Shilas Odyssee
Buch 2
Shilas Odyssee
Sie lag ausgestreckt im Gras und liess die heisse Sonne auf ihren Pelz scheinen. Es war ganz still um sie herum, von weitem hörte man nur das Läuten der Kuhglocken. Sie beobachtete die Bienen, die fleissig von Blüte zu Blüte flogen. Ein zarter Wind schwächte die brütende Hitze ein bisschen ab. Shila war müde von der anstrengenden Jagd in der Nacht. Ihre Mutter hatte ihr gezeigt, wie man im Dunkeln Mäuse fängt. Sie war bereits eine gute Jägerin und hatte viel Erfolg auf ihren Streiftouren. Nun war ihr Bauch dick gefüllt und sie musste eine Pause einlegen. Sie genoss die sommerliche Sonne.
Shila war eine kleine, schöne, zweifarbige Katze. Sie wurde im Frühling, zusammen mit vier anderen Geschwistern, auf einem Bauernhof im Elsass geboren. Ihre Mutter liebte sie alle, doch hatte Mühe, die grosse Familie zu ernähren. Am Tag lagen sie alle zusammengerollt im Stall, am Abend ging die Katzenmutter auf Mäusejagd. Ab und zu bekamen sie von der Bäuerin ein paar Käsereste oder ein wenig Küchenabfälle. Doch meistens musste die Mutter auf die Jagd gehen, um die hungrigen Mäuler zu stopfen. Als sie noch ganz klein waren, ging sie alleine weg und brachte ihnen die Mäuse ins Versteck zurück. Nach ein paar Wochen nahm sie ihre Jungen mit und zeigte ihnen, mit welchen Tricks man die dummen Mäuse überlisten konnte. Nun wurde es leichter für die Katzenmama, denn die Jagd machte den jungen Katzen Spass. Bald konnten sie selber Beute machen und präsentierten ihren Fang der stolzen Mutter.Allmählich wurden aus den kleinen Kätzchen schöne Jungtiere. Auch Shila entwickelte sich zu einem hübschen kleinen Wesen. Sie hatte eine zierliche Figur und ein weiches, wunderschönes Fell. Ihre Grundfarbe war schwarz, pechschwarz. Nur ihr Näschen und ihre vier Pfoten bildeten einen Kontrast. Diese waren weiss. Sie sah aus, als ob sie ihre kurzen Beinchen in die weisse Farbe getaucht hätte. Am Bauch hatte sie ebenfalls ein paar weisse Flecken. Mit ihren grossen Augen sah sie erwartungsvoll in die Zukunft. Noch war das Katzenleben ungetrübt. Es gab genug Mäuse auf den Feldern und vier Geschwister, mit denen man im Stall herumtoben konnte. Kurzum, die Welt war einfach in Ordnung.
Sie liebte es, tagsüber durch das hohe Gras zu streifen und den Vögeln beim Zwitschern zuzuhören. Ihre wachen Augen beobachteten jeden Schmetterling, der lautlos durch die Lüfte flog. Auch mochte sie die grossen Kühe mit ihren lauten Glocken. Sie sah ihnen zu, wie sie grasten. Wenn sich die Kühe am Nachmittag in den Schatten legten, legte sich Shila zu ihnen. Meist ging es nicht lange, und sie war in die Welt der Katzenträume versunken.
Im Spätsommer musste Shila ihre Familie verlassen. Eine junge Menschenfamilie mit zwei kleinen Kindern hatte Shila in ihr Herz geschlossen. Sie nahmen das kleine Kätzchen mit und fuhren mit ihm in sein neues Heim. Shila war voller Freude und Erwartungen. Ihre Mutter hatte sie darauf vorbereitet und ihr viel Glück gewunschen. So hielt die Schwarz-Weisse Einzug bei Familie Muller. Sie wohnte von nun an in einem kleinen Einfamilienhaus am Rande der Stadt. Emily, die Dreijährige, warf ihr Spielmäuse zu und Thierry, der grosse Bruder, streichelte sie liebevoll. Es war richtig schön, mit den Kindern zu spielen und Shila vergass allmählich ihre Katzen-Geschwister und das Leben auf dem Bauernhof. Nun war sie zur Familienkatze auserkoren und freute sich sehr darüber, dass sie ihr Futter nun nicht mehr selber verdienen musste. Man fütterte sie regelmässig mit Dosenfutter, das herrlich roch. Wenn sie ganz lieb war, bekam sie eine Schale voller Milch oder Sahne.
Doch was so schön begann, entwickelte sich zu einem Fiasko. Die Kinder verloren schon bald die Freude an der kleinen Katze und die Eltern waren es leid, das Katzenklo zu reinigen und jeden Tag Büchsenfutter anzuschleppen. Shila wurde zur Belastung für die ganze Familie, und die liebevollen Streicheleinheiten blieben schon bald aus. Stattdessen wurde mit den Füssen nach der kleinen Katze getreten und Emily zog sie regelmässig am Schwanz. Thierry drehte sich gar nicht mehr um, wenn Shila ihm liebevoll zumiaute. Sie war ihnen lästig geworden, und das zeigte man ihr deutlich. Man liess sie stundenlang alleine und füllte ihren Fressnapf nur noch unregelmässig. Und wenn Shila nach Liebe bettelte, wurde sie angeschimpft und zurückgewiesen. Wenn irgendwas fehlte, war die Katze schuld. Sie musste für alles hinhalten, was in der Familie schief ging. Es entstanden grosse Diskussionen wegen dem Haustier. Der Hausfrieden hing vollkommen schief. Das kleine Kätzchen wurde traurig und verkroch sich in eine Ecke. Sie konnte das alles nicht verstehen. Was hatte sie nur verbrochen, um so behandelt zu werden? Wenn sie ihren Menschen näher kam, wurde sie abgewiesen, meistens sogar sehr schroff. Manchmal schlug man sogar nach ihr oder schrie sie an. Sie litt sehr, denn sie hatte für das menschliche Verhalten keine Erklärung.
