Katerchen in Not (LG) - Luskas Bücher

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Katerchen in Not (LG)

Buch 5
Katerchen inNot (LG)

Katerchen bekam seinen Namen vor ein paar Jahren. Für uns in der Schweiz ist dieser Name etwas ungewöhnlich. Hier nennen wir unsere Tiere anders, geben ihnen meistens Menschennamen oder finden eine lustige Bezeichnung auf Grund ihres Charakters oder Aussehens. Hier gibt es Strolchi, Mauzi, Garfield, Minusch oder Nero. Von einem Katerchen haben wir noch nie was gehört.

Das erstaunt auch niemanden hier, denn Katerchen lebt nicht in unserer Nähe. Er tauchte eines Tages im hohen Norden, in Berlin auf. Dort sass er auf dem Hof von Christine, ganz allein unter einem Gebüsch. Er war vollkommen abgemagert und verängstigt. Auch als ihn Christine leise angesprochen hatte, kam er nicht näher. Sie wusste nicht, was er erlebt hatte und was ihn hierher getrieben hatte. Wahrscheinlich stimmte etwas nicht mit dem kleinen Kater. Normalerweise können sich in dieser Gegend auch wildlebende Katzen in der freien Natur mit Mäusen oder anderen Kleintieren über Wasser halten. Und hier gab es weite Felder und einige Bauernhöfe, auf denen ganze Mauskolonien lebten. Doch Katerchen war bis auf die Knochen abgemagert. Vermutlich hatte ihn der Hunger zu Christine getrieben.

Sie gab ihm Futter, das er dankend annahm. Kaum hatte er den letzten Bissen gefressen, rannte er davon. Es war ihm schon lange nicht mehr so gut gegangen wie heute. Endlich hatte er wieder etwas Nahrung bekommen. Doch anfassen liess er sich nicht. Er hatte Angst vor den Menschen.

Trotzdem trieb ihn der Hunger auch am nächsten Tag wieder zu Christines Hof. Er setzte sich wie am Vortag unter das Gebüsch und wartete, was geschehen würde. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Christine kam. Er sah schon von weitem den Futternapf in ihren Händen. Er steckte seinen dünnen Hals in die Höhe und sog den Duft des Futters ein. Christine stellte den Napf vor das Gebüsch und wartete. Doch Katerchen kam nicht. Sie war ihm noch viel zu nah. Erst als sich Christine auf die Bank setzte, kroch er aus seinem Versteck hervor. Er frass gierig, hielt kaum inne. Obwohl sein Maul im Futter steckte, hielten seine Ohren Ausschau. Sie drehten sich in alle Richtungen wie kleine Antennen. Kein Ton entging ihnen. Sie hörten jedes Geräusch und konnten innert Sekunden abschätzen, ob Gefahr drohte oder ob Katerchen weiter fressen konnte.

Christine sass auf der Bank und sah dem kleinen Kerl zu, der gierig frass. Sie schätzte den schwarz-weissen Kater auf halbjährig oder höchstens ein Jahr alt. Er sah erbärmlich aus, knochendürr und struppig. Sie wollte dem ausgemergelten Tier helfen. Katerchen konnte noch nicht so alt sein, doch warum war er nur so dünn? Sie konnte nur vermuten, dass etwas mit seinen Zähnen nicht stimmte oder dass er von Bandwürmern befallen war, die ihn immer dünner werden liessen. Sie wollte etwas dagegen unternehmen, doch erst musste sie das Vertrauen des Katers gewinnen. Und Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Christine brachte dem kleinen Tier jeden Abend Futter. Sie stellte es immer ans gleiche Ort und schaute ihm zu, wie er sich darüber her machte. Sein Hunger war auch nach vielen Tagen noch so gross, dass er die Wurmtablette nicht roch, die eines Tages unter sein Futter gemischt war. Christine kontrollierte den Napf genau, als sie ihn hoch hob. Er war blitzblank, leergeleckt. Die Tablette war weg. Also musste Katerchen sie gefressen haben. Nun konnte sie nur hoffen, dass er allmählich zunehmen würde.

Diese Prozedur wiederholte sie noch zwei Mal. Katerchen kam jeden Abend und wartete unter dem Gebüsch auf seine Ration Fleisch. Auch wenn sie den kleinen Kerl nicht anfassen konnte, war er ihr ans Herz gewachsen. Sie war überglücklich, als sie eines Tages voller Stolz entdeckte, dass es dem Tier besser ging. Man sah nicht mehr jeden Knochen unter seiner Haut. Allmählich setzte er etwas Fett an. Sein struppiges Fell bekam langsam einen leichten Glanz. Auch hielt er beim Fressen immer wieder inne. Kein Vergleich mehr zu den Fressgewohnheiten der ersten Tage. Damals hatte er alles nur runter geschlungen. Am liebsten hätte er den Teller gleich mitgefressen, so gierig war er darauf. Er verhielt sich halt wie ein wildes Tier, das voller Angst um sich schaut und stets absprungbereit ist. Heute waren die Begegnungen schon viel ruhiger geworden. Zwar war der kleine Kater noch immer sehr vorsichtig, doch die Panik in seinem Gesicht war verschwunden. Zwischen ihnen war eine zarte Bande entstanden, obwohl es noch eine etwas ungleiche Freundschaft war.
 
Es vergingen Wochen, nein Monate, und das Ritual wiederholte sich Tag für Tag. Sie trafen sich jeden Abend an der gleichen Stelle. Christine sprach regelmässig mit dem verängstigten Tier. Es sollte sich an ihre Stimme gewöhnen, die es gut mit ihm meinte. Allmählich wich die Angst aus dem kleinen Kater. Wer ihm so gutes Fleisch vorsetzte, konnte kein böser Mensch sein. Und Christine liess nicht locker. Sie brauchte zwar unendlich viel Geduld, denn sie wusste genau, dass eine unbedachte Handlung die Aktion um Wochen zurückwerfen konnte. Natürlich hätte sie den Kater noch so gerne gestreichelt, doch sie musste warten, bis er so weit war. Er musste den ersten Schritt machen. Er bestimmte das Tempo, mit dem die Annäherung vonstatten ging.
Bald merkte sie, dass sie beim Futternapf stehen bleiben konnte, ohne dass Katerchen wegrannte. Sie setzte sich daneben und schaute dem kleinen Kerl zu, wie er frass. Nun wollte sie es probieren. Ganz langsam fuhr sie mit ihrer Hand zu seinem Kopf. Er hielt inne, drehte sein rechtes Ohr in Richtung Christine. Seine Augen verfolgten die Hand, die sich ihm näherte. Trotzdem er Angst hatte, blieb er sitzen. Zwar drückte er seinen Körper dicht auf den Boden, um der Hand ausweichen
zu können, doch er blieb. Er liess es geschehen, dass ihn Christine sanft am Kopf streicheln konnte. Welch herrliches Gefühl, welch unbekannte Berührung. Katerchen wusste nicht, was mit ihm geschehen war. Er spürte eine Hand auf seinem Kopf, die ihn liebkoste. Er war absolut selig und zufrieden. Christine wischte sich die kleinen Tränen aus den Augen, die ihr bei der ersten Berührung des neuen Freundes über die Wangen gekullert waren. Es war für beide Partner ein erhebendes Gefühl. Auch als Katerchen seinen Teller leergefegt hatte, blieb er sitzen. Nun hatte er keine Angst mehr vor seiner neuen Freundin. Es war nur noch ein wenig Vorsicht vorhanden.

Innert weniger Wochen war aus der zaghaften Begegnung echte Freundschaft geworden. Das Duo traf sich jeden Abend zum Füttern, Streicheln und Schmusen. Katerchen lernte nach und nach, dass Berührung etwas Wunderschönes sein kann. Er schnupperte an Christines Hand, die ihm den Kopf und Nacken streichelte. Sie bekam auf diese Weise die Möglichkeit, Katerchen besser kennen zu lernen. Mit ihrer Hand konnte sie seinen Körper abtasten. Er war zwar immer noch dünn, doch auf dem besten Weg, ein stattlicher Kater zu werden. Sein Pelz war weich und sauber geworden. Ungeziefer hatte er keins.
Doch etwas liess er überhaupt nicht zu. Ab Rückenmitte war Tabuzone. Sobald Christines Hand das Kreuz erreicht hatte, wurde er unruhig. Manchmal begann er sogar zu knurren. Dann wich er ihrer Hand aus. Hier hatte sie nichts verloren, eine Berührung war verboten. Er hatte als Katzenbaby schlechte Erfahrung mit den Menschen gemacht. Sie hatten ihn in den Rücken getreten. Seither hatte er dort Schmerzen und liess sich an dieser Stelle nicht berühren. Doch sonst liess er sich überall liebkosen. Er genoss es, wenn sie ihm die Brust und den Kopf streichelte.

Manchmal sassen sie zusammen auf der blauen Bank, die draussen vor der Scheune stand. Von dieser Bank aus hatte ihn Christine vor Monaten das erste Mal beobachtet. In der Zwischenzeit setzte er sich regelmässig auf die Decke neben seine neue Freundin. Und dann, als es Herbst und kühler wurde, legte er sich sogar auf Christines Schoss. Hier war es weich und warm, ein kleines Fleckchen Paradies.

Auch Christine wusste, dass der Winter vor der Tür stand. Sie wollte dem Kater für den Winter einen warmen Unterschlupf anbieten und liess die Scheunentüre einen Spalt offen stehen. Doch Katerchen dachte nicht daran, nur eine Pfote da hinein zu strecken. Lieber würde er sich im Schnee irgendwo hinlegen und frieren. Sie versuchte immer wieder, Katerchen in die Scheune zu locken, doch der kleine Kater blieb eisern. Er hatte Angst vor geschlossenen Türen, würde um keinen Preis der Welt diesen Raum betreten.

So holte Christine eine Säge, Holz, Nägel und einen Hammer und schreinerte dem Katerchen sein eigenes, kleines Haus. Es war eigentlich nur eine Holzkiste mit einer halbrunden Oeffnung auf der Vorderseite. Natürlich gab es auch ein Dach, das den Regen abhielt. Da dieses aber nur aus Holz bestand und den Regen nicht allzu lange abhalten würde, stellte sie das neue Haus unter das Vordach der Scheune. Hier ist es auch viel wärmer als unter einem Gebüsch oder sonst wo. Die Scheunenwand würde vor dem kalten Wind schützen. Durch den halbrunden Eingang konnte Katerchen rein- und rausschlüpfen. Eine Tür gab es nicht. Innen drin war die Hütte mit weichen Kissen und einer Decke gepolstert. Natürlich kam durch die vordere Oeffnung etwas kalte Luft in den Innenraum, doch dann konnte sich der kleine Kater in die weichen Decken hüllen und die Nase in den Wind strecken. Eigentlich wäre die Scheune viel komfortabler gewesen, doch Katerchen wollte davon nichts wissen. Er war Christine unendlich dankbar für sein neues Zuhause und zog umgehend in die Holzkiste ein.

Die anderen Katzen auf dem Hof schauten Christine neugierig zu, wie sie Katerchens Haus zusammenschraubte. Sie kannten den schwarz/weissen Kater bereits und schauten ihrem Frauchen zu, wie es ihn jeden Tag füttern ging. Etwas neidisch waren sie schon auf das halbwilde Tier, denn er hatte nun ein eigenes Haus bekommen und sie nicht. Sie hatten natürlich auch keine Angst vor der Scheune, in der sie die kalten Winternächte verbrachten.

Ab und zu ging Christine mit ihren Katzen spazieren. Sie folgten ihr auf Schritt und Tritt. Katerchen beobachtete das Geschehen schon seit Tagen. Die Gruppe ging von einem Gebäude zum nächsten. Christine schaute nach den Tieren im Stall und nach dem Futter und Wasser. Es war der tägliche Rundgang, den sie durch die Stallungen machte. Ihre Katzen folgten ihr und beobachteten sehr genau, was sie da machte. Katerchen nahm allen Mut zusammen und gesellte sich zu den anderen Spaziergängern. Mit etwas Abstand folgte er Christine und ihrer Katzenschar. Solange es die Temperaturen zuliessen, fütterte Christine den kleinen Kater wie gewohnt unter dem Gebüsch und nahm ihn mit auf die kleinen Spaziergänge durch den Hof. Wie schön wäre es gewesen, wenn Katerchen seine Angst abgelegt und zu ihr ins Haus oder mindestens in die Scheune gekommen wäre. Doch dazu war es noch viel zu früh. Sie musste Geduld haben.

Es dauerte fast ein Jahr, bis Katerchen eines Tages an der Treppe zur Wohnung stand und nach oben schaute. Die Zeit war nun gekommen, auch Christines Wohnung kennenzulernen. Sie lockte ihn mit Fressen an und beobachtete ihn, wie er nach oben kam, frass und wieder runter in den Hof sprang. Am nächsten Tag blieb er etwas länger in der Wohnung sitzen. Er inspizierte vorerst mal den Eingangsbereich. Am nächsten Tag kam die Küche dran. Innert einer Woche war Katerchen in allen Räumen gewesen, hatte überall sein Näschen hineingesteckt. Es war schön hier, vor allem gemütlich warm. Aus der ersten kurzen Stippvisite war innert weniger Tage ein Daueraufenthalt geworden. Katerchen hatte eines Tages seine Kiste einer anderen Katze abgegeben und war bei Christine eingezogen.

Katerchen war in der Zwischenzeit zirka zwei Jahre alt geworden und noch unkastriert. Es bestand deshalb die grosse Wahrscheinlichkeit, dass Katerchen sein neues Heim mit Markierungen versehen würde. Doch Christine hatte grosse Angst davor, den Kater in einen Transportkorb zu stecken und zum Tierarzt zu bringen. Er hätte das Vertrauen in Christine verloren. Sie wollte damit noch etwas warten. Erstaunlicherweise markierte Katerchen überhaupt nicht, nahm sogar das Katzenklo dankbar an, das ihm Christine hingestellt hatte. Er verbrachte viel Zeit bei seiner Freundin. Aus dem ängstlichen Katzenkind war ein zutraulicher Kater geworden.

Die Kastration war jedoch noch nicht vergessen, nur aufgeschoben. Sie wollte unter keinen Umständen noch mehr Katzen haben. Zwar waren ihre Kätzinnen alle kastriert, doch wusste man nie, ob nicht noch irgendwo eine wilde Katze lebte, die ihr dann den Nachwuchs in die Scheune legte. Vorsichtshalber wollte sie Katerchen kastrieren lassen. Ein halbes Jahr später nahm Christine dann allen Mut zusammen. Sie verfrachtete Katerchen in die Transportbox und brachte ihn zum Tierarzt. Vermutlich ganz Berlin und Umgebung wussten nun, dass Katerchen eingesperrt war. Er brüllte sich die Seele aus dem Leib. Seine Stimme nahm ungeahnte Dimensionen an. Es musste schrecklich für ihn gewesen sein, und Christine hatte grosse Angst, dass ihre Liebe nun darunter leiden würde. Doch sie durfte nicht aufgeben, es war nun mal notwendig.

Als sie ihn am Abend nach Hause zurückbrachte, stellte er sich vor die Haustüre und wollte raus. Sie wusste nicht, was geschehen würde, ob er nun weglaufen und sie ihn nie mehr sehen würde. Mit ungutem Gefühl gab sie nach. Sie schaute ihm nach, wie er die Treppe runter rannte und im Dunkeln verschwand. Würde sie ihn wieder sehen? Sie konnte nicht einschlafen, dachte immer wieder darüber nach, ob sie richtig gehandelt hatte. Hätte sie auf die Kastration verzichten sollen? Sie hörte jedes Geräusch dieser Nacht, machte kein Auge zu. Gegen vier Uhr in der Früh hörte sie ein Kratzen an der Haustüre und leises Miauen. Katerchen war zurückgekommen. Er war noch etwas beleidigt, schlich still und leise an ihr vorbei, würdigte sie keines Blicks. Er hatte sein Revier abgelaufen und war nun todmüde. Er legte sich in sein Kuschelkissen und schlief bis tief in den Morgen. Christine war glücklich, dass Katerchen ihr nicht zu sehr böse war und zu ihr zurückgekehrt ist.
Aus dem  kleinen, verängstigten Kater war nun ein ausgewachsenes, wunderschönes Tier geworden. Er lebte dauerhaft bei Christine und verbrachte viel Zeit mit ihr. Die einstige Futterstelle draussen blieb schon lange unbenutzt, denn Katerchen lebte wie ein Hauskater im Hause und frass auch dort. Es war eine schöne Zeit, die sie zusammen verbrachten.

