Prolog
Buch 4
Es gibt sie in allen Farben und Zeichnungen. Manche haben kurzes Haar, andere nennen ein Langhaarkleid ihr eigen. Es gibt ängstliche und neugierige Exemplare. Die einen haben grosse, runde Kulleraugen, eine andere Rasse schaut eher durch kleine Schlitzaugen in die Natur. Viele von ihnen leben wohlbehütet bei "ihrem Menschen", einige sogar als reine Wohnungskatzen. Die Wildgeborenen haben von der Natur die Gabe erhalten, sich ohne Heim durchzuschlagen. Sie führen ein hartes, aber recht interessantes Leben. Ob sie schwarz, weiss, braun oder dreifarbig sind, eines haben sie alle gemeinsam. Sie lieben es, verwöhnt und gefüttert zu werden. Dafür schenken sie uns Menschen ein Schnurren oder legen uns ihre Pfote auf. Wer einmal in ihren Bann geraten ist, kommt nie mehr von ihnen los.
Die Freigänger leben sehr gefährlich, denn der heutige Verkehr fordert zahlreiche Katzenleben. Ein paar können mit den Gefahren der Strasse bestens umgehen oder haben einen extrem guten Schutzengel. Andere treten in sämtliche Fettnäpfchen dieser Welt und müssen aus allen möglichen und unmöglichen Situationen gerettet werden.
Währenddem die weiblichen Kätzinnen ums Haus herum leben, gehen die männlichen Kater auf Wanderschaft. Ihr Revier ist wesentlich grösser als das der weiblichen Gesellschaft. Sie lieben es, die Umgebung zu erkunden und neue Freunde oder Feinde kennenzulernen. Doch auch diese Neugier hält sich in Grenzen. Spätestens dann, wenn der Hunger kommt, erinnern sie sich an den gefüllten Futternapf und treten den Heimweg an.
Keine Regel ohne Ausnahme. Unter ihnen gibt es ganz besondere Modelle, die das Wort "Heimkehr" schon lange vergessen haben. Sie streunen umher und können ihren Tatendrang durch nichts stillen.
Von einem solchen Exemplar handelt dieses Buch. Dieser Kater bricht sämtliche Rekorde, sei es als Streuner oder als Schmuser. Mit seiner Art bringt er jeden und jede um den Verstand. Ich habe beobachtet, wie überzeugte Katzenhasser innert kürzester Zeit seinem Bann verfallen sind. Schon nach wenigen Tagen haben sie ihm die Hand, die sie vorher noch voller Angst und Ekel zurückgezogen haben, entgegengestreckt. Eine Woche später haben sie ihm liebevoll übers Fell gestreichelt. In ihren Augen sah man den Wandel. Erst waren sie abweisend und ängstlich, dann entdeckte ich die Liebe in ihren Augen. Wie kann man aber auch nur so abweisend sein, wenn Emsy sich auf den Rücken legt und mit tiefem Schnurren um Streicheleinheiten bettelt?
Jede Katze bringt dem Besitzer Freuden und manchmal auch Leid. Es ist ein Auf und Ab, eine Art Wellengang. Bei meinem Streuner ist das Leben ein ständiger Tornado mit Windstärke 12 und hoher Sturmflut. Es vergeht kein Tag, an dem er mich nicht auf Trab hält. Wo andere Katzen uninteressiert daran vorbeigehen, streckt er seinen Riecher hinein. So ist es nicht verwunderlich, dass er all das erlebt, was sonst nicht mal ganze Katzenfamilien schaffen.
Die Suche nach Emsy ist zu meinem Alltag geworden. Wenn er länger als einen Tag nicht gesichtet wird, steigt in mir ein Unbehagen. Eine beklemmende Angst wächst in mir. Wo hat er sich denn jetzt wieder versteckt? Was kann ihm passiert sein? Dann mache ich mich auf den Weg und folge seiner Fährte. Ich gehe ihm nach in sein Revier, das dummerweise zwei Kilometer umfasst. Dort, wo er sich normalerweise aufhält, frage ich herum. Ich schaue unter jeden Busch und hinter jedes Haus. Ich versuche mich in ihn hineinzudenken, um herauszufinden, wo er sich wieder aufhalten könnte. Bei diesen Suchaktionen habe ich viele seiner Freunde und Freundinnen kennengelernt. Manchmal muss ich schon selber über mich lachen, denn ich verhalte mich teilweise schon wie eine Katze, die durch die Gegend streunt auf der Suche nach Abenteuern.
