Kleines Paradies in der Wildnis
Buch 6

Seit sie Trovi begegnet waren, führte der Weg wieder gegen Süden. Natürlich hofften sie, dass sie sich nicht getäuscht hatten, dass sie irgendwann Bekanntes entdecken würden. Doch die Gegend war für sie absolut neu. Auch verstanden sie kaum etwas, wenn sie Menschen sprechen hörten. Noch immer waren sie in der Nordost-Schweiz, weit ab von dem, was sie kannten.

Sie verliessen den Uferpfad und suchten sich einen sicheren Weg hinunter. Plötzlich standen sie mitten in einem kleinen Gartenareal. Es gab hier kleine Wege, die im Zick-Zack vom oberen Eingang ins Tal hinunter führten. Unterwegs waren Plattformen angebracht, von welchen die Besucher den Rheinfall betrachten konnten. Auch hier war es von der Gischt total nass und glitschig. Die Katzen hassten Wasser und fanden diesen Weg gefährlich und schrecklich. Trotzdem mussten sie diesen Pfad ins Tal nehmen. Sie begegneten nur wenigen Menschen, alle in Plastikmäntel gewickelt. Die meisten von ihnen waren mit einem Fotoapparat ausgerüstet. Sie konnten nicht genug davon bekommen, dieses natürliche Schauspiel im Bild festzuhalten. Unterhalten konnten sie sich kaum, denn der Wasserfall war so laut, dass man hätte schreien müssen.
Am Fusse des Rheinfalls gab es einen kleinen Imbissstand, wo auch Souvenirs verkauft wurden. Vermutlich hätten sie hier ein paar Leckerbissen gefunden. Doch die Katzen wollten hier trotzdem nicht verweilen. Es war ihnen einfach zu nass. Dennoch waren sie froh, dass sie den Abstieg auf relativ einfache Weise geschafft hatten. Sie konnten die Treppen und Wege benutzen, die man hier für die Besucher angelegt hatte. Die Touristen hatten ihre Blicke auf den Rheinfall gerichtet, und niemand beachtete die kleine zwanzigbeinige Gruppe, die sich nach unten schlich.
Als sie weiterzogen hörten sie hinter sich noch immer den tobenden Wasserfall. Allmählich wurde der Lärm geringer und auch der Fluss hatte sich beruhigt. Er zog langsam in schlängelnder Linie durch die grüne Gegend.
Dann, nach zwei Wochen Fussmarsch, machte der Fluss wieder eine Wende. Jetzt schlängelte sich das nasse Etwas wieder gegen Westen. Auf der Seite, auf der die Katzen ihren Heimweg suchten, war die Gegend flach und stark bebaut. Wenn sie hingegen nach Deutschland hinüber schauten, sahen sie weite Felder. Im Hintergrund konnten sie Berge und hohe Tannen entdecken. Eigentlich wären sie gerne in die Wälder auf der anderen Seite gegangen, doch ihr Ziel lag auf dieser Flussseite. Es gab zalhreiche Brücken, die diese beiden Länder verbanden. Hier leben verschiedene Staatsangehörige dicht beieinander, kaum vorstellbar, dass sie durch eine Landesgrenze getrennt sind.
Die meiste Zeit führte eine grosse Hauptstrasse dem Fluss entlang. Da mussten die Katzen gut aufpassen, denn hier drohte Gefahr. Es war eine Schnellstrasse. Sie sahen die Autos in unheimlicher Geschwindigkeit an ihnen vorbei rasen.
Weiter hinten bog die Strasse vom Fluss weg und die Gruppe befand sich in einem kleinen Waldstück. Hier herrschte unendliche Ruhe. Die Stille war schon fast beängstigend. Die Tiere verlangsamten ihr Tempo und schickten ihren Anführer voraus, die Lage zu erkunden. Wieder einmal war es Shumba, der die Nase vorn hatte. Er befahl den anderen, sich unter einem Gebüsch zu verstecken und zu warten.
Langsam schlich er den kleinen Weg entlang, der zu einem grossen Tor führte. Zwar war das ganze Areal mit einem dichten Drahtgeflecht eingezäunt, doch das Tor stand weit offen. Für Shumba war dies eine Einladung. Er versteckte sich hinter der Hecke und schaute um die Ecke. Hatte er sich getäuscht oder war soeben eine Katze vorbei gerauscht?