Doch an einem schönen Maitag war Katerchen verschwunden. Auch Christines intensive Suche blieb erfolglos. Ihr Herz weinte. Sie war unendlich traurig. Sie liebte diesen kleinen Kerl doch so sehr. Sie hatte alles Erdenkliche unternommen, um Katerchen wieder zu finden. Sie informierte den Tiersuchdienst, hatte überall Plakate aufgehängt. Sein Name wurde im Radio durchgegeben, auch hatte sie im Internet eine Suchmeldung platziert. Sie stand jeden Morgen um Vier am Küchenfenster und rief seinen Namen in die dunkle Nacht. Doch nichts geschah. Katerchen war unauffindbar. Mit jedem Tag, der verging, schmolz Christines Hoffnung auf ein gutes Ende. Ihr Herz brach jeden Tag etwas mehr auseinander. Nun waren schon zwei Wochen vergangen und sie hatte kein Lebenszeichen ihres pelzigen Freundes bekommen. Was war mit ihm geschehen? Diese Ungewissheit machte sie fast verrückt. Sie hatte von Tierquälern gehört und wollte gar nicht daran denken, was ihrem Schätzchen passiert sein könnte. Und dann stellte sie sich wieder vor, dass Katerchen von einem Auto angefahren worden war und nun irgendwo schwer verletzt liegt oder bereits gestorben ist. Sie war erfüllt mit den düstersten Gedanken und einer inneren Unruhe. Ihr Leben war aus den Fugen geraten. Erst jetzt erkannte sie, wie sehr sie diesen doch liebte. Durch die Zähmung des kleinen Kerls bestand eine ganz enge und innige Beziehung. Dies konnte nur jemand nachvollziehen, der selber schon diese Erfahrung gemacht hat.

Christine war unglücklicher denn je. Sie wusste sich keinen Rat mehr. Sie hatte alles Mögliche und Unmögliche unternommen, um mindestens in Erfahrung zu bringen, was mit Katerchen passiert war. Doch es gab nicht einen einzigen Hinweis, einfach nichts. Sie konnte an nichts Anderes mehr denken, war besessen von düsteren Gedanken um Katerchen. Und trotzdem fühlte sie noch immer das innere Band, das die Beiden verband. Es war noch da, noch nicht durchgerissen.

Seit Katerchens Verschwinden waren drei Wochen vergangen und Christines Hoffnung war endgültig erloschen. Sie musste immer sehr früh aufstehen, denn ihr Mann musste mitten in der Nacht zur Arbeit fahren. So war es auch heute. Als sie ihren Mann um vier Uhr in der Früh verabschiedete, hörte sie ein zartes Miauen unten an der Treppe. Christine rannte im Schlafanzug und in Socken die Treppe hinunter. Sie liess vor lauter Freude den Hausschlüssel fallen, den sie in der Hand hielt. Sie fand das Türschloss fast nicht, so zitterten ihre Hände. Dann sah sie ihn, wie er vor der Türe sass und um Einlass bat. Da sass Katerchen, verklebt, schmutzig und abgemagert bis auf die Knochen. Sie hob ihren Kater auf. Er war wieder da. Sie drückte ihn fest an sich, küsste ihn und streichelte seinen Kopf. Es dauerte lange, bis Christine sich vom ersten Freudenschock erholt hatte. Sie stellte ihrem Freund Futter und Wasser hin und schaute ihm zu, wie er gierig frass. Erst jetzt entdeckte sie die wunden Stellen an seinem Bauch und den Beinen. Wo einst weisses Haar war, gab es nun blutige, schmutzige kahle Stellen. Manche von ihnen waren leicht verkrustet. Sein Fell war am ganzen Bauch wie weggerissen. Stattdessen klebte überall Beton an seinen Pfoten und Beinen. Seine Krallen waren runtergewetzt, als habe er tagelang versucht, sich zu befreien. Sie reinigte seine Wunden so gut es ging und liebkoste ihn noch mehr als sonst. Er kroch auf ihren Schoss und schnurrte ihr ins Ohr. "Oh, Katerchen, was ist denn passiert?" Katerchen war froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Doch seit diesem Tag wollte er das Haus nicht mehr verlassen. Er war viel ängstlicher geworden als vorher, dafür noch viel verschmuster als zuvor.
Vier Tage lang hatte er noch Durchfall, und Christine musste ihn mehrmals täglich putzen, bis endlich auch der letzte Beton aus seinem Fell verschwunden war. Langsam wächst sein Fell wieder nach, doch die Wunden in seiner Seele sind geblieben.
Erst Monate später hatte sie per Zufall erfahren, was passiert war. Katerchen war auf einer Baustelle auf Entdeckungstour gewesen. Dabei hatte er im Keller einen noch warmen Boden entdeckt, auf den er sich gelegt hatte. Dass dieser Boden extrem gefährlich war, merkte er viel zu spät. Er war im noch nassen, jedoch wohlig warmen Beton der Baustelle hängen geblieben. Bevor er die Gefahr erkannte, war der Beton hart wie Stein geworden. Er konnte sich nicht mehr aus seiner Notlage befreien. Erst die Bauarbeiter, die nach den Ferien zurückgekehrt waren, konnten den kleinen Kerl aus dieser misslichen Lage befreien. Allerdings musste sie ihm einen Teil des Pelzes abschneiden. Doch das verängstigte Tier war derart geschwächt, dass es sogar diese Prozedur über sich ergehen liess. Bevor sie ihn packen und zum Tierarzt bringen konnten, war er ausgebüchst. Sie sahen ihn nur noch, wie er mit ausgestrecktem Schwanz davon rannte. Sie ahnten, dass er den Weg nach Hause kannte und hofften, dass man sich dort um ihn kümmern würde.

