Der Blätterwald
Buch 5
Der Blätterwald
Lucky musste lachen, als er von dieser Geschichte hörte. Wie konnte man nur einen strammen Kater mit einer Kätzin verwechseln? Das könnte ihm nie passieren. Bei ihm war alles am richtigen Platz und wirklich nicht zu übersehen.
Am späten Nachmittag schlenderte er rüber zum Heim. Er wollte nachschauen, ob vielleicht eine neue eingezogen war. Im Katzen-Freigehege war niemand zu sehen, denn es war kühl und feucht draussen. "Mist", dachte er und zottelte davon. Gerade als er sich nach Hause schleichen wollte, kam ihm etwas in den Sinn. Wieso sollte er nicht einmal einen Blick ins Meerschweinchenhaus werfen? Manchmal entdeckte man dort nämlich auch eine verirrte Maus. Und mit der könnte man ja spielen.
Er schlenderte den Zaun entlang auf die andere Seite des Gebäudes. Plötzlich hörte er eilige Schritte. Er stoppte. Vor ihm stand ein grosser, weisser Hund, der ihn erst verwundert anschaute und dann laut zu bellen anfing. Innert weniger Sekunden kamen auch andere Tiere zum Zaun gerannt. Sie kläfften ihn an. Manche sprangen sogar am Gitter hoch und stemmten ihre Pranken dagegen. Wie froh war Lucky, dass der Zaun hoch und sicher war. Die Hunde hätten ihn zerrissen. Er musste von hier wegkommen, bevor eines der Tiere ausbrechen würde.
Er eilte davon, weiter zum nächsten Freigelände. Hier war es wesentlich ruhiger, denn in diesem Bereich wohnten die Hasen, Meerschweinchen und Vögel. Mitten im Gras standen kleine Häuser und Röhren. In ihnen konnten die Meerschweinchen Unterschlupf finden. Wer trotzdem kalt hatte, konnte durch eine Oeffnung ins Innere des Gebäudes gelangen. Die Tiere hier hatten jegliche Freiheit. Sie konnten einfach wählen, was sie lieber wollten. Je nach Laune konnten sie sich draussen im Gras oder drinnen in der Wärme aufhalten. Allerdings trennte ein Längszaun den Bereich der männlichen Tiere vom Gehege der Weibchen ab. Die Heimleitung wollte verhindern, dass die Zahl der Meerschweinchen noch mehr anstieg. Es war sowieso schon schwer genug, die Tiere zu vermitteln.
Im hinteren Teil des Gartens sah Lucky einen Hügel. Er bestand aus Erde und vielen Blättern. Trotzdem konnte man unter dem Laub kleine Häuser erkennen. Sie waren relativ flach und klein, also kein Unterschlupf für Meerschweinchen. Die pelzigen Tierchen wollten kein Haus, zu dem man sich erst durchgraben musste. Wer wohnte denn dort? Lucky setzte sich hin und starrte gebannt zum Blätterberg. Er hörte ein leises Schnauben, dann sah er eine schwarze, spitzige Nase, die aus dem Laub herausschaute. Sie schnupperte himmelwärts. Es schien, als schnüffle sie nach Futter. Was war denn das?
Lucky war neugierig geworden. Er verhielt sich sehr still, denn er wollte das eigenartige Tier nicht vertreiben. Es dauerte lange, bis er endlich auch den Rest der Gestalt zu Gesicht bekam. Das Tier war klein und stachlig, eine kleine Kugel aus Dornen. Auf kleinen, schwarzen Füssen rannte es flink durch den Garten und verschwand im Haus auf der gegenüberliegenden Seite. Nach wenigen Minuten kam es zurück. Nur wenige Schritte von Lucky entfernt setzte es sich hin und streckte die Nase erneut himmelwärts. Dann drehte sich die Kugel um und schaute Lucky in die Augen. Der Igel hatte kleine Knopfaugen, die aber sehr aufmerksam verfolgten, was in der Umgebung passiert. Wenn ihm Unheil drohte, würde er sich zusammenrollen und seine Stacheln zeigen. So sassen sie sich die ungleichen Freunde lange gegenüber und betrachteten sich.