Als Familie Muller im Herbst in Urlaub fuhr, wurde Shila ins Tierheim gebracht. Das kleine Kätzchen ahnte nicht, dass man sie dort nicht etwa in die Ferien brachte, sondern kurzerhand abgab mit dem Hinweis, man habe eine Katzenallergie und könne das Tier nicht mehr weiter in der Familie haben. Shila wurde in einen Käfig gesteckt und fühlte sich enorm allein. Sie weinte den ganzen Tag vor sich hin, hatte Sehnsucht nach liebevollen Händen und ein paar netten Worten. Sie erinnerte sich plötzlich an ihre Mutter und rief verzweifelt nach ihr. Doch alles nützte nichts. Ihre Katzenmutter hatte in der Zwischenzeit bereits neue Kätzchen geworfen und hörte Shilas Hilferuf nicht. Und Familie Muller kam nicht wieder. Shila musste Stunden und Tage in dem winzigen Käfig verbringen. Manchmal durfte sie mit ihren Artgenossen ins Freigelände zum Auslauf. Am Nachmittag schien dann die Sonne durch die Gitter und Shila legte sich traurig hin. Sie spürte zwar die Sonnenstrahlen, die ihr schwarzes Fell aufheizten, doch sie konnte die eindringende Wärme nicht geniessen. Ihr Herz war eiskalt und traurig. Sie hatte sich so darauf gefreut Familienkatze zu sein, und nun wurde sie kurzerhand weggegeben, als sei sie ein altes Spielzeug, das entsorgt werden musste. Jeder Tag war ein trauriger Tag für das schwarze Kätzchen.
Es war kurz vor Weihnachten, als Herr Schmidt ins Tierheim kam. Er suchte für seine Verlobte ein Weihnachtsgeschenk und wusste, dass Evelyne sich schon seit langer Zeit eine Katze wünschte. Als er Shila entdeckte war für ihn klar, dass sie es sein sollte. Schwarz/weiss waren Evelynes Lieblingsfarben und Shila würde in einem Körbchen unter den Weihnachtsbaum gelegt werden. So wurde Shila ins Auto von Herrn Schmidt verfrachtet und nach Mulhouse gebracht. Die Fahrt war schrecklich und Shila schrie aus Leibeskräften. Sie hatte furchtbare Angst. Als sie in der Wohnung ankam, machte sie erst einen Rundgang und beschnupperte alles ganz genau. Doch irgendwie konnte sie sich nicht richtig freuen. Sie hatte schreckliche Angst davor, wieder abgeschoben zu werden. Herr Schmidt gab ihr Futter und stellte ihr ein Katzenklo hin. Dennoch konnte Shila kein Vertrauen gewinnen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Herr Schmidt gab sich echt Mühe, die kleine Katze anzugewöhnen, doch Shila war scheu geworden. Sie verkroch sich unter dem Bett oder der Kommode. Auch die nette Aufforderung zum Spiel half nichts. Shila hatte Angst. Sie kannte das von Familie Muller - erst spielen, dann schlagen.
Einige Tage später war Heiligabend. Herr Schmidt freute sich sehr auf die Rückkehr seiner Verlobten, die einen Monat geschäftlich im Ausland war. Er schmückte einen Tannenbaum mit farbigen Kugeln und setzte Shila in ein Körbchen, das mit einer grossen farbigen Schlaufe geschmückt war. Dieses Körbchen wurde unter den Tannenbaum geschoben. Shila hatte Angst und ihre Augen waren gross und dunkel. Sie duckte sich tief in den Korb hinein und machte sich ganz klein.
Dann kam Evelyne nach Hause, eine junge Frau in den Zwanzigern, blond und adrett. Sie wurde von Ihrem Freund schon sehnsüchtig erwartet. Herr Schmidt freute sich sehr, als er seine Verlobte wieder in die Arme schliessen konnte. Er liebte sie sehr und wollte sie in den nächsten Monaten heiraten. Die Ueberraschung war riesengross, als Evelyne das kleine zusammengerollte Kätzchen sah, das im Korb unter dem Weihnachtsbaum lag. Als sie es jedoch hochnehmen wollte, kratzte Shila heftig. Doch Evelyne liess sich nicht beirren. Sie erkannte gleich, dass Shila nicht etwa böse, sondern einfach ängstlich war. So redete sie leise auf die kleine Katze ein und Shila erkannte im Klang ihrer Stimme, dass Evelyne ein guter Mensch war. Es dauerte nur wenige Stunden, bis Shila sich neben das neue Frauchen setzte und sich streicheln liess. Evelyne war glücklich und Shila voller Hoffnung, eine neues schönes Zuhause gefunden zu haben.
Ein paar Monate ging alles gut. Shila hatte allmählich das Vertrauen zum Menschen zurückgewonnen. Evelyne und Herr Schmidt waren lieb zum kleinen Kätzchen und freuten sich darüber, wenn sich das kleine Wesen an kalten Wintertagen zu ihnen auf die Polstergruppe legte. Es fehlte Shila an nichts. Sie bekam regelmässig Futter, Wasser und ab und zu auch ein besonderes Häppchen für zwischendurch. Tagsüber schlief sie meist und erwartete sehnsüchtig die Rückkehr ihrer Menschen. Am Abend sassen sie dann zusammen auf dem Sofa, rechts Herr Schmidt, links Evelyne und dazwischen - ganz angeschmiegt an die warmen Menschenbeine - die kleine Katze Shila. Wenn ihre Menschen ins Bett gingen, ging Shila kurzerhand mit. Sie legte sich ans Fussende des Bettes und rollte sich schnurrend ein.
