche Langhaarpracht wie seine Eltern, doch farblich glich er weder Giny noch Simba. Dafür hatte er einen fantastischen Charakter.
Die Katzenkinder verbrachten eine wunderschöne Jugend bei Tina und den anderen Katzen. Simba kam regelmässig vorbei und schaute nach seinen Kindern. Giny war so stolz auf die Kleinen. Sie waren aber auch bezaubernd. Sie wurden von Tag zu Tag schöner und wurden von allen bewundert. Sie hatte ja das erste Mal Nachwuchs, aber instinktiv wusste sie, was sie machen musste. Sie säugte und putzte sie und nahm sie, als sie älter wurden, auf Spaziergänge mit. Welch schönes Bild, wenn Giny und ihre Kinder durch den Garten schritten. Manchmal brachte sie ihnen auch eine Maus nach Hause. Sie mussten ja lernen, dass das Futter nicht aus der Dose, sondern von der Natur kam. Es gab ganz in der Nähe einen alten Bauernhof, der leer stand. Dort gab es etliche Mäuse. Giny brachte ab und zu eine nach Hause. Den Kleinen war es egal, ob es Maus oder Dosenfutter gab, Hauptsache es mundete. Sie hatten ein schönes Zuhause und waren glücklich.
Tina, der „Dosenöffner“, umsorgte ihre kleine Familie und liebte sie abgöttisch. Sie wusste aber, dass sie nicht alle Kätzchen behalten konnte. Schweren Herzens entschied sie sich, eines der Kleinen einer Freundin zu schenken. Sie durfte es sich aussuchen. Als Alaya 15 Wochen alt war, zog sie um. Sie durfte fortan mit Perserkatzen leben in einem riesengrossen Haus. Merlin und Wuschel blieben bei Tina. Giny durfte ihre Söhne behalten. Damit sie nicht noch mehr Babies bekam, wurde sie nach der Entwöhnungszeit sterilisiert.
Für Wuschel war die Welt in Ordnung. Er liebte seine Eltern und zog später mit Simba durch die Nachbarschaft. Er lernte vom Wilden, wie man sich allein in der Natur durchbringen konnte, wie man Mäuse fängt und Vögeln den Garaus macht.Giny freute sich über ihre Familie. Sie liebte Simba noch immer und war glücklich, dass er mindestens ab und zu noch vorbeischaute. Simba kehrte der Familie zwar nicht den Rücken, blieb aber tage-, manchmal sogar wochenlang aus. Er hatte einen inneren Trieb nach Freiheit und wollte diesen ausleben. Simba war kein Kater, der in einer Wohnung glücklich wäre. Er brauchte den Freigang und die Freiheit. Dies war seine Welt.