Wullis lange Reise
Buch 2
Wullis lange Reise
Es war tatsächlich eine fast unendliche Reise, die Wulli in seinen jungen Jahren gemacht hatte.
Er wurde mit drei anderen Geschwistern in der Wildnis geboren. Seine Mutter war ein schönes Tier, konnte die hungrigen Mäuler jedoch fast nicht satt bekommen. Wenn sie auf die Jagd ging, musste sie schreckliche Angst um ihren Nachwuchs haben, denn im Wald wohnte ein grosser, böser Kater, vor dem sich alle fürchteten. Es war ihr fast nicht möglich, ihre Kleinen mehr als eine Stunde allein zu lassen. Schon andere Jungtiere und schwächere Katzen waren dem Bösen zum Opfer gefallen. Sie ging deshalb, wie 20 andere ihrer Artgenossen auch, jeden Abend zum nahe gelegenen Gasthof. Dort wohnten Menschen, die Mitleid mit den Wildkatzen hatten. Sie stellten den Tieren, wenn es dunkel wurde, Essensreste aus dem Restaurant hin. Manchmal gab es auch einen speziellen Leckerbissen, Katzenfutter aus der Dose oder ein Stück Rindsbraten, den ein Gast auf dem Teller hatte liegen lassen. Für den Weg zum Gasthof und zurück brauchte die Katzenmutter nur gerade 10 Minuten. In dieser Zeit würde ihrem Nachwuchs nichts passieren. Sie hatte ihren Katzenbabies beigebracht, sich absolut ruhig zu verhalten, damit sie nicht entdeckt wurden. Sie lagen alle beieinander, machten keinen Mucks. Zudem war ja noch ihre Freundin Tessi da. Sie wachte über die Kleinen, während Mama Minka unterwegs war.
Die Menschen dort waren liebevolle Tierfreunde und hatten grosses Mitleid mit den wildlebenden Tieren. Essen gab es genug im Restaurant und statt die übrig gebliebenen Essensreste wegzuwerfen, konnte man damit viele hungrige Katzenmäuler stopfen.
Jeden Abend in der Dämmerung versammelte sich eine grosse Schar Katzen hinter dem Haus. Sie warteten geduldig, bis die Küchentüre geöffnet wurde. Der Koch stellte eine grosse Zahl Futterschalen hin, bis zum Rand mit lecker duftendem Essen gefüllt. Heute gab es Teigwaren mit Hackfleisch und darunter gemischt ein paar Dosen Katzenfutter. Solange er dort stand, blieben die Katzen auf Distanz. Sie verfolgten jede Bewegung des Kochs, doch sie hatten furchtbare Angst vor den Menschen. Manchmal steckte der Mann sich noch eine Zigarette an und genoss die Ruhe nach einem strengen Arbeitstag. Dann wurden die wartenden Katzen unruhig. Ihr Magen knurrte, doch ihre Angst siegte. Sie warteten mit speicheltriefendem Mund bis der Mann endlich zurück in seine Küche ging. Manchmal dauerte das drei Minuten, an wärmeren Tagen musste die Katzenschar lange auf ihr Abendessen warten. Dann setzte er sich noch auf Bank und genoss die Ruhe.
Endlich war seine Pause zu Ende. Kaum war er verschwunden, kamen alle angerannt und stürzten sich über die Leckereien. Hier zeigte sich, wer der Stärkere und Schnellere war. Wer zuerst am Futternapf stand, bekam die besten Stücke ab. Der Chefkoch schaute lächelnd durch das Fenster dem lustigen Treiben zu und freute sich, dass er mithelfen konnte, dem grossen Katzenleid ein wenig Linderung zu verschaffen. Er hatte ein gutes Herz, ein Herz für Tiere.
Als die Näpfe leergefressen und sauber geleckt waren, gingen die Katzen zurück in den Wald, zu ihren Familien und ihrem Nachwuchs. Dank dieser Mahlzeit ging es der Katzenmutter Minka gut und sie produzierte so viel Milch, dass sie für alle Katzenbabies reichte. Es war nicht das erste Mal, dass sie Nachwuchs bekommen hatte, doch dieses Mal waren ihre Babies besonders entzückend. Der Vater, ein Langhaarkater, hatte seine Spuren hinterlassen. Sie blickte auf ihre vier Kätzchen, von denen zwei besonders schön waren. Schon jetzt, mit vier Wochen, war klar zu erkennen, dass sie langes Haar bekommen würden. Ihre grossen kugelrunden Augen erinnerten sie an den Papa, welch schöner Anblick. Ihre kleinen Schwänzchen hatten bereits lange Haare und aus den Ohren standen kleine, weisse Haarbüschel hervor. Sie drückte ihre Jungen ganz fest an sich und wusch sie mit ihrer grossen rauen Zunge.
Der Sommer ging ins Land und Minkas Kätzchen wurden grösser. Mit jeder Woche wurde auch der Entdeckungsdrang grösser und Minka hatte alle Pfoten voll zu tun, den Jungen alles zu lehren, was eine Wildkatze auf ihrem kommenden Lebensweg wissen musste. Sie gingen zusammen auf Beutefang und erkundeten jede Ecke des Pferdestalles. Dort gab es reichlich Stroh und Spielmöglichkeiten. Sie tobten stundenlang durch die leerstehenden Boxen. Nur in einer Boxe stand eine braunrote Stute, mit der sie sich bald angefreundet hatten. Bei ihr durften sie an regnerischen Tagen Unterschlupf finden. Sie mochte die kleinen Racker. Sie brachten Abwechslung ins triste Pferdeleben. Währenddem sie regungslos im Stall stand und an ihrem Futter herumknabberte, schaute sie dem Spiel der Katzenfamilie zu.
Minka warnte ihren Nachwuchs vor dem bösen Kater. Sie nannten ihn Satan und versteckten sich, sobald er irgendwo auftauchte. Es war ganz wichtig, dass sie ihm aus dem Weg gingen. Im Wald wurde davon geredet, dass er vor ein paar Wochen den Hofkater des Restaurants angefallen und schwer verletzt hatte.
Ausser Satan waren die Katzen keiner Gefahr ausgesetzt und so vermehrten sie sich fortzu. Aus einem einst verliebten Katzenpaar war im Laufe der Jahre eine Grossfamilie geworden. Minkas Babies wuchsen. Je älter die Kätzchen wurden, desto mehr Nahrung musste sie anschleppen. Eines Tages zeigte sie ihnen den kurzen Weg zum Gasthof. Sie sassen mit schützendem Abstand vor dem Hinterhof und warteten auf den Koch. Wulli traute ihren Augen kaum, als sie sah, welch herrliche Mahlzeit heute auf dem Menuplan stand. Frech und schnell nahmen sie die besten Plätze ein. Die Wildkatzen schmunzelten, als sie die Freude in den Kinderaugen entdeckten. Heute liess man ihnen die besten Brocken. Sie schlugen sich die Bäuche voll und schleppten sich dann zurück ins Nest.
Der Koch und seine Familie hatten auf den Zeitpunkt gewartet, dass Minka ihre Kinder zeigen würde. Sie wussten, dass sie irgendwo Junge zur Welt gebracht hatte. Wie das bei Wildkatzen aber üblich ist, werden diese in den ersten Wochen versteckt. Droht Gefahr, wird das Quartier gewechselt. Die Menschen wussten nicht, wo sie sich tagsüber aufhielten. Da standen sie nun in der Küche und drückten ihre Nase an die Scheibe. Welch schöner Anblick diese Tiere boten! Minka hatte besonders schönen Kätzchen das Leben geschenkt. Auffallend schön waren die beiden Langhaarkatzen. Sie erschienen doppelt so gross wie die Geschwister. Sie sahen wie ein Knäuel Katzenwolle aus. Das eine Kätzchen war sehr dunkel getigert. Nur das Näschen und die Pfoten waren schneeweiss. Aus den Ohren standen ein paar weisse Härchen hervor. Mit so viel Wolle am Körper kam nur ein Name in Frage „Wulli“.
Wulli und seine Geschwister kamen jeden Abend. Sie entwickelten sich gut. Doch ihre Angst vor dem Menschen blieb. Als sie acht Monate alt waren, kamen zwei Frauen. Diese stellten Holztunnel hin, aus denen es lecker nach gutem Essen roch. Der Hunger und die Neugier trieb sie hinein und hinter ihnen ging die Fangtüre zu. Wer gefangen wurde, kam zum Tierarzt.
Der Tierschutzverein sorgte mit einer Kastrationsaktion dafür, dass die Katzenpopulation in dieser Gegend nicht zu gross wurde. Die Frauen lächelten, als sie die frisch operierten Tiere auf den Hof zurückbrachten. Wulli war nicht wie vermutet, ein Kater. Nein, das Katzenkind war ein weibliches Tier. Nun musste man sich angewöhnen, nicht mehr von ihm sondern von ihr zu sprechen. Nach der kleinen Operation wurden die Tiere wieder dort ausgesetzt, wo man sie eingefangen hatte. Wullis Mama und ihre Geschwister durften schon am folgenden Tag wieder frei herumspringen.
Doch Wulli wurde mit dem Hofkater in einen Raum gesperrt. Sie wollten die schöne Katze zähmen, wollten ihr beibringen, dass der Mensch es gut mit ihr meinte. Da es draussen nun bereits frostig und nass war, liess Wulli sich das gefallen. Sie hatte sich mit dem Hofkater angefreundet. Oft lagen sie stundenlang da und erzählten sich von ihren Erlebnissen. Der Gasthoffamilie war Wulli ans Herz gewachsen. Sie sahen, dass diese Langhaarkatze mehr Pflege brauchte als die anderen. Wer so langes Haar hat, muss auch regelmässig gebürstet werden. Obwohl Wulli von klein auf gelernt hatte, den Pelz in Ordnung zu halten, genügte das nicht. Die Ausflüge durch die Wiesen und das Rumtoben im Wald liessen das Tier aussehen, als sei es ein wandelndes Waldstück. Im Fell hingen Aestchen und Kletten.
Je länger Wulli mit ihrem neuen Freund eingesperrt war, desto zahmer wurde sie. Bald konnte man sie anfassen, streicheln und bürsten. Die Knoten in ihrem Fell wurden herausgeschnitten. Sie genoss die Fellpflege und liebte es, wenn die Menschenmutter mit der rauen Bürste kam. Es war jedes Mal eine kleine Massage.
Nach einigen Wochen durfte Wulli zurück zu ihren Geschwistern. Man öffnete ihr die Katzenklappe und liess sie hinaus. Sie ging zurück zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern und erzählte ihnen, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte. Sie hatte die meiste Angst vor den Menschen verloren. Allerdings liess sie sich nur von der Gasthoffamilie anfassen. Wenn andere Leute das versuchten, rannte sie weg. Sie gesellte sich nicht mehr zur Katzenschar im Hinterhof wenn diese frassen. Sie durfte durch die Katzenklappe ins Haus hinein. Dort gab es einen Schlafkorb für sie und ihren eigenen Fressnapf. Der Hofkater lag dicht bei ihr. Er war ihr bester Freund geworden. Sie war ihm dankbar, dass er ihr gezeigt hatte, dass nicht jeder Mensch böse ist.
Ihre Unternehmungslust war kaum zu bremsen. Manchmal schlenderte sie tagelang durch das Tal und blieb oft eine ganze Woche aus. Dann kam sie halbverhungert und nur noch halb so schwer zum Gasthof zurück. Bei diesen Ausflügen legte sie nicht so viel Wert auf die Fellpflege und die Familie war entsetzt, als sie Wullis Fell sah. Darin hatten sich Blätter und Aeste verfangen, die kaum mehr zu entfernen waren. Manchmal war sie schon ein richtiges Ferkel, besonders dann wenn sie wochenlang unterwegs war. Oft musste sie es über sich ergehen lassen, dass man mit der Schere Aeste, Haare und Haarknoten herausschnitt. Dann sah sie struppig aus und war sehr beleidigt. Doch anders ging es nicht mehr. Die Gasthoffamilie musste einsehen, dass eine Langhaarkatze im Wald früher oder später verfilzen würde. Sie liessen Wulli scheren, damit das Fell endlich wieder sauber nachwachsen konnte. Wie hässlich war sie nun, schrecklich. Bauch, Rücken und Brust waren nackt wie ein frischgeschorenes Lamm. Nur der langhaarige buschige Schwanz stand wie eine Klobürste in die Höhe. Sie schämte sich derart, dass sie meist daheim blieb. Innert weniger Wochen wuchsen die Haare wieder nach und schon bald war Wulli fast so schön wie zuvor.