Doch diese Zeit war längst vorbei. Die Dynamitfabrik war schon vor vielen Jahren still gelegt worden. Die Arbeiten waren eingestellt und das Areal geräumt. Trotzdem wurde das Gelände nicht neu überbaut. Man wollte es so lassen, wie es damals errichtet worden war. Die Fabrikbesitzer wussten von der Schönheit dieses Plätzchens Erde. Auch jetzt, wo die ursprünglichen Firmeninhaber nicht mehr lebten, beliess man alles, wie man es damals verlassen hatte. Viele Jahre ging niemand hierher. Das Tor war verriegelt und die Leute hatten noch immer Angst, dass etwas in die Luft fliegen könnte. Die Stadt hatte sich mit den Erben geeinigt, dass man das Areal natürlich belassen wollte, nur wollte man sicherstellen muss, dass für Passanten keinerlei Gefahr drohte.

Shumba rannte zurück zu seinen Freunden. "Kommt, das müsst ihr sehen". Wenige Minuten später standen sie da, wo eben Shumba seinen Augen nicht getraut hatte. Es ging ihnen genau gleich. So etwas hätten sie nicht erwartet. Und heute war Sonntag. Niemand arbeitete. Zu hören war lediglich das Plätschern des kleines Bächleins, das den Teich speiste.

Ein schmaler Weg führte in ein kleines Tal hinein, das hinter dem letzten Haus begann. Weiter hinten sahen sie einen flachen Hügel. Hier war das Tal vermutlich zu Ende. Sie gingen weiter und entdeckten mitten in der Wiese eine Katze, die einer Maus auflauerte. Als sie die Gruppe sah, rannte sie weg. Sie sahen sie in einem Haus verschwinden.
Dieses Wochenendhaus war das letzte Gebäude in diesem Tal. Ein Zaun trennte die Wildnis vom sauber gepflegten Garten ab. Die Mieter dieses Häuschens legten grossen Wert auf eine saubere, liebevolle Umgebung. Es war das einzige Holzhaus in diesem Tal, weit ab von den Menschen. Man sah, dass es erst kürzlich gestrichen worden war.


