Insel Mainau
Buch 6
Die Katzen waren weitergezogen gegen Norden. Wie erstaunt waren sie doch, dass es hier wieder einen grossen See gab. Sie waren auf einer kleinen Halbinsel gelandet, die den oberen vom unteren See teilte. Auf dieser Halbinsel gab es fast keine Häuser. Die Katzen fanden es umwerfend schön und interessant. Wohin das Auge reichte, unbebaute Felder und Mäuse in Hülle und Fülle.
Es war ein schöner Samstagmorgen, als sie diesen schrecklichen Lärm hörten, der die Stille dieser Gegend unterbrach. Die Katzen waren eben von der morgendlichen Jagd zurückgekommen, als sie über dem Horizont die ersten Autos entdeckten. Die Lärmkolonne kam näher, vorne voran drei riesengrosse Autocars. Dahinter kam ein Auto nach dem andern. Die Blechlawine zog nicht an ihnen vorbei. Stattdessen stellten die Touristen ihre Autos auf dem grossen Feld ab, eines neben das andere. Sie wirbelten beim Parkmanöver den ganzen Sand auf. Jetzt wussten die Katzen endlich, wieso dieses Feld gerodet war und überall Stangen aufgestellt waren. Diese Stangen grenzten die einzelnen Parkfelder ab. Sie konnten es kaum glauben. Innert einer Stunde war der Parkplatz brechend voll. Unzählige Autocars und Hunderte von Autos hatten sich hier versammelt. Was wollten die Leute hier? Wieso waren sie von überall her gekommen?
Sie schauten den Leuten nach, die zielstrebig zum "Eingang" gingen, was immer das wohl heissen mochte. Sie schlichen ihnen nach, stahlen sich von Gebüsch zu Gebüsch. Die Menschengruppen zahlten an der Kasse irgendeinen Betrag und schlenderten Richtung See hinaus. Ob die hier wohl baden wollten? Die Katzen gingen ihnen nach. Der Weg führte über einen schmalen Pfad. Links und rechts davon sah man Wasser. Manchmal blieben die Leute stehen und berieten sich. Sie nahmen ihren Fotoapparat hervor und machten Aufnahmen.
Die Katzen waren damit beschäftigt, die Menschen zu beobachten und aufzupassen, nicht erwischt zu werden. Sie wurden den Eindruck nicht los, dass sie hier unerwünscht waren. Doch ihre Neugier war zu gross. Wenn so viele Menschen hierher kamen, musste es wohl etwas Sehenswürdiges geben. Sie blieben ihrer Menschengruppe dicht auf den Fersen. Nachdem sie den schmalen Pfad verlassen hatten, entdeckten sie eine Baumgruppe am See. Dort setzten sich die Leute hin und packten ihren Proviant aus. Mittlerweile war es fast Mittag geworden und die Menschen hatten nach der langen Reise Hunger bekommen.
Die Katzen sahen ihnen zu, beobachteten jeden Handgriff. Bei jedem Bissen, den die Leute zu sich nahmen, nahm auch der Hunger der Vierbeiner zu. Sie rochen den Schinken und den Salami im Sandwich und wünschten sich, einen Bissen davon abzubekommen. Sie sassen unter dem Gebüsch, gar nicht weit weg von der Menschengruppe und beobachteten sie ganz genau. Im See schwammen unzählige Schwäne und Enten. Auch das Federvieh hatte die Touristen entdeckt. Frech waren sie, einfach nur frech. Im Gegensatz zu den Katzen, die sich immer noch versteckt hielten, kamen sie ganz nahe. Sie wussten genau, dass sie immer etwas vom Mittagessen abbekommen würden. Sie stolzierten auf ihren eigenartigen Füssen aus dem See, direkt zu den Menschen hin. Dabei schnatterten sie mit ihren krummen Schnäbeln in allen Tonlagen. Welch Pech für diese Vögel. Die Menschen waren nicht so freigiebig wie erwartet. Sie assen weiter, ohne sich um die Enten und Schwäne zu kümmern. Sie hatten das Schild "Bitte nicht füttern" gesehen und hielten sich daran. Welch Glück für die Katzen. Sie mussten zwar lange ausharren, doch irgendwann war das Mittagessen der Menschen zu Ende. Sie wickelten die letzten Reste in eine Tüte und entsorgten sie in einem Mülleimer. Dann gingen sie weiter, hinein ins Blumenparadies.
Als sie niemanden mehr sahen, krochen die Katzen aus ihrem Versteck. Sie klauten mit ihren scharfen Krallen die Papiertüte aus dem Mülleimer. Die Beute trugen sie zurück in ihr Versteck. Dort teilten sie sich die Brotreste, die noch immer nach Butter und Schinken rochen. Viel war es nicht, was man ihnen zurück gelassen hatte, doch etwas ist mehr als nichts.