An Ostern veränderte sich das Leben in der Familie Schmidt. Die Bücher aus den Regalen verschwanden, Geschirr wurde in grosse Kartons verpackt. Etliche Personen gingen ein und aus und suchten sich Möbel aus. Die Wohnung leerte sich langsam aber stet - ein Umzug war geplant. Evelyne und Herr Schmidt zogen weg, weit weg in ein nördliches Land. Sie nannten es England und erzählten der kleinen Shila, dass man dort eine ganz andere Sprache reden würde. Herr Schmidt hatte dort eine gute Anstellung gefunden und Evelyne würde ihren Mann dorthin begleiten. Was Shila aber nicht wusste, Katzen dürfen nicht ohne Quarantäne nach England. Die Bestimmungen lauten, dass Haustiere erst sechs Monate in die Quarantäne-Station müssen, bevor sie zu ihren Herrchen nach England dürfen. Weder Evelyne noch Herr Schmidt wollten Shila in eine Quarantäne-Station schicken. Das wollten sie dem kleinen Lebewesen nicht antun. Gott sei Dank hatten sie eine Person gefunden, die Shila aufnehmen würde. Der Onkel von Evelyne, ein 75jähriger alleinstehender Mann, freute sich auf die kleine Katze. Sie sollte bei ihm wohnen nach dem Wegzug von Evelyne und Herrn Schmidt.
Traurig war der Tag, als Evelyne eines Tages die kleine Shila in ein Körbchen packte und zu Onkel Simon fuhr. Sie konnte sich kaum trennen von der kleinen Katze und umarmte sie immer und immer wieder. Sie versprach dem Kätzchen, in den ersten Ferien wiederzukommen. Onkel Simon sei ein guter Mensch, er würde sich gut um sie kümmern. Shila schluchzte, es brach ihr fast das Herz. Jetzt, wo sie endlich eine liebe Katzenfamilie gefunden hatte, musste sie diese wieder verlieren. So lag Shila tagelang traurig auf dem Sessel bei Simon. Sie frass nichts und weinte sich Tag für Tag in den Schlaf. Onkel Simon war am Verzweifeln. Er konnte Shila das beste Essen hinstellen, sie verweigerte es. Die Schwarz/Weisse war sehr, sehr traurig. Shila ging nie raus, obwohl sich vor Onkel Simons Haus ein grosser Garten befand. Sie lag nur herum und schaute mit traurigen Augen in den Himmel, in dem etliche dunkle Wolken hingen. Shila wollte sterben. Die Menschen hatten sie enttäuscht.
Doch Onkel Simon liess nicht locker. Er hatte Mitleid mit der kleinen Katze, die so unendlich traurig war. Er konnte mitfühlen mit dem kleinen Ding, das so klein und erbärmlich aussah. Er wusste was es hiess, verlasssen zu werden, hatte er doch erst vor einem Jahr seine geliebte Ehefrau Henriette verloren. Sie war an einem Krebsleiden gestorben und hatte ihn alleine zurückgelassen. Wenn er an sie dachte, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Das spürte die kleine Katze. Dann legte sich Shiva zu ihm, ganz dicht an seine Beine und schnurrte zu ihm hoch. Simon streichelte sie ganz zärtlich und freute sich über ihre Gesellschaft.
Es dauerte nur wenige Wochen, bis Shila einsehen musste, dass man nichts am Wegzug von Evelyne und Herrn Schmidt ändern konnte. Evelyne und ihr Mann mussten die Chance wahrnehmen und ein neues Leben in England aufbauen. Immerhin hatte man Shila ein gutes Plätzchen besorgt. Simon war ein alter aber ganz lieber Mann. Auch wenn ihn seine Beine ab und zu im Stich liessen, ging er doch regelmässig einkaufen. Es fehlte Shila an nichts. Sie bekam gutes Futter und durfte jede Nacht zu Simon ins Bett schlüpfen. Sie war ihm ins Herz gewachsen, die kleine Katze, die sich schnurrend an ihn schmiegte. Er war nun nicht mehr allein und war seiner Nichte dankbar, dass sie ihm Shila überlassen hatte.
Im Spätsommer kamen Evelyne und Herr Schmidt zu Besuch. Sie freuten sich sehr, dass Simon und Shila ein Paar geworden waren. Shila war mittlerweile ausgewachsen und eine kleine Schönheit geworden. Es fiel der kleinen Katze sofort auf, dass Evelyne sich verändert hatte. Sie hatte ihre gute Figur verloren und trug stolz einen dicken Bauch vor sich her. Herr Schmidt erklärte ihr, dass sie bald eine kleine Familie sein würden, dass Evelyne ein Kind bekäme.
Obwohl Shila nicht wusste, was Herr Schmidt damit meinte, schmiegte sie sich an ihre ehemalige Katzenmutter. Sie strich ihr um die Beine und drückte ihr Köpfchen fest an ihre Waden. Evelyne war glücklich, als sie Shila sah. Sie wusste, dass die Katze bei Onkel Simon ein gutes Zuhause hatte. Die kleine Katze war ihr nach wie vor eine gute Freundin. Shila war ihr dankbar für die Zeit, die sie zusammen in Harmonie verbringen duften. Evelyne und ihr Mann blieben drei Wochen und kehrten dann in ihre Wahlheimat England zurück.
Nun kehrte wieder Ruhe ins Simonsche Haus ein. Shila liebte Onkel Simon und zeigte es ihm Tag für Tag. Es fiel ihr dennoch auf, dass er viel und lange schlief. Simon war alt geworden und auch sehr müde. Seine Beine machten ihm grosse Mühe und schmerzten bei jedem Wetterumschlag. So erstaunte es Shila gar nicht, als er sich eines Tages mitten am Nachmittag ins Bett legte und einschlief. Sie legte sich zu ihm, dicht an seine Füsse. Am nächsten Morgen schlief Simon noch immer, auch dann noch, als bereits die Mittagssonne ins Zimmer schien. Shila ging zum Futternapf, der mittlerweile leer war. Sie sprang aufs Bett und stupste Onkel Simon mit der Nase. Doch Simon regte sich nicht. Shila war ratlos. Sie legte sich neben ihr Herrchen und schlief ein. Mitten in der Nacht wachte die kleine Katze auf. Noch immer lag Simon regungslos im Bett. Nun bekam es Shila mit der Angst zu tun. Sie versuchte mit ihrer Pfote, Simon zu wecken, doch das Herrchen reagierte nicht. Auch als sie ihm ins Ohr schnurrte, änderte sich nichts an der Situation.
Noch einmal ging Shila zum Futternapf, der noch immer gleich leer aussah wie am Morgen. Jetzt wusste Shila, dass etwas nicht stimmte. Simon war ein pflichtbewusster Mann und würde Shila nie hungern lassen. Es musste etwas passiert sein. Shila stiess die Katzentüre auf und rannte davon. Sie musste die Nachbarn holen, die ihrem Simon helfen sollten.
