Der Unfall 2
Buch 2
Emsy schlief lange, fast die ganze Nacht hindurch. Bald würden die ersten Sonnenstrahlen den Boden erwärmen. Als er aus seiner Ohnmacht aufwachte musste er feststellen, dass es schon Morgen war, dass die Schmerzen aber nicht nachgelassen hatten. Noch immer konnte er seine Hinterbeine nicht bewegen. Er hatte grässliche Schmerzen in der Hüfte und unsagbaren Durst. Aus der Hinterpfote rann Blut. Er leckte es mit seiner Rosazunge weg. Auch das restliche Blut, das aus seinem verletzten und offenen Hinterbein lief, leckte er auf, immer und immer wieder, so lange bis die Blutung nachliess.Emsy wusste, dass um diese Zeit seine Freundinnen mit der Arbeit beginnen würden. Es war sechs Uhr in der Früh. Er liebte seine Frauchen, bei denen er seit vielen Monaten Bürokater war. Er lebte seit einiger Zeit in einer Bürogemeinschaft in der Firma DPD am Ende der Industriezone.
Tagsüber durfte er im Büro liegen. Sie hatten ihm einen weichgepolsterten Korb hingestellt, in den er sich legen durfte. Daneben lag ein Lammfell, in das er sich an kälteren Tagen einwickelte. Es war unglaublich schön bei seinen Frauen. Er lag den ganzen Tag dort. Die Nächte verbrachte er entweder in der Lagerhalle oder auf der anderen Strassenseite im freien Feld. Seine Frauen stellten ihm jeden Tag leckeres Futter hin. Er durfte bei ihnen im Büro leben, sich am Eingang der Länge nach ausstrecken oder im Archiv auf den Aktenkartons herumtorkeln. Wenn er Hunger hatte, musste er nur kurz miauen und schon eilte man, um ihn mit neuen Leckerbissen zu versorgen. Wenn er raus wollte, öffnete man ihm die Türe ohne grosses Fragen. Im Winter, wenn es kalt war, lag er auf der Fensterbank, unter der die Heizung angebracht war. Dort war es wohlig warm. Von dort hatte er den gesamten Ueberblick. Er sah, wer kam und wer ging, hier war er der Boss. Er hatte die Frauen um die Pfoten gewickelt, das wusste er. Sie liebten ihn abgöttisch und er mochte sie auch. Sie hatten ihm ein weiches Körbchen besorgt, in dem er stundenlang schlief. Wenn er spielen wollte, setzte er sich zu seinen Frauen aufs Pult. Und wenn sie nicht sofort reagierten, lief er mit seinen breiten Pfoten über ihre Computer-Tastatur. Jeder in dieser Firma kannte Emsy den Streuner. Sogar der Wachmann, der seinen regelmässigen Rundgang machte, erwähnte ihn manchmal in seinen Berichten „Emsy bewacht den Eingang der Firma DPD“. Uebers Wochenende sass Emsy jedoch vor verschlossener Bürotür und konnte nicht verstehen, wieso heute niemand kam.
Eigentlich hatte er ein gutes Zuhause, doch dahin wollte er nicht. Dort lebte Tina mit ihren Katzen. In diese Gemeinschaft würde Emsy richtigerweise gehören. Doch Tina arbeitete unter der Woche den ganzen Tag, und Emsy hatte sich daheim so gelangweilt. Auf einem seiner Streifzüge hatte er dann diese Bürogemeinschaft entdeckt und beschlossen, sich hier niederzulassen. Der Weg von Tina zum Büro war weit, zirka zwei Kilometer. Doch Emsy scheute sich nicht davor. Wenn ihn Tina zu sich nach Hause holte, lief er schnurstracks wieder ins Büro.
Meistens kam Tina am Freitagabend oder Samstagmorgen und nahm Emsy mit nach Hause. Im Winter war das ja ganz okay, denn bei ihr war es trocken und warm. Auch dort gab es gutes Futter in Hülle und Fülle. Im Grunde genommen war es schön bei Tina, doch vor Zottel, dem schwarzen Kater, hatte Emsy grässlich Angst. Dieser war kein freundlicher Geselle und fauchte ihn regelmässig an. Emsy wollte sich nicht mit ihm anlegen, denn Zottel war ein stämmiger Kerl von sieben Kilo. Er wusste genau, dass er ihm unterlegen war und mied jeden Zweikampf, den er bestimmt verlieren würde.
Emsy verbrachte mehr Zeit im Büro als bei Tina. In letzter Zeit hatte sich aber in Tinas Katzenhaus etwas verändert. Ihm war aufgefallen, dass er Zottel schon lange nicht mehr gesehen hatte. Bei Tina war Ruhe eingekehrt. Emsy hatte erfahren, dass Zottel verunglückt war. Er war Tina nachgelaufen und auf der Strasse überfahren worden war. Jetzt brauchte er keine Angst mehr zu haben vor diesem schwarzen Riesenkater. Jetzt war es bei Tina sehr ruhig geworden.
An einem schönen Wintertag, an dem Tina Emsy beim Büro abgeholt hatte, stand er plötzlich vor seinem Spiegelbild. Bei Tina ging eine Katzendame ein und aus, die er bisher noch nie gesehen hatte, die ihm wie eine Zwillingsschwester ähnlich sah. Er staunte nicht schlecht, als er die Doppelgängerin das erste Mal sah. Er ging vorsichtig auf sie zu und beschnupperte sie von vorne bis hinten. Auch sie war zuerst sehr erstaunt, ihr Ebenbild zu sehen. Doch sie war sehr freundlich zu ihm und erzählte dem süssen Kerl, dass sie seit zwei Wochen hier wohnte. Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon viel durchgemacht. Nach dem Mittagessen legte sich Shila zu Emsy und erzählte ihm ihre Geschichte: