Verschollen
Buch 8
In einem kleinen Dorf
mitten in den Schweizer Alpen lebten Tom mit seiner Frau Anke und dem Bernhardinerhund
Big. Sie waren vor vielen Jahren aus dem Norden in die schöne Schweiz eingewandert.
Tom führte mit seiner Frau ein kleines Hotel nach schwedischem Vorbild.
Meistens beherbergten sie schwedische Touristen, denen sie auf diese Weise die
schöne Schweiz mit ihren Sehenswürdigkeiten zeigen konnten. Es gab nur wenige
Wochen, in denen man bei Tom und Anke noch ein freies Zimmer fand. Obwohl Tom
und Anke aus Schweden waren, wollten sie ihren Gästen die Schweiz etwas näher
bringen. Einmal in der Woche organisierten sie einen Schweizer Abend mit Fondue
oder Raclette und volkstümlicher Musik mit Jodeleinlagen.
Selbstverständlich gab es
aber auch eine schwedische Sauna hinter dem Haus. Das kleine Hotel stand
absolut ideal für die Wintergäste. Innert drei Minuten war man an der
Talstation des Skiliftes, der die Gäste in eine Traumlandschaft mit 60
Kilometer Skipisten führte. Die Gastgeber verbanden das Schweizerische mit dem
Schwedischen auf eine äusserst liebevolle Art.
Und mittendrin lebte Big,
ein Bernhardinerhund. Er war die Sensation des Hotels und überall gern gesehen.
Meistens lag er an der Eingangstüre vor dem Hotel und begrüsste die neuen Gäste
mit einem tiefen "Wau". Er war ein absoluter Riese mit seinen 95 Kilos
und phlegmatisch wie alle seiner Art. Seine Pfoten waren so gross wie die eines
Löwen, und mit denen schleppte er im Winter ganze Schneeberge und Eiszapfen in
die Eingangshalle. Aber niemand war ihm böse, denn von der Art her war er so
sanft wie ein Riesenbaby. Er liebte den Schnee und verbrachte die meiste Zeit
draussen. Hinter dem Hotel hatte man ihm eine Hundehütte erstellt, wo er sich
bei Wind und eisiger Kälte zurückziehen konnte. Es gab aber auch eine
Hundeklappe zum Keller. Diese war so gross, dass ein Kalb hätte durchschlüpfen
können. Aber diese Türgrösse brauchte es eben bei einem so grossen Hund. Diesen
Weg nutzte er aber nur, wenn der Thermometer sehr tief in die Minusgrade ging.
Er trotzte Wind und Wetter, denn in Schweden, wo er vorher gewohnt hatte, war
es viel kälter als hier in den Bergen.
Im Sommer, wenn Tom und
Anke für drei Wochen ihr Gasthaus schlossen und Urlaub machten, fuhren sie
meistens mit ihrem Oldtimer weg. Sie machten eine Rundfahrt durch die Berge
oder in den Süden. Dann durfte Big auf der hinteren Bank im Oldtimer mitfahren.
Er hockte dann hoch aufgerichtet auf der Rücksitzbank und streckte seine Schnauze
in den Wind. Das gefiel ihm und er war stolz, dass man ihn überall fotografierte;
das kleine alte Auto mit dem riesigen Tier auf dem Rücksitz. Er war tatsächlich
mächtig und bekannt im ganzen Dorf. Da Tom und Anke nicht so viel Zeit für ihn
hatten, ging er einfach alleine spazieren. Er begrüsste den Bäcker, den Metzger,
den Polizisten und Frau Schneider von nebenan. Sein Rundgang führte ihn auch
zur Bank, wo er sich hinlegte und die Kunden beobachtete, wie sie Scheine aus
dem Geldautomaten zogen.
Kinder liebte er besonders.
Sie durften ihn streicheln und mit ihren Händen in sein dichtes Fell fahren.
Seine Route war jeden Tag gleich, eine Runde quer durchs Dorf. Punkt 11 Uhr
stand er – wie jeden Tag – im Garten von Hans und Maria, einem betagten
Ehepaar. Sie hatten fast immer eine Wurst für ihn parat und freuten sich, wenn
er sie in einem Biss runterschlang. Er legte sich zu ihnen und liess sich von
ihnen streicheln. Bei Hans und Maria lebte auch Mimi, eine ältere Katzendame.
Sie gesellte sich stets zu ihnen und legte sich dicht an Big. Auch sie genoss
den grossen Kerl, der ihr Wärme und Sicherheit gab. Big hatte keine Mühe mit
ihr. Er war viel zu faul geworden, um Katzen zu jagen. Das hätte er vielleicht
in jüngeren Jahren gemacht, doch jetzt wusste er, dass er eh keine Chance
hatte, wenn die Katze davon sprang.