Lucky war in der Igelstation gelandet. Hier durften die jungen Igel überwintern, die noch zu klein für den Winterschlaf waren. In den letzten Jahren war es immer sehr spät Sommer geworden und die Igel waren erst im Mai aus dem Winterschlaf erwacht. Sie brachten ihren Nachwuchs viel zu spät auf die Welt. Als dann im November die Nächte kürzer wurden, wussten die Igeleltern, dass es Zeit war, sich einen Unterschlupf für den Winter zu suchen. Sie bauten sich ein Nest, in dem sie die kalten Wintermonate verbringen wollten. Davor mussten sie sich aber Fettreserven anfressen, sonst würden sie im nächsten Frühjahr nicht mehr aus dem Winterschlaf erwachen. Die schwachen Jungtiere waren noch viel zu klein, als der Winter dieses Jahr sehr früh einkehrte. Die Tierschützer hatten die Bevölkerung aufgerufen, umherirrende, kleine Igel auf die Wage zu setzen. Tiere unter einem Pfund könnten die Winterzeit nicht überstehen. Besonders Igel, die um diese Jahreszeit noch tagsüber unterwegs sind, müssen besonders beachtet werden. Wer ein solches Tier findet, soll es in die nächste Igel-Auffangstation bringen.
In diesem Jahr fanden über 50 Igel einen Unterschlupf im Tierheim "zur Arche Noah". Die Menschen hatten den Aufruf gehört, die Tiere aufgenommen und zur Ueberwinterung ins Tierheim gebracht. Sie wurden gefüttert und gegen Lungenwürmer geimpft. In der ersten Zeit mussten sie drinnen bleiben. Erst wenn sie ein Eigengewicht von 500 Gramm angesetzt hatten, durften sie nach draussen ins Freigehege. Dort sollten sie so leben, wie sie es in der freien Natur auch gemacht hätten. Unter dem Laub gab es zahlreiche Igelhäuser, in denen sich die Jungtiere zurückziehen können. Sie wussten instinktiv, wann die Zeit gekommen war, den Winterschlaf anzutreten. Die letzten Tage davor frassen sie nichts mehr. Dann verkrochen sie sich in eines der Nester, rollten sich ein und reduzierten ihre Körperfunktionen auf ein Minimum. Sie merkten nichts vom Schnee, der draussen auf den Blätterwall fiel. Auch war ihnen im dichten Unterschlupf keineswegs kalt. Sie spürten nichts davon, dass die Tage kürzer wurden und die Monate vorbei gingen. Sie schliefen tief und fest und würden im Frühling schlank und rank erwachen, bereit für neue Abenteuer. Dann war ihr Hunger besonders gross. Ihre Stacheln hingen am Körper hinunter, denn das Fett darunter war im Winterschlaf verschwunden. Jetzt war es besonders wichtig, dass sie genügend Futter und Wasser bekamen. Wer die Ueberwinterung in der Arche geschafft hatte, durfte sich auf ein schönes Leben freuen. Im Mai wurden die Igel in ein Naturschutzgebiet verlegt. Die Schonzeit war vorbei, die erste Gefahr gebannt. In der Nähe des Sees gab es genügend Unterschlupfmöglichkeiten für die kleinen Stachligen. Hier wurden keine zivilisierten Gärten angelegt. In diesem Gebiet durfte die Natur noch so walten, wie sie wollte. Es gab umgestürzte Bäume und haufenweise Blätter. Für die Igel war es nicht schwierig, sich zu recht zu finden. Sie hatten sich bald einen Partner ausgesucht, mit dem sie ihre Höhle teilen wollten.
Jetzt waren die Katzen wieder draussen. Sie lagen auf den Kratzbäumen herum und schnurrten vor sich hin. Wahrscheinlich hatten sie gefressen und warteten auf ihn.