Die Nachbarsleute waren sehr erstaunt, als sie Shila sahen, die miauend vor ihrer Türe sass. Erst wollten sie sie wegschicken, da ihr Bello auf Katzen ganz wild war. Doch liess sich Shila nicht wegjagen. Sie kam zwei Minuten später wieder und schrie aus Leibeskräften. Was war wohl in die kleine Shila gefahren? Simon hatte ihnen doch erzählt, dass sie ein so braves Kätzchen war? Sie schickten Shila weg, ignorierten die Schwarz/Weisse und schlossen die Türe zu. Shila blieb hartnäckig vor der Türe sitzen. So leicht liess sie sich nicht abwimmeln. Sie musste ihrem Herrchen doch helfen und brauchte die Hilfe der Nachbarn. Sie kratzte mit ihren Pfoten an der Türe und verursachte dadurch ein scharrendes Geräusch, das man bis ins Wohnzimmer hörte. Die Nachbarsleute wurden nun hellhörig. Irgendwas stimmte da tatsächlich nicht. Wieso war Shila nicht daheim bei Simon, so wie sie es seit Monaten um diese Tageszeit war?
Herr und Frau Beyeler nahmen ihre Jacken und folgten der kleinen Katze, die schnurstracks nach Hause lief. Als Shila in der Katzentür verschwand und auf das Läuten hin niemand öffnete, telefonierten die Nachbarn der Polizei. Hier war tatsächlich etwas eigenartig. Die Polizisten brachen die Türe auf und fanden Onkel Simon tot in seinem Bett vor. Er war seiner geliebten Henriette in den Himmel gefolgt. Shila weinte laut. Sie hatte ihr Herrchen, das so gut zu ihr war, verloren.
Obwohl die Nachbarn grosses Mitleid mit der kleinen Katze hatten, konnten sie sie nicht aufnehmen. Ihr Bello hätte sie zerfleischt. Einmal mehr wurde Shila in ein Auto verfrachtet und ins Tierheim gebracht. Dort wurde sie erneut in einen Käfig gesteckt. Wie sie das hier hasste, eingepfercht in einen Gitterverschlag! Es gab hier keine lieben Worte, keine Hände, die sie zärtlich streicheln würden. Sie war traurig und weinte stundenlang. Nicht einmal der schöne rote Kater, den sie im Freigehege regelmässig traf, konnte sie trösten. Shilas Fell wurde stumpf, sie frass kaum mehr. Sie mochte keine Menschenhände mehr sehen und fauchte, wenn man ihr zu nahe kam.
Das Katzenheim war zum Bersten voll. Jeden Tag wurden neue Katzen gebracht, die man auf der Strasse aufgelesen hatte oder die abgegeben wurden. Man setzte Shila sogar eine zweite Katze in den Käfig. Es gab kaum mehr Platz, an dem man hätte seine Pfoten strecken können. Nur wenige Katzen wurden wieder abgeholt. Es war Spätherbst und die Heimleitung musste wie jedes Jahr erkennen, dass manche ihre Katzen nach den Sommerferien gar nicht mehr haben wollten. Ein paar von ihnen konnten in neue Familien vermittelt werden, doch die meisten der Samtpfoten mussten wochenlang in den engen Käfigen bleiben.
Eines Tages kam der Tierarzt. Er sah sich die vielen Katzen an und sortierte sie geistig aus. Junge Katzen konnten vermittelt werden, das wusste er. Diese hatten eine Chance. Vierbeiner wie Shila allerdings, die weder einen Stammbaum noch sonstige Besonderheiten vorweisen konnten, waren nicht gefragt. Sie waren für das Tierheim nur eine Last. Zudem sah Shila struppig aus. Ihre Trauer hatte sich auf ihr Fell ausgewirkt. Ihre Schönheit war verschwunden, ihre Augen waren blass geworden. Auf Shilas Käfig wurde ein Stempel gedrückt "zum Tode verurteilt!". Mit ihr sollten zwei norwegische Waldkatzen, zwei Langhaar-Kater sterben. Sie wurden zum Tode verurteilt, da sie überzählig waren, sich niemand ihrer annahm. Shila wusste, dass ihr Leben nun zu Ende gehen würde. Sie legte sich hin und leckte mit ihrer Zunge ihre Pfoten. Ihr Herz war gebrochen, der Mensch hatte sie so enttäuscht. Shila war es egal, dass sie sterben sollte, sie hatte die Hoffnung aufgegeben. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen.
Zur gleichen Zeit wurde die Katzenhilfe in der benachbarten Schweiz aktiv. Man hatte von den drei Katzen erfahren, die zum Tode verurteilt wurden. Man wollte den Tieren helfen und fuhr nach Frankreich ins Tierheim, um die Verurteilten zu begutachten. Statt kranker und verwahrloster Tiere fand man dort drei wunderschöne Katzen vor, die allerdings traurig aber kerngesund in ihren Käfigen hockten. Herr Meder entschied kurzerhand, die Katzen in die Schweiz zu nehmen und dort neue Plätzchen für sie zu finden.
Einmal mehr wurde Shila in einen Käfig gesperrt und in ein Auto gesetzt. Sie hasste Autos, konnte den Motorenlärm kaum aushalten. Normalerweise schrie sie unaufhörlich, doch auf dieser Reise blieb sie stumm. Sie sass traurig in ihrem Käfig, denn sie wusste nicht, dass Rettung nahte. Sie schloss mit ihrem Leben ab, denn sie rechnete damit, nun umgebracht zu werden. In der Schweiz brachte man sie in ein Einfamilienhaus, genauer gesagt in den Luftschutzraum dieses Hauses. Dieser sollte als Quarantäne-Station dienen und den drei Katzen so lange ein Heim bieten, bis sie auf Seuchen getestet und geimpft waren. Es dauerte drei Wochen, in denen die drei Vierbeiner kein Tageslicht sahen. Nur durch einen kleinen Spalt konnten sie erkennen, wann die Sonne schien und wann der Mond leuchtete. Einmal kam eine Tierärztin, die die Tiere untersuchte. Die Zeit verstrich langsam und die Katzen fühlten sich sehr einsam. Immerhin waren sie zu dritt. Sie erzählten sich von ihrem Leben, trösteten sich untereinander. Manchmal weinten sie gemeinsam und ihr Klagen drang bis in den Katzenhimmel vor.