Die Katzen waren irritiert von der Sauberkeit dieses Häuschens und seiner Umgebung. Wo war er denn jetzt, der Kater, der eben noch auf der Lauer gelegen hatte? Ihre Augen suchten jeden Winkel ab. Dann entdeckten sie ihn. Er sass neben dem Haus auf einem Stapel Holz. Von oben herab betrachtete er die Katzen, die mitten im Feld standen und etwas verwundert die Umgebung erkundeten. "Hallo", begrüsste er sie, "wohl fremd hier?" Sie krochen unter dem Zaun hindurch und gingen auf ihn zu. "Ja, sind auf der Durchreise. Weisst du, wo es etwas zu futtern gibt?" "Klar", sagte er "müsst nur zurück. Unter dem ersten Haus gibt es eine Futterstelle, da gibt es reichlich. Viel Glück und tschüss."
Das liessen sie sich nicht zwei Mal sagen. Ob er wohl die Wahrheit gesagt hatte oder sie einfach loswerden wollte? Sie marschierten zurück, vorbei an den kleinen Häusern, ihrer Nase nach in Richtung Haus Nummer Eins. Und siehe da, er hatte nicht gelogen. Unter dem ersten Haus befand sich tatsächlich eine Futterstelle. Und nicht nur das, unter diesem Häuschen standen zahlreiche Häuschen und Betten. Alle waren ausgelegt mit Wolldecken und Tüchern. Es roch nach Katze, doch keine war zu sehen.
Die Futternäpfe waren noch halb voll. Endlich etwas zu futtern. Jetzt merkten sie erst, wie hungrig sie waren. Es war schon zwei Tage her, seitdem sie das letzte Mal etwas zu fressen hatten. Und jetzt so was! Es war ja wie im Paradies. Höhlen, Betten und gefüllte Futterschüsseln. Sie machten sich gleich über das Fressen her. Es schmeckte exzellent, ein wahres Festmahl. Seit Monaten hatten sie kein echtes Katzenfutter mehr gehabt und hier stand es für sie bereit, als hätte man sie erwartet.
Sie frassen gierig bis ihre Bäuche prallvoll waren, deswegen sie nicht bemerkt hatten, dass sie Gesellschaft bekommen hatten. Die Katzen, die hier wohnten, waren zurückgekehrt. Es hatte sich im Wald bereits herumgesprochen, dass Fremde eingetroffen waren. Mit etwas Abstand betrachteten sie die Eindringlinge, die gierig in den Töpfen herumschlabberten. Sie waren wirklich nicht von hier, man hatte sie noch nie gesehen. Doch ausgehungert sahen sie aus und müde obendrauf. Sie wollten ihnen helfen, denn hier gab es Futter in grossen Mengen. Seitdem die Fabrik geschlossen war, wurden sie von einer Katzenliebhaberin versorgt. Die Besitzer wussten von den wilden Katzen, die hier lebten. Ohne menschliche Hilfe wären sie dem Tode geweiht. Die nette Frau kam jeden Tag, ob Sommer oder Winter, und brachte ihnen Futter. Im Winter bekamen sie zusätzlich warmes Wasser. Sie hatte ihnen kleine Häuschen aufgestellt und diese mit warmen Decken gepolstert. Sie hatte ihnen Namen gegeben und sprach oft mit ihnen. Ein paar liessen sich streicheln, andere hingegen hielten auch jetzt noch - nach Jahren - einen Schutzabstand. Sie waren wild geboren und kannten den Menschen nicht.
Doch vor ihr musste niemand Angst haben. Sie war ein guter Mensch mit einem grossen Herz für Katzen. Ihre letzten Ersparnisse wurden in Katzenfutter umgesetzt, damit ihre Lieblinge etwas zu fressen hatten. Manchmal kamen auch Fremde hierher, die von den wilden Katzen der Dynamitfabrik erfahren hatten. Ab und zu brachte auch der Tierschutzverein der Region ein Auto voller Leckereien vorbei. Sie stellten Futterdosen oder Säcke mit Trockenfutter ab, damit die Frau es ihren Lieblingen auftischen konnte.
Shumba, Beauty, Aramis, Ginger und Silver konnten kaum glauben, was sie sahen und wie freundlich sie hier aufgenommen wurden. Endlich waren sie satt, ein Gefühl, das sie seit Wochen nicht mehr gekannt hatten. Nun waren sie müde geworden. Sie suchten sich einen Korb aus und legten sich schlafen. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, wie lange sie schon unterwegs und wie müde sie waren. In der freien Wildbahn konnten sie nie ganz tief schlafen. Mit einem Ohr waren sie immer wach, um eine allfällige Gefahr sofort zu erkennen. Doch hier war es so friedlich, dass sie endlich wieder mal tief und fest schlafen konnten.


Und dann kam noch der Chef der Dynamitkatzen, ein strammer rot-weisser Kater. Er schaute nicht weniger verwundert, als er die Fünf in ihren Liegebetten vorfand. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie er vor vielen Jahren hierher kam. Auch er hatte eine lange Reise hinter sich und war heilfroh, endlich einen Platz gefunden zu haben, wo er sich niederlassen konnte. In ihm stiegen Erinnerungen hoch, die er schon vor langer Zeit in die Unendlichkeit hatte verbannen wollen. Jetzt, wo er die müden Augen der Neuankömmlinge sah, wusste er, dass er ihnen helfen würde.