Die Gasthofleute wussten aber genau, dass das Haarproblem damit nicht behoben war. Sie fragten bei ihren Freunden nach, ob irgendwer ein Plätzchen für Wulli frei hatte. Sie musste in eine Familie, in der man sie täglich bürsten würde. Nur so konnte man verhindern, dass sie schon bald wieder voller Knoten war. So kam man zu Tina. Ihr Katzenhaus war zwar voll, doch bei Wullis Schönheit konnte sie nicht widerstehen. An einem schönen Frühlingsabend wurde sie in einen Transportkorb gesetzt und in das Nachbardorf gebracht. Es war keine grosse Distanz zwischen dem Gasthof und Wullis neuem Heim, doch für sie schien es eine Weltreise zu sein. Sie fühlte sich schrecklich und hatte grässliche Angst. Bei Tina verzog sie sich gleich unters Bett. Näherte sich ihr jemand, fauchte und knurrte sie wie ein Tiger. Sie war absolut unnahbar und liess sich auch durch Tinas sanfte Stimme nicht beruhigen. Die anderen Katzen schauten sie erzürnt an und konnten ihr Verhalten nicht verstehen. Nur Emsy legte sich zu ihr und versuchte sie mit seiner ruhigen Stimme zu besänftigen. Vor ihm hatte Wulli überhaupt keine Angst. Er war so sanftmütig. Wenn er nachts auf dem Katzenbaum lag schnarchte er fürchterlich. Sie mochte ihn sehr und war froh, dass es ihn gab. Vor Tina hatte sie panische Angst. Wenn sie die Hand nach ihr ausstreckte, kroch Wulli in den hintersten Winkel unter dem Bett. Sie kratzte und versuchte mit lautem Gefauche, Tina auf Distanz zu halten. Manchmal gelang es Tina trotzdem, das schöne Tier etwas zu streicheln.
Am Abend, wenn die Sonne unterging, spürte sie den Sog der Natur. Wenn sie zum Himmel schaute und den Mond sah, wollte sie nach draussen. Sie war in Freiheit geboren und hatte bisher immer in der Natur gelebt. Sie wollte nicht in diesem Zimmer eingesperrt sein bei fremden Menschen und feindseligen Katzen. Sie fühlte sich schrecklich und schrie aus Leibeskräften. Für Tina waren es harte Tage. Nachts, wenn Wulli ununterbrochen schrie, konnte sie nicht schlafen. Tagsüber musste sie die Neue im Zimmer eingesperrt halten, damit sich ihre Katzen mit ihr nicht stritten. Dennoch war sie zuversichtlich, dass sich diese Situation innert absehbarer Frist verbessern würde. Es dauerte jedoch länger als erwartet und das Leben im Katzenhaus war schwer getrübt. Wo Tina sonst friedlich auf dem Sofa sass und ihre Tiere um sie versammelt waren, sass nun eine genervte und übermüdete Katzenmutter, deren Nerven blank lagen.
Es kam, wie es kommen musste. Wulli lag auf der Lauer und beobachtete, wie die anderen Katzen durch die Katzenklappe ein- und ausgingen. „Was die können, kann ich schon lange“. Wulli nutzte eine kleine Unachtsamkeit und entwischte durch das Türchen. Tina sah gerade noch Wulli, wie sie in den Garten flüchtete. Dort schaute sie zum Himmel, als wolle sie sich an der Sonne orientieren. Ihr Kopf drehte sich Richtung Nachbarsdorf, aus dem sie stammte. Dann rannte sie, wie vom Teufel verfolgt, davon. Dies war das letzte, was Tina je von ihr gesehen hatte.
Im ersten Moment erschrak Tina, als sie Wulli auf der Flucht sah. Doch sie war überzeugt, dass dies nur ein Ausflug war, dass Wulli bald mit leerem Magen zurückkommen würde. Sie wusste genau, dass sich eine Katze nicht verlaufen würde. Dazu war Wulli schon zu lange bei Tina. Sie war froh, dass sie es trotz Fauchen und Kratzen noch geschafft hatte, Wulli ein dunkelblaues Halsband umzulegen, an dem ein Adressanhänger baumelte. Wenn sie irgendwo aufgegriffen würde, wüsste man, wohin sie gehörte.