Nach vielen, vielen Tagen kam Herr Meder wieder. Erneut mussten sie Auto fahren, welch ein Horror. Der Grau-Weisse sagte schon lange nichts mehr, der langhaarige Tigerkater schlief ruhig in seinem Korb. Auch Shila war es leid, Hoffnungen aufzubauen. Sie wollte nicht mehr, das Hin und Her war ihr zu viel geworden. Es war ihr egal, ob sie leben sollte oder getötet wurde. Die Menschen hatten sie doch so enttäuscht.
Als die Transportboxe geöffnet wurde, kamen unzählige Katzen und Kätzinnen auf die Neulinge zu, genau genommen 22 Vierbeiner. Sie alle wohnten mit Herrn Meder zusammen in einer Auffangstation der Katzenhilfe. Jedes dieser Tiere hatte ein fürchterliches Schicksal hinter sich und bei Herrn Meder Schutz, Wärme und etwas Geborgenheit gefunden. Sie liebten ihren Herrn abgöttisch, auch wenn ihnen dieser Mann nur einen kleinen Teil Liebe geben konnte. Sie alle hatten Namen und ein Plätzchen, das sie mit Krallen und Stimme verteidigten. Für Shila war kein Platz mehr frei. Sie sprang auf eine Musikbox, die im Eingang stand und legte sich traurig hin. Die Langhaarigen rannten ins Wohnzimmer und legten sich auf die Polstersessel. Sie schliefen nach den Ereignissen des Tages sofort ein.
Am gleichen Abend kam Besuch zu Herrn Meder. Tina hatte sich nach einer Katze erkundigt, die dringend einen Platz brauchte. In ihrem "Heim" war ein Plätzchen frei geworden, und Tina wollte einem Kätzchen die Möglichkeit bieten, ein neues und schönes Plätzchen zu bekommen. Als Katzenfreundin freute sie sich natürlich über die grosse Schar Katzen, die sie dort zu sehen bekam. Es waren jegliche Arten und Farben vertreten - Tiger, rote, kurz- und langhaarige, junge und alte Tiere. Die einen waren handscheu, die anderen frech wie die Dachse. Auf Tischen, in Körben und auch auf der Anrichte in der Küche lagen die Samtpfoten rum. Es war eine pelzige Vielfalt, etliche, hoffnungsvolle Augen verfolgten Tinas Rundgang. Sie betrachtete die Tiere allesamt. Jedes war schön auf seine Art, sicher hatte auch jedes ein eigenes, zum Teil trauriges Schicksal hinter sich. Eines hatten sie alle gemeinsam, sie suchten einen Menschen und ein Plätzchen, bei dem sie willkommen waren.
Herr Meder war ein aktiver Tierschützer, der sein Leben zum Wohl der Katzen ausgerichtet hatte. Er lebte tagtäglich mit den armen Geschöpfen, die niemand wollte und hatte grosse Erfahrung in Tierhaltung. Er wusste genau, dass Shila gesund aber traurig war. Er erklärte Tina, dass Shila ein Plätzchen suchte, an dem sie Freigang hatte. Sie war keine Wohnungskatze und würde als solche nur leiden. Er wollte Tina die kleine Schwarz-Weisse, die das Treiben mit traurigen Augen beobachtete, schmackhaft machen. Eigentlich war Tina hier hingekommen, um sich eine Vierfarbige oder ein Langhaarige auszusuchen. Sie hatte schon einige Katzen gehabt, allerdings alles Hauskatzen. Nun wollte sie mal etwas "Vornehmeres" aufnehmen, eine Samtpfote, die ihr optisch gefiel und der sie ein wirklich gutes Plätzchen bieten konnte.
Und es kam, wie es kommen musste - Tina nahm die kleine Shila mit. Sie entsprach zwar nicht ihren Vorstellungen, doch konnte das Katzenmami den traurigen Augen schlicht nicht widerstehen. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag musste Shila in den Transportkorb. Doch nun war das Mass endgültig voll. Shila war sauer. Sie wollte einfach nicht mehr, wollte hier raus. Man sollte sie nun endlich erlösen von den Qualen, sie hatte das Auf und Ab satt. Sie schrie, nein, sie brüllte. Tina wusste nicht, wie sie die halbstündige Fahrt mit dieser schreienden Katze überstehen sollte. Ihr Trommelfell vibrierte, als Shila aus voller Kehle brüllte. Zu Hause angekommen, setzte Tina das vom Schreien erschöpfte Tier ins Badezimmer. Hier war das Katzenklo und das wollte sie dem Neuzugang zeigen.
Ganz vorsichtig schlich Shila durch die Wohnung. Hier roch es nach anderen Katzen, das konnte sie klar erkennen. Doch keine war zu sehen. Nur Tina und Shila waren hier. Klick/klack machte es plötzlich am Katzentürchen und vor Shila stand Tasja, eine vierfarbige Katzendame. Sie musterte die Neue mit feindseligen Augen und ging langsam auf sie zu. Shila blieb wie angewurzelt stehen. "Auch das noch", dachte sie, "jetzt muss ich auch noch kämpfen." Doch Tasja machte eine freundliche Miene. Sie war lediglich etwas erstaunt über den Besuch. Zum grossen Erstaunen ging es kaum fünf Minuten und Tasja und Shila waren Freundinnen geworden. Tasja zeigte der neuen Katze die ganze Wohnung und sie folgte ihr auf Schritt und Tritt beim Rundgang durchs neue Heim. Tasja liess sie nicht aus den Augen, das neue Kätzchen machte sie enorm neugierig.