Die Katzen blieben ein paar Wochen im Dynamitareal. Sie halfen mit, wo immer sie konnten. Manchmal putzten sie die blinde Mimmi, so hiess die Schildpattdame und befreiten sie von den Blättern, die sich in ihrem Pelz verfangen hatten. Ihr gefiel diese Liebkosung ausserordentlich. Mit jedem Tag, den sie hier verbrachten, wurden sie kräftiger. Die Ruhe und das regelmässige Fressen hatten ihnen die Energie zurückgegeben, die sie auf ihrer langen Reise verloren hatten. Sie hatten keine Angst vor den Menschen, die sie schon von klein auf kannten. Trotzdem blieben sie stets auf Abstand, wenn die Frau zum Füttern vorbei kam.
Als sie wieder einmal am Futternapf standen und gierig frassen, nahm sie ein kleines Gerät aus der Tasche und hielt es Beauty an den Hals. "Pieps", ein kleiner Ton erschallte, und auf der Maschine erschien eine lange Nummer. Sofort notierte sie die Zahl, die von Beautys Hals stammte. Es gelang ihr nicht, sich den anderen Tieren zu nähern. Wenn sie einen Schritt vorwärts machte, machten die Katzen einen Sprung nach hinten. Es war ihr nicht möglich herauszufinden, ob auch die anderen Katzen einen Chip trugen.
Zuhause rief sie die zentrale Meldestelle an und gab Beautys Chip-Nummer durch. Verwundert griff sie zum Telefon. Die Nummer, die sie einstellte, stammte aus der Region Basel. Hier war man noch im tiefsten Aargau, weit weg von Basel.
Ina traute ihren Ohren nicht, als sie von Beautys auftauchen vernahm. Es war schon mehr als ein Jahr vergangen seit dem Unfall. Erst hatte sie noch en. Doch mit der Zeit musste sie einsehen, dass sie sich selber etwas vormachte. Bestimmt lebten sie nicht mehr und sie musste sich mit diesem schrecklichen Gedanken abfinden. Doch jetzt teilte ihr eine freundliche Stimme mit, dass man Beauty gefunden hatte. "Wie bitte, bei Zurzach? Das gibt es ja nicht". Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. In dieser Nacht konnte sie kein Auge zu machen. Was würde sie erwarten? Die Frau hatte zwar gesagt, die Katze sähe recht gut aus. Doch würde Beauty ihr ehemaliges Frauchen wieder erkennen? Sie wälzte sich schlaflos von einer zur anderen Seite und zählte die Minuten bis es endlich so weit war.
Dann fuhr sie los. In Gedanken war sie bereits dort. Wie wird es wohl sein, wenn sie ihre Beauty wieder in die Arme schliessen könnte? Die Fahrt dauerte fast zwei Stunden. Sie hatten sich ganz in der Nähe des Dynamitareals verabredet. Ina stellte den Wagen ab und begrüsste die Frau, mit der sie gestern telefoniert hatte. Zusammen gingen sie ins Areal zu der Stelle, an der Beauty und ihre Freunde gestern noch gelegen hatten.
Inas Herz pochte bis zum Hals. Nur noch wenige Minuten und sie würde Ihre Beauty in die Arme schliessen können. Sie kniete nieder und schaute unter die Hütte. Ein glitzerndes Augenpaar war zu sehen. "Beauty", rief sie. Nichts passierte. Die Katze hatte nur kurz aufgeschaut und sich wieder zusammen gerollt. Doch Ina liess nicht locker. Sie rief immer und immer wieder Beautys Name, so lange, bis es der schlafenden Katze zu viel wurde. Sie stand behäbig auf und kroch hervor. Vor Ina stand eine Tigerkatze, dünn und verdreckt. Nein, es war nicht ihre Beauty.

Vier Kilometer entfernt schlenderten fünf Katzen dem Ufer entlang. Sie hatten ihre Kraft wieder gefunden. Nachdem sie sich von ihren Freunden im Dynamitareal verabschiedet hatten, machten sie sich wieder auf den Weg heimwärts.