Als Wulli aber nach zwei Tagen noch immer nicht daheim war, gab sie Suchmeldungen auf. Sie klebte an jede Hecke und jede Strassenlampe ein Bild von Wulli mit deren Beschreibung. Radio und Tierfundbüro wurden über das Verschwinden der Schönen informiert. Mit dem Fahrrad fuhr sie kilometerlange Strecken und hielt Ausschau nach der schönen Wulli. Doch sie blieb verschwunden. Hinter Tinas Dorf liegt ein kleines Waldstück, durch das sich ein kleines Bächlein windet. Dieses Paradies war vom Menschen verschont geblieben. Es wurde zum Naturschutzgebiet erklärt und für jeglichen Verkehr gesperrt. Es kamen nur wenige Leute vorbei. Ab und zu spazierte ein Hund mit seinem Herrchen vorbei, doch die meiste Zeit herrschte hier Ruhe und Frieden. Hinter diesem Waldstück standen vier kleine leerstehende Holzhäuser. Sie dienten dem angrenzdenen Haus als Gartenschuppen und Partyzelt. An warmen Sommerabenden kamen junge Leute vorbei und festeten dort. Dann stellten sie einen Grill auf, diskutierten und sangen zusammen. Eines dieser Häuser war Wullis neues Daheim. Es war nicht besonders gross und auch nicht allzu komfortabel. Unter der Türe konnte Wulli ins Innere schlüpfen. In einer Ecke lag eine alte, staubige Decke, die ihr als Liegeplatz diente. Wenn es regnete, konnte sich Wulli dort verkriechen.
Es vergingen kaum zwei Wochen, als Wulli eine vertraute Stimme hörte, die nach ihr rief. Sie schlich sich langsam nach draussen und spähte in die Richtung, aus der das Rufen kam. Dort stand Tina. Sie schaute ihr direkt in die Augen. Tina war fassungslos, als sie Wulli da stehen sah, mitten im Wald. Es vergingen aber nur drei Sekunden, und Wulli war weg. Sie hatte sich blitzschnell in ihr Versteck zurückgezogen. Tina war sich gar nicht sicher, ob dies Wulli war oder ob es sich um eine Halluzination gehandelt hatte. Sie suchte noch stundenlang weiter, doch Wulli blieb unentdeckt.
Tina suchte den ganzen Sommer hindurch. Sie verbrachte jeden Abend im Naturschutzgebiet und den dahinterliegenden Häusern. Auch im nahegelegenen Kleinzoo brachte sie eine Suchmeldung an. Dort erfuhr sie, dass es in diesem Zoo jederzeit genug Futter für eine Katze gab. Wenn Wulli sich dort in die Gehege einschleichen würde, könnte sie sich ohne Probleme den Bauch vollschlagen. Bei einer angrenzenden Grossgärtnerei arbeiteten portugiesische Landarbeiter. Ihnen zeigte Tina ein Foto von Wulli. Sie erkannten die Langhaarkatze sofort und erklärten ihr, dass diese regelmässig durch ihre Treibhäuser schlenderte. So dehnte Tina ihre Suche auch in diese Gegend aus. Sie sprach oft mit den Landarbeitern. Diese erklärten immer wieder, dass sie die Katze gesehen hatten. Wulli zeigte sich nur früh morgens oder spät abends. Allmählich fiel das Laub und der Winter kündete sich an. Wulli war noch immer verschwunden. Jeder in der Gegend, jede Institution, die Gemeinde, das Tierfundbüro, die Polizei und der Werkhof waren über Wullis Verschwinden informiert. Wulli blieb unauffindbar. Im Winter musste Tina einsehen, dass die Suche vergebens war und die Natur gesiegt hatte. Wulli war in ihre Freiheit zurückgekehrt. Sie war wieder eine Wildkatze geworden.