Für Shila war der Tag zu aufregend gewesen. Sie hatte weder Lust noch die Energie, sich mit einer anderen Katze anzulegen. Sie erkundete die ganze Wohnung. Hier roch es in allen Ecken nach Katzen, anscheinend wohnten hier noch mehr als nur die weisse Katzendame, die ihr durch die Wohnung folgte.
Irgendwie spürte Shila, dass sie es hier gut haben sollte. Sie wusste genau, dass sie die Chance ihres Lebens bekam, dass Tina sie mochte und ins Herz geschlossen hatte. Ihre Lebensgeister wurden wieder wach und Shila zeigte sich dankbar. Als Tina nach einem anstrengenden Tag todmüde ins Bett sank, legte sich Shila in ihre Arme. Sie schnurrte friedlich und legte ihr Köpfchen auf Tinas Arme. Hier war es warm und hier roch es nach einem guten Menschen, Shila war seit langer Zeit das erste Mal wieder glücklich. Sie hatte das grosse Los gezogen, durfte bei Tina und ihren Katzen wohnen. Nun konnte sie seit Wochen das erste Mal wieder beruhigt schlafen. Sie musste sich nicht sorgen, was der nächste Tag bringen würde. Sie hatte es gespürt, hier war ihr neues Zuhause, hier wurde sie geliebt. Shila war wieder glücklich.
Noch schlief Tina, als Shila sich auf Erkundungstour begab. Sie inspizierte alles, die Wohnung, die zahlreichen Katzenbäume und vor allem die Töpfchen mit Trockenfutter, die überall in der Wohnung herumstanden. Es war wie im Schlaraffenland bei Tina, Futter in Hülle und Fülle, Liegeplätze auf schwindelnder Höhe und Tinas Hände, die sie unablässig streichelten. Klick/klack machte es erneut und vor Shila stand Smokie, eine vierfarbige Katze, die sie feindselig ansah. Ein kurzes Fauchen sollte dieser Katze zeigen, dass sie sich nicht vertreiben liess. Doch Smokie reagierte gar nicht. Sie schaute Shila mit einem fragwürdigen Blick an und ging davon. Klick/klack und weg war sie.
Am gleichen Tag sollte Shila noch Bekanntschaft mit dem Nachbarskater Nero machen, der bei Tina ein- und ausging, als wohne er dort. Shila bewunderte ihn sehr, da er ein reflektierendes Halsband trug. "Welch Angeber", miaute sie, doch ein wenig klang da auch Neid mit. Er war ein begehrenswerter Kater mit makellos schwarzem Fell und den grossen, gelben Augen. Auch Miezi, der weiss-getigerte kleine Kater staunte nicht schlecht, als er Shila in "seinem" Revier vorfand. Er fand den Neuzugang überhaupt nicht lustig. Wie konnte Tina wieder mal eine Neue bringen, ohne ihn vorher zu fragen?! Er war beleidigt, machte schnurstracks kehrt und verschwand durch die Katzentüre.
Noch immer schlief Tina. Es war ja auch spät geworden am Abend vorher. Shila sprang zu Tina aufs Bett und legte sich dicht an ihr neues Frauchen. Sie legte ihren Kopf auf Tinas Kopfkissen und schnurrte ihr ins Ohr. Es dauerte nicht lang und Tina wurde wach. Als sie die Augen öffnete, schaute sie direkt in Shilas erwartungsvolles Gesicht. Mit den weissen Schnauzhaaren kitzelte Shila ihr neues Katzenmami so lange, bis dieses zu lachen anfing. Sie nahm die kleine Katze in die Arme und schmuste mit ihr. Es war ein wunderschönes Gefühl für Shila, Tinas Hände auf ihrem Fell zu spüren. Sie drehte sich auf den Rücken, denn sie wollte auch am Bauch gekrault werden. Unersättlich hätte sie den ganzen Tag so liegen bleiben können.
Vom Nebenzimmer riefen Tasja und Smokie. Sie hatten Hunger und standen vor den leeren Schalen. Jetzt merkte Shila, dass sie eigentlich auch sehr hungrig war. Vor lauter Freude hatte sie ganz vergessen, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatte. So standen die drei Katzendamen in der Küche und schauten Tina zu, wie sie das Futter zubereitete. Es roch nach Fisch, ein Leckerbissen für Shila. Vor einer Woche hätte sie sich nie träumen lassen, dass sie in ihrem Leben je wieder Fisch zu essen bekäme. Sie hatte abgeschlossen mit allen Schönheiten dieser Welt und dem Katzenleben Ade gesagt. Und nun lag vor ihr eine grosse Schale, gefüllt mit feuchtem, leckerem Katzenthon. Shilas Herz pochte wie wild, als sie sich über die Mahlzeit hermachte. Nach jedem Bissen schaute sie zu Tina hoch, die am Tisch sass und eine Tasse Kaffee trank. Sie war eine clevere Katze und wusste genau, dass sie zwei Schutzengel gehabt hatte. Der eine hiess Herr Meder, der andere Tina. Sie würde immer an sie denken und ihnen ewigs dankbar sein.
Nachdem Tina zur Arbeit gefahren war, legte sich Shila auf den Katzenbaum am Fenster. Von hier aus konnte sie alles sehen, was draussen vor sich ging. Sie hatte seit Wochen keine Sonne mehr gesehen und genoss es nun doppelt, das Treiben in der kalten Jahreszeit zu beobachten. Etliche Personen gingen mit ihren Hunden draussen vorbei. Sie konnte sich kaum sattsehen. Immer wieder gab es etwas Neues, das sie noch nicht entdeckt hatte. Sie ging von Fenster zu Fenster und schaute nach draussen. Um Tinas Wohnung gab es einen Garten mit Gras, Gebüschen und Blumenbeeten. Wenn sie die Nase an die Katzentüre drückte, spürte sie den kalten Windzug, der von draussen kam. Es roch nach Natur, nach der grossen, weiten Freiheit. Sie erinnerte sich an Simon, bei dem es weite Felder vor der Türe hatte. Dort hatte sie etliche Mäuse gefangen und Simon nach Hause gebracht. Etwas traurig wurde sie schon, wenn sie an Simon dachte. Und hier roch es ganz ähnlich. Shila spürte, dass es ganz in der Nähe viel freies Land gab, wo grosse Mausfamilien wohnten. Sie wurde ganz unruhig und wollte raus, um die Umgebung zu erkunden. Doch die Katzentüre war geschlossen. Die Mitbewohner konnten zwar eintreten, aber hinaus konnten sie nicht mehr. Tina wollte so verhindern, dass Shila alleine rausging und den Heimweg nicht mehr fand. Sie sollte sich erst an ihr neues Daheim gewöhnen.