Ich habe mich schon oft gefragt, ob es noch mehr Katzen von Emsys Sorte gibt. Wenn ich wieder mal an seinem Krankenbett sitze und um sein Leben zittere, fragte ich mich ernsthaft, ob er einen Sonderauftrag zu erfüllen hat, ob es seine Bestimmung ist, all das zu tun, was er tut. Wie kann es nur sein, dass er so viele Unfälle hatte und immer wieder auf die Beine kommt? Es kommt mir vor, als sei einfach seine Zeit noch nicht gekommen. Er muss noch mehr Abenteuer erleben und Freunde zusammenführen. Bevor ich Emsy bei mir aufnahm, kannte ich weder die Angestellten der Firma Roche noch seine Freundinnen in der DPD. Ich wusste zwar, dass es in unserem Dorf eine Firma gibt, die Futter herstellt, doch war ich nie in deren Räumen. Ich habe kleine, fast unbekannte Firmen kennengelernt, durfte durch Lagerhallen gehen, die normalerweise für Aussenstehende verschlossen bleiben. Und überall hat man mir zugelächelt und mir geholfen, meinen Streuner zu finden. Viele meiner Nachbarn kannte ich nur vom Namensschild. In der Zwischenzeit kenne ich sie alle. Wir sehen uns fast täglich und kümmern uns gemeinsam um das Wohl unseres Katers. Zusammen freuen wir uns und gemeinsam sorgen wir uns auch, wenn es ihm nicht gut geht.
Vor ein paar Jahren habe ich angefangen, das Erlebte aufzuschreiben. Ich habe damals nicht gedacht, dass diese Abenteuer auch anderen Personen Freude machen könnten. In meinen ersten drei Büchern habe ich Geschichten aufgeschrieben, die uns passiert sind. Als ich diese Bücher veröffentlicht hatte, fanden sie grossen Anklang. Plötzlich war Emsy berühmt. Ich erhielt Nachfragen und Rückmeldungen. Vielleicht bestand die Faszination darin, dass es Emsy wirklich gibt, und dass es sich bei diesen Geschichten nicht um reine Fantasien handelt. Man rief mich an oder schrieb mir, wünschte ihm viel Glück und gute Besserung. Emsy hat sogar Postkarten erhalten mit Genesungswünschen.
Natürlich handeln meine ersten drei Bücher nicht nur von Emsys Abenteuer. Auch meine anderen Katzen haben viel erlebt und mir manche Geschichte beschert. Doch Emsy ist einzigartig. Er ist der Star in meinen Erzählungen. Vielleicht ist es seine tolpatschige Art, wie er mit seinen dicken Pfoten in jedes Fettnäpfchen tritt. Oder ist es die Tatsache, dass er derart viel Schönes und auch Trauriges erlebt hat? Sein Katzenleben ist voller Erlebnisse, allerdings durchwachsen von vielen Hochs und Tiefs. Emsy ist in der Katzenwelt zum Inbegriff von Freiheit geworden.
Aus diesem Grund habe ich seine Erlebnisse, die auf drei Bücher verteilt sind, in dieser Sonderausgabe zusammengefasst. Hier finden Sie Emsys alte und auch neuere Streunereien in einer einziger Ausgabe. Dieses Buch kann jedem Katzenfreund ein paar schöne Stunden bescheren. Ich bin sicher, dass sogar dem grössten Katzenfeind bei der Lektüre ein Lächeln über die Lippen geht.
Wenn Emsy lesen könnte, würde er den Kopf schütteln und zugeben, dass es nicht sein kann, dass man so viel Leid auf sich nimmt, um dem Ruf der Freiheit zu folgen. Er lässt sich nicht davon abhalten, auch das hinterste und letzte Abenteuer auszuleben. Wer als Streuner geboren ist, wird auch weiterhin herumstreunen und dem Ruf der Natur folgen.