Dennoch blieb das Thema „Wulli“ ein offenes Kapitel für Tina. Wenn immer die Rede von einer Langhaarkatze war, hoffte sie stets, es ginge um Wulli. Sie überprüfte jede Fundmeldung, ging jedem kleinen Hinweis nach. Sie fuhr oft zu Leuten, die eine Katze gefunden hatten, leider immer vergebens. Wulli war weg. Im folgenden Frühling kam sie durch Zufall in Kontakt mit dem Besitzer der Grossgärtnerei. Er bestätigte den Hinweis seiner portugiesischen Landarbeiter. Wulli hatte den ganzen Sommer und Herbst bei ihm verbracht. Allerdings gehörte zu dieser Gärtnerei auch ein Tigerkater, dem das Auftauchen der Neuen gar nicht gefiel. Es gab oft Streit zwischen den Treibhäusern. Seit dem Winteranfang kam Wulli nicht mehr. Der Gärtner vermutete, dass sie sich einen neuen Platz gesucht hatte. Auch wenn diese Nachricht nur halb erfreulich war, wuchs in Tina die Hoffnung. Wulli lebte also noch. Sie würde die Suche nicht aufgeben. Sie fuhr von Bauernhof zu Bauernhof, zeigte allen das Foto dieser wunderschönen Katze. Sie schüttelten nur den Kopf, kannten Wulli nicht.
Tinas Elan ging langsam zu Ende. Sie war sehr traurig, denn sie fühlte sich für das Verschwinden dieser Katze verantwortlich. Sie hatte als Katzenmutter versagt. Hätte sie mehr Nerven gezeigt, wäre Wulli noch da. Auch wenn sie es nicht zeigte, war sie innerlich geknickt. Sie dachte fast jeden Tag an Wulli und hoffte, dass sie ein neues Plätzchen gefunden hatte, an dem es ihr gut ging.
Viele Monate später, es war schon in der Vorweihnachtszeit, kam mit der Post eine Zeitschrift des örtlichen Zierschutzvereines zu Tina. Nebst vielen Berichten über Tierschützer und bedrohte Tiere, schrieb eine junge Frau, wie sie ihre Katze Mauki verloren hatte und Wochen später wieder fand. Neben diesem Bericht war ein Foto dieser Katze abgebildet. Tina blieb fast das Herz stehen. Sie nahm das Foto von Wulli und legte es daneben. Die Fotos waren identisch. Wie konnte so was passieren?
Erstaunlich an diesem Bericht war auch die Bemerkung, dass Mauki ohne Halsband verschwand und Wochen später mit einem schwarz-blauen Halsband am Waldrand aufgegriffen worden war. Das war kein Zufall und Tina nahm mit dieser Frau Kontakt auf. Sie erzählte ihr die Geschichte von Mauki und von deren Verschwinden. Wie glücklich war sie doch, als sie Wochen später von einem Tierarzt die Mitteilung erhielt, dass eine Langhaarkatze, auf die Maukis Beschreibung passte, im Wald aufgegriffen worden war. Für das Halsband, das Mauki trug, gab es keinerlei Erklärung. Mauki kam nach Hause, ins hinterste Haus am Rande des Waldes.
Tina wollte sicher sein, dass ihre Vermutung stimmte. Sie verabredete sich unter einem Vorwand mit der Dame, die den Katzenbericht verfasst hatte. Und was Tina geahnt hatte, traf zu. Die Katze, die man im Wald gefunden hatte, war nicht die vermisste Mauki. Es war Wulli, die sich auf dem Heimweg zu Sandra befand und aufgegriffen wurde. Wulli gefiel die neue Familie und die Besitzerin war ahnungslos, dass sie die falsche Katze nach Hause geholt hatte. Die Aehnlichkeit war aber auch frappant.
Das Schicksal wollte es so. Wulli hatte ein neues Zuhause gefunden und die Besitzerin war glücklich ihre vermisste Katze wieder gefunden zu haben. Tina hoffte, dass diese Verwechslung nie raus käme. Sie verabschiedete sich und freute sich mit Wulli, dass sie ein gutes Plätzchen hatte.
Als sie das Haus am Waldrand verliesse, kehrte sich Tina noch einmal um. Sie sah tief in Wullis Augen und zwinkerte ihr zu. „Mach es gut, meine Kleine. Deine lange Reise ist zu Ende. Werde glücklich hier.“