So vergingen einige Tage, an denen Tina viel Stress hatte. Sie musste den Katzen jedes Mal die Tür öffnen, wenn sie nach draussen wollten. Nur Shila musste noch drinnen bleiben. In der Nacht schloss sich Tina mit der kleinen Katze im Schlafzimmer ein. So konnten die Grossen ein- und ausgehen, wie sie wollten und Tina konnte in aller Ruhe schlafen. Shila legte sich wie in der ersten Nacht zu Tina ins Bett und genoss es, dicht bei ihrem Menschen zu sein. Jedes Mal, wenn Tina sich im Schlaf drehte, spürte sie das Pelzbündel an ihrer Seite. Meistens wurde Shila dann kurz gestreichelt.
Dann kam der erste Tag, an dem Tina nicht arbeiten musste. Sie stand nicht wie in den letzten Tagen früh am Morgen auf, sondern schlief so lange, bis die Sonne bereits am Himmel stand. Damit die Samtpfoten nicht zu hungern brauchten, gab sie ihnen genug Fressen in die Schalen.
Am Nachmittag schien die Sonne. Es war zwar immer noch klirrend kalt draussen, dennoch entschloss sich Tina, Shila nach draussen zu lassen. Heute fuhr kein Autobus neben Tinas Haus vorbei, so dass für Shila keine Gefahr bestand. Sie legte der schwarzen Katze ein pinkfarbenes Halsband um, das mit einer kleinen Plombe versehen war, in der Shilas Adresse und Tinas Telefonnummer standen. Wie stolz war nun die kleine Katze, als sie sich im Spiegel betrachtete! Sie hatte fast genau das gleiche Band wie der Nachbarskater Nero, auf den sie so neidisch war. Als Tina die Tür zum Garten öffnete, sprang Shila nach draussen. Tasja folgte ihr im Meterabstand, so wie sie es am ersten Abend in Tinas Wohnung gemacht hatte. Sie beobachtete jeden Schritt der kleinen Katze, denn sie wusste genau, wo hier Gefahren lauerten. Tina blieb bei ihren Lieblingen und schaute Shila zu, wie sie die neue Umgebung erkundete. Der Nachbarsgarten bot nicht viel Neues. Er sah ganz ähnlich aus, wie der von Tina. Doch im übernächsten Garten gab es etwas sehr Interessantes. Er war von einem Zaun umgeben und mit vielen Sträuchern bepflanzt. Shilas Neugier erwachte und sie versuchte, ins nachbarliche Gelände zu gelangen. Sie drückte ihren schlanken Körper durch eine kleine Oeffnung an der Wand und stand mitten im Gartenareal. Irgendwie stimmte hier etwas nicht. Shila hatte ein komisches Gefühl und verliess das Gelände auf dem gleichen Weg wie sie reingekommen war. Wenige Minuten später stand die Nachbarin da und begrüsste das neue Kätzchen. Dicht neben ihr stand ein kleiner Hund, der Shila nur beobachtete. Ob er ihr wohl friedlich gesinnt war? Shila wusste gar nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Irgendwie musste sie dem Hund etwas Eindruck machen. Er war zwar ein kleines Tier, doch immer noch grösser, als Shila. Das sollte sich aber blitzartig ändern. Shila stellte sämtliche Haare und machte einen Katzenbuckel, um richtig gross und gefürchtig auszusehen. Doch Pippo, so hiess der kleine weisse Hund, lachte nur, als er Shila so aufgeplustert sah. Er wusste genau, dass er sie mit seinem Bellen verjagen könnte.
Shila war seit langer Zeit wieder glücklich. Sie lebte in einer schönen Katzenfamilie. Vor allem Tasja war ganz besonders lieb zu ihr. Sie waren innert kurzer Zeit die besten Freundinnen geworden und gingen oft zusammen auf Streifzüge durch die nahe liegenden Getreidefelder oder den angrenzenden Park. Shila wusste, dass immer am Wochenende ihr „Ebenbild“, Emsy, erscheinen würde. Es war schon erstaunlich, wie sie sich ähnelten. Nach wenigen Wochen wurde Shila krank. Sie wollte kaum mehr fressen und bekam starken Durchfall. Tina brachte sie zum Tierarzt, der ihr bittere Medikamente verabreichte. Sie liess es ohne Kratzen und Fauchen mit sich geschehen, dass Tina ihr jeden Tag zwei dieser schrecklichen Tabletten in den Rachen stopfte. Allmählich ging es ihr besser und sie konnte wieder mit Tasja herumtoben. Leider dauerte diese Phase der Besserung nicht lange. Schon drei Wochen später ging es Shila wieder ganz schlecht. Sie mochte nichts mehr essen, nahm nur noch minimale Fresshappen zu sich. Ihr Bauch war dick geschwollen, als bekäme sie Nachwuchs. In ihrem Kopf dröhnte es laut. Manchmal hatte sie grosse Mühe mit dem Atmen und musste oft nach Luft ringen. Sie fühlte sich wahnsinnig elend. Sie hatte keine Lust mehr, mit den anderen zu spielen. Ihr Gang wurde träge wie der einer uralten Katzendame. Tina bekam es mit der Angst zu tun und meldete Shila wieder beim Tierarzt an. Es war ein sehr trauriger Tag, als Tina erfahren musste, dass Shila nicht mehr zu retten war. Was erst nach einer harmlosen Darmgrippe aussah, war eine schreckliche Viruskrankheit, die nicht nur unheilbar, sondern auch ansteckend war. Noch lange sass Tina mit der kleinen Shila, die sie doch so in ihr Herz geschlossen hatte, im Garten des Tierarztes. Beide wussten, dass sie nun für immer Abschied nehmen mussten. Fast eine Stunde lag Shila in Tinas Armen. Während Shila ein Abschiedskonzert im Schnurren gab, liefen Tina die Tränen herunter. Sie streichelte ihre kleine Freundin unentwegt und war vollkommen verzweifelt. Shila würde sterben müssen. Es gab keine Rettung. Schweren Herzens drückte Tina ihre kleine Katze noch einmal fest an sich. Sie würde nicht mehr viel spüren, denn sie hatte 41 Grad Fieber. Shila bekam vom Tierarzt eine Spritze und schlief innert weniger Sekunden in Tinas Armen ein.