Seit diesem Tag wollte Katerchen das Haus nicht mehr verlassen. Er hatte sich freiwillig dazu entschlossen, Wohnungskater zu bleiben. Für Christine war das kein Problem, denn so hatte sie ihren Schatz den ganzen Tag um sich herum. Wer weiss, vielleicht locken die Sonnenstrahlen im Sommer Katerchen wieder in den Hof hinunter. Man sagt ja nicht umsonst, die Zeit heile alle Wunden.



War das nicht eine schöne Geschichte? Im Freigehege war es mucksmäuschenstill gewesen. Alle hatten gebannt auf Lucky geschaut und ihm zugehört. Nun war auch er ruhig geworden. Lucky lag noch immer im kühlen Gras und leckte sich die Pfoten. Auf der anderen Seite des Zauns sassen seine Freunde. Alle Blicke waren noch immer auf ihn gerichtet. Sie beobachteten Lucky, wie er sich in der Runde umschaute. Die Katzen warteten geduldig auf die nächste Geschichte, die ihnen Lucky erzählen würde. Doch für heute war es genug. Er hatte genug geredet. Lucky stand auf, streckte sich der Länge nach und machte dann einen Riesen-Buckel. Er musste erst wieder alle Glieder lockern, denn die Geschichte war sehr lange gewesen und er lag etwas unbequem im halbnassen Gras.
Nein, für heute war die Märchenstunde beendet. Er verabschiedete sich und schlenderte davon. Die Tierheimkatzen schauten ihm nach, wie er im Wald verschwand. Dann kletterten auch sie hoch hinauf auf den Katzenbaum und legten sich in ihre Höhle. Bald würde es Futter geben, denn es war schon fast Abend geworden. Die Jungtiere holten ihre Spielsachen hervor und rannten um die Wette. Manchmal wusste man nicht, ob sie nun miteinander spielten oder streiteten. Ab und zu hörte man ein Quietschen und wusste nicht, ob das Kätzchen nun gebissen oder nur gekitzelt worden war. Die alten Katzen waren froh, dass sie sich hoch hinauf in die Höhlen verkriechen konnten. Das hektische Treiben der Katzenbabies war ihnen zu viel. Sie wollten ihre Ruhe haben. Die Kleinen hingegen konnten nicht genug vom Spiel bekommen. Sie fühlten sich beim Rumtoben sehr wohl. Irgendwie mussten sie ihre überschüssige Energie loswerden und das konnten sie am besten beim Spiel mit den anderen Katzen.
Es ging nicht lange und sie hörten das Klappern der Futterschüssel. Jetzt würde es war zu knabbern geben. Nullkommaplötzlich war das Aussengehege wie leer gefegt. Die Katzen sassen an der Eingangstüre und warteten auf den Pfleger, der ihnen das Nachtessen bringen würde. Sie sahen ihn bereits, wie er im Nebenraum die Näpfe füllte. Sie freuten sich auf das leckere Mahl. Als er die Türe öffnete, stand er mitten in einer Katzenschar. Sie schauten alle an ihm hoch, fixierten das Tablett, auf dem ihr Futter stand. Ein paar miauten, andere versuchten sein Bein hochzuklettern. Zu seinen Füssen stand eine unruhige Meute. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er gedacht, die Tiere hätten schon seit Wochen nichts mehr gefressen. Er musste sich richtiggehend wehren, um das Tablett unversehrt abstellen zu können. Dabei musste er gut aufpassen, dass er keiner Katze auf den Schwanz oder die Pfote stand. Sie drängten sich um seine Beine. Jede wollte die Erste sein, die zu fressen bekam. Dann ging alles blitzschnell. Er stellte jeder Katze ihr Futter hin. Das Miauen und Kratzen hörte innert Sekunden auf. Er sah die Köpfe, die tief in den Futternäpfen steckten. Aus dem Geschrei war ein Schmatzen geworden. Nur die älteren und scheuen Katzen waren etwas abseits geblieben. Sie wollten nicht ins Gedränge rein, denn sie wussten schon lange, dass auch sie genug Futter bekamen. Der Pfleger war froh darüber, dass wenigstens ein paar der Katzen die Ruhe bewahrten. Er stellte ihnen den Futternapf in ihre Box und schaute ihnen zu, wie sie gemächlich hinein gingen und es sich munden liessen. Ein paar von ihnen bekamen Medikamente. Wenn es möglich war, versteckte er die Tabletten im Fressen. Bei manchen Medikamenten ging das sehr gut, denn sie waren geruchlos. Trotzdem musste er aufpassen, dass die Katze das Futter auch wirklich frass. Es durfte auf keinen Fall passieren, dass eine der jüngeren Tiere vor lauter Futterneid versehentlich die Tablette verschlang. Doch dafür sorgten die älteren Tiere schon selber. Wehe, wenn ihnen eines der Jungtiere zu nahe an den Futternapf ging. Dann knurrten sie nur kurz und der Eindringlich verschwand sofort.

Leider gab es auch Medikamente, die man nicht so leicht verstecken konnte. Die Katzen waren nämlich in dieser Hinsicht äusserst schlau. Das Problem kennt jeder Katzenhalter, der schon mal versucht hat, einer Katze eine Tablette zu geben, die sich unter keinen Umständen zu sich nehmen will. Dies wird für das Tier und den Halter eine Herausforderung. Doch der Tierpfleger hatte grosse Erfahrung damit. Er wusste genau, wie man das Tier halten und überlisten konnte. So war es für ihn ein Leichtes, die Tabletten zu verabreichen.

Als die Tiere mit dem Nachtessen fertig waren, hockten sie sich hin und putzten sich. Nun war es für den Pfleger an der Zeit, die Katzenklos zu putzen. Dies machte er jeden Abend, bevor er nach Hause ging. Die Tiere beobachteten jede seiner Bewegungen und folgten ihm auf Schritt und Tritt. Manchmal setzte er sich noch zu ihnen und streichelte sie. Dann durften sie auf seinen Schoss hocken und sich an ihn drücken. Sie sogen seinen Duft auf und schnurrten. Sie liebten ihn sehr, auch wenn sie ihn mit vielen anderen Tieren teilen mussten. Dennoch hofften sie, dass sie eines Tages einen eigenen Menschen bekommen würden, den sie mit niemandem teilen müssten.

Währenddem im Tierheim die Schmusestunde stattfand, schlenderte Lucky nach Hause. Auch er hatte Hunger, denn die Maus, die er im Wald angepeilt hatte, war ihm durch die Lappen gegangen. Daheim wartete man bereits auf ihn, denn es war schon dunkel geworden und das Herrchen hatte ihn schon vermisst. Heute gab es sogar sein Lieblingsfutter, einfach lecker. Dann legte er sich zu seinen Menschen aufs Sofa und rollte sich ein. Es war wieder einmal ein interessanter Tag gewesen.
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