Nach einem kurzen Mittagsschlaf schlenderten sie weiter. Sie wollten auch sehen, was die Menschen hierher zog. Als sie um die nächste Ecke bogen, sahen sie es. Jetzt konnten sie verstehen, warum die Leute von überall her in dieses Paradies kamen. Sie wussten gar nicht, wonach es genau duftete. Sie streckten ihre Nase in den Wind und sogen die zahlreichen Düfte ein. Millionen von Blumen wuchsen hier, in allen Arten, Grössen und Farben. Jede Blüte duftete wieder anders. Sie waren in wunderschönen Feldern angeordnet, meist sortiert nach Farben, und liebevoll gepflegt. Diese Insel, die Insel Mainau, war eine Blumeninsel, für ihre Schönheit berühmt auf der ganzen Welt. Nebst Blumen, Bäumen, Kräutern und Gebüschen gab es hier auch kleine Wasserfälle und Seen. Für die Kinder waren Spielplätze angelegt worden. Sogar eine Eisenbahn fuhr quer durch ein wunderschönes Blumenfeld. Natürlich gab es mitten drin noch ein Restaurant, damit man mitten im Blumenmeer ein Mittagessen einnehmen konnte.
Die Insel war riesig, jedoch vollkommen bepflanzt mit den schönsten Blumen dieser Erde. All diese Blumenfelder waren mit Fusswegen verbunden. Die Touristen konnten stundenlang durch Blumenfelder gehen und hatten auch nach einem mehrstündigen Spaziergang noch nicht alles gesehen. Die Katzen entdeckten auch Sehenswürdigkeiten, die aus Stein gehauen waren. So gab es zum Beispiel einen riesengrossen Esstisch aus Stein, an dem Steinmenschen sassen. Dazwischen blühten Rosen und Dahlien. Die Tiere konnten sich nicht satt sehen. So etwas Gigantisches hatten sie wahrlich noch nie gesehen.
Am Ende der Anlage gab es einige Treibhäuser, die von den Besuchern als besondere Attraktion bewertet wurden. Als ein Kind die Türe aufhielt, schlich sich Silver unter den Füssen hindurch ins Innere. Er stand mitten in einem tropischen Garten. Die Luft war so feucht, dass überall Wasser von den Pflanzen tropfte. Palmenwedel und Kletterpflanzen, dazwischen kleine Bächlein, Farngräser und riesengrosse tropische Blüten. Es war trotz zahlreicher Besucher totenstill in diesem Treibhaus. Den Menschen blieb schlicht und einfach die Spucke weg. Auf kleinen Holzbrettchen lagen Orangen- und Zitronenschnitze, manchmal auch eine Schale mit Sirup. Und rund um dieses leckere Mahl flogen Schmetterlinge. Sie setzten sich auf den Orangenschnitz und sogen mit ihren kleinen Rüsseln daran. Dann flogen sie weiter zum nächsten Baum. Die Besucher standen mitten in den Schmetterlingen. Manchmal setzten sich diese wunderschönen Tiere auf ihre Hand oder Schulter. Sie waren federleicht und wunderschön gezeichnet. Welch Geschöpf der Natur! Silver wurde etwas neidisch. Wenn er nur fliegen könnte und nicht einfach nur grau wäre. Vielleicht würde man ihn dann auch bewundern und streicheln. Die Flatterviecher machten ihn nervös. Sie flogen ihm um den Kopf, doch er wusste genau, dass er sie nicht schnappen durfte. Er spürte, dass er hier falsch war, zudem war es ihm viel zu nass, igitt! Als die Türe das nächste Mal aufging, rannte er hinaus zu den anderen.
Shumba schüttelte nur den Kopf, als er Silver sah, der mit nassem Kopf aus dem Treibhaus rannte. "Hey, Du Lümmel, bist eigentlich verrückt? Das hätte ins Auge gehen können! Wenn dich jemand entdeckt hätte". Die Katzen verbrachten ein paar Tage auf der Blumeninsel. Sie hatten genug Nahrung, denn die Touristen hinterliessen ihnen viele Essensreste. Sie genossen es, im Kräutergarten zu liegen und den Duft der Katzenminze einzuziehen. Sie lachten nur, wenn die Gärtner am über die heruntergedrückten Flächen fluchten. Diese wussten genau, dass hier unerwünschte Tiere hausten, doch gesehen hatten sie noch keine.
Die Katzen kümmerten sich nicht um die Gärtner. Sie genossen ihr Paradies und die Wärme des Sommers. So viele Blumen hatten sie wirklich noch nie gesehen. Die Hyazinthen hatten einen magischen Duft und sie streckten ihre Nasen mitten in die Blütenkelche der violetten und roten Blumen. Diese Düfte wirkten berauschend.
Nach einer Woche war ihr Tatendrang abgeflaut. Ihre Reise war noch nicht zu Ende, das wussten sie genau. Doch diese Blumeninsel wollten sie so lange als möglich geniessen. Sie gingen zurück zum Eingang und überquerten den nun leeren Parkplatz. Es war Abend geworden und der Mond stand hoch am Himmel. Sie schauten zu ihm hoch und zogen weiter, westwärts und ihrem Heim entgegen.