Als Shilas Seele in den Katzenhimmel flog, sah sie noch immer Tina, die tränenüberströmt im Behandlungszimmer sass, in den Armen noch immer die nun leblose Shila. Sie nahmen ein letztes Mal Abschied. Noch immer streichelte Tina das kleine Wesen. Sie wusste, dass sich das Kätzchen nun nicht mehr quälen musste, dass sie nun im Katzenhimmel war bei all den Tieren, die auch einmal in Tinas Armen lagen.
Shila wusste nicht genau, was sie im neuen Leben erwarten würde. Sie fühlte sich jedoch sofort wieder gesund und fit. Ihre Schmerzen im Bauch waren blitzartig verschwunden, das Fieber gesenkt. Sie sah die Erde weit unter sich als kleinen runden Spielball. Sie spürte die warmen Sonnenstrahlen, die ihr entgegenschienen. Als die Himmelstüre geöffnet wurde, sah sie einen unendlich grossen Garten. Es gab unzählige Bäume und Pflanzen, auf die man klettern oder unter die man sich legen konnte. Es duftete nach Blumen und Gewürzen. Mitten durch diesen Garten floss ein kleiner Bach, in dem Fische schwammen. Am Ufer wuchsen hohe Tannen, die Schatten warfen. Es roch hier nach Harz und nach Tannennadeln. Der Boden war mit Moos überwachsen. Der Bach war von grossen, runden Steinen eingerahmt, auf die man sich stellen konnte, wenn man kühles Wasser schlabbern wollte. Die hochgewachsenen Blumen auf den Wiesen, waren umschwärmt von Insekten. Ueberall war Bewegung. Wenn man genau hinsah, entdeckte man etliche Katzen, die sich in die Blumenwiese gelegt hatten. Sie tankten Sonne. Ab und zu streckten sie ihre Glieder, dann rollten sie sich wieder ganz klein zusammen. Dann sah man sie gar nicht zwischen den Gräsern und Blumen. Erst wenn sie sich aufrichteten oder streckten, entdeckte man zwei Oehrchen, die aus der Wiese ragten. Es wehte ein zarter Wind. Er bewegte die Blumen hin und her und verschaffte den Tieren frische und kühle Luft.
Der Katzenhimmel war so gross, dass Tausende Tiere darin leben konnten ohne sich in die Quere zu kommen. Futter gab es in Hülle und Fülle, Mäuse waren genug vorhanden. Es herrschte absoluter Frieden in diesem Paradies. Nirgendwo hörte man Fauchen oder Grollen. Es gab keine Machtkämpfe, keinen Streit, keinen Futterneid. Es war vollkommene Harmonie.
Mitten in diesem Garten stand ein kleines altes Haus mit vielen Zimmern. Bei Regen fanden die Tiere dort Unterschlupf. In allen Räumen standen Schränke und Regale, auf denen überall Körbe, Kissen und Decken lagen. An regnerischen Tagen schliefen alle Katzen dort, dicht beieinander. Es war eine friedliche Gemeinschaft. In einem grossen Raum stapelten sich etliche Futternäpfe. Sie waren bis oben mit wohlriechendem Fressen gefüllt. Wenn man davon naschte, füllten sie sich sofort wieder. Es waren unversiegbare Futterquellen. Shila machte einen ersten Rundgang durch den Katzenhimmel. Sie entdeckte sofort alte Freunde aus ihrem Leben auf der Erde. Da waren auch die beiden Langhaarkatzen, mit denen sie in Mulhouse im Katzenheim war. Auch diese Tiere waren von der schrecklichen Seuche befallen worden und vor wenigen Tagen in den Katzenhimmel gekommen.
Hinter diesem Haus sass ein alter Mann auf einer Holzbank und betrachtete die vielen Katzen, die sich in der Blumenwiese räkelten. Er schaute ihnen beim Spielen zu, warf ihnen ab und zu einen Spielball oder einen Tannzapfen zu. Je näher Shila kam, desto mehr Frieden zog in ihr Herz ein. Sie spürte eine innere Ruhe und Geborgenheit. Der Mann schien ihr vertraut. Shilas Herz machte einen Riesensprung, als sie sich ihm näherte. Konnte das tatsächlich wahr sein? Sie traute ihren Augen nicht, musste noch etwas näher an diesen Menschen heran. Als er seinen Kopf zu ihr drehte, sprang sie ohne Vorwarnung in seine Arme. Sie hatte ihren alten Herrn, Onkel Simon, wieder getroffen. Er war wie alle Katzenfreunde in den Katzenhimmel gekommen. Er freute sich sehr über Shilas Kommen. Er hatte auf sie gewartet, denn er hatte von hier beobachten können, dass es Shila auf der Erde immer schlechter ging. Es war eine heimtückische Krankheit. Die Menschen nannten sie FIP und hatten noch kein Medikament gefunden, das diesen Virus unschädlich machen konnte. Simon wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Shila zu ihm kommen würde. Und nun war sie da. Er drückte sie fest an sich. Seine zärtlichen Hände strichen ihr über den Kopf und den Rücken. Sie drückte ihr Köpfchen fest an ihn und sog seinen Geruch tief in sich ein. Sie liebte ihn noch immer sehr. Sie hatte nun zwar Tasja und Tina verloren, dafür ihren alten Freund Simon wieder getroffen. Nun wusste sie, dass alles gut war. Sie schlief schnurrend in den Armen von Simon ein. Ihre Odyssee hatte ein Ende. Sie hatte das Paradies erreicht.