Manchmal kamen auch die
Enkel zu Hans und Maria. Doch das änderte nichts daran, dass Big jeden Tag Punkt
11 Uhr vorbei schaute. Das Ritual war jeden Tag gleich und alle im Dorf kannten
ihn. Fremde fanden es im ersten Moment etwas eigenartig, dass ein so grosser
Hund ohne Begleitung überall im Dorf unterwegs war. Da er aber ein Halsband
trug, wussten sie, dass er einen Besitzer hatte. Zudem begrüssten ihn alle mit
"hallo Big", also musste er dorfbekannt sein.
Tom war ein guter
Gastgeber, aber auch ein exzellenter Bergführer. Wenn es die Zeit zuliess,
führte er seine Gäste in die Berge. Dann durfte Big mitkommen. Tom montierte
ein kleines Fass an seinem Halsband, das mit einer Flüssigkeit gefüllt war.
Eigentlich war nur etwas Schnaps (Lebenswasser) in diesem Fässchen, doch Tom
erklärte den Touristen, es handle sich dabei um einen Zaubertrank. Und Big war
sehr stolz darauf, dass er die Wandergruppe begleiten durfte. Er kannte alle
Wege und Gefahren. Und die Touristen fühlten sich geschützt durch ihn. Er hatte
sogar schon einmal einen richtigen Einsatz als Rettungshund. Als vor vier
Jahren eine Lawine vom Berg donnerte und ein Bauernhaus unter sich begrub,
wurde er auch eingesetzt, um Verschüttete zu suchen. Mit seiner Nase konnte er
riechen, ob es unter dem Schnee noch Leben gab. Und mit seinen Pranken konnte
er besser graben als jeder Mensch mit einer Schaufel. Natürlich war er nicht
der einzige Hund, der mit dem Suchtrupp unterwegs war, doch garantiert der
grösste. Für ihn war die Suche Spass und Abwechslung, für die verschüttete
Familie bitterer Ernst. Sie hatten damals grosses Glück, dass die Hunde sie
gefunden hatten und sie mit wenigen Blessuren davon kamen.
So ging es Monat für
Monat. Die Touristen kamen und gingen und Big absolvierte seinen täglichen
Rundgang. An einem kalten Wintermorgen war das Haus von Hans und Maria dunkel. Keiner
war daheim. Auf sein Bellen reagierte niemand. Nicht einmal Mimi lag auf der
Bank vor der Küche, was sie sonst doch immer machte. Es gab also keine Streicheleinheiten
und keine Wurst. Stattdessen spürte er die Unruhe im Dorf. Entgegen allem, was
er sonst tat, ging er zurück ins Dorfzentrum. Vor dem Dorfladen standen einige
Leute, die sich rege unterhielten. Hans und Maria waren unterwegs, um ihre
Enkeltochter zu suchen. Sina war seit heute Morgen verschwunden und sie fragten
überall nach, ob jemand ihre Enkelin gesehen hatte. Sie vermuteten, dass Sina weggelaufen
war, um nach Mimi zu suchen, denn die Katzendame war seit gestern Nachmittag
verschwunden. Maria machte sich grosse Sorgen und Vorwürfe. Warum hatte sie
Sina nur davon erzählt, dass Mimi fehlte? Bestimmt gäbe es dafür eine ganz
normale Erklärung. Nie hätte sie gedacht, dass Sina so überreagieren würde.
Für Big war die Sache
klar. Er wollte nicht mehr länger warten. Er schnappte sich beim Hotel das Halsband
mit dem Fässchen, das ihn als Suchhund kennzeichnete, und ging bergaufwärts. Es
lag dichter Schnee und der Weg war beschwerlich. Mit seinen dicken Pfoten
versank er tief im weissen Nass. Doch er stapfte weiter, Schritt um Schritt. Er
hatte die Katzendame auch schon mal da oben in den Bergen angetroffen. Vielleicht
war sie ja wieder dort. Und wenn er Glück hatte, war Sina bei ihr.
Er
war schon lange unterwegs und bereits sehr müde, als er im Schnee Spuren fand.
Mit seiner grossen Nase schnupperte er an ihnen. Es stieg ihm ein Duft in die Nase,
den er kannte. Es waren die Fussabdrücke von Sina. Nun musste er ihnen nur noch
folgen, dann würde er Sina finden.
Am Fusse des Matterhorns
sass Sina in einer Höhle. Sie hatte kalt und Angst. Ihre Oma hatte ihr erzählt,
dass Mimi weggelaufen war. Sie wollte sie suchen bevor es Abend wurde. Es war
genauso wie in ihrem Buch "Hoppel in Not", als der Zwerghase weggelaufen
war. Da konnte das Kind auch seinen geliebten Hasen wiederfinden. Sie nahm also
eine kleine Laterne mit und folgte den Spuren, die sie von Mimi gesehen hatte.
Allerdings hatte sie sich getäuscht, denn die Spuren, die sie für Mimis hielt,
waren nicht ihre. Es gab noch viele andere Katzen im Dorf, die ebenfalls Spuren
im Schnee hinterliessen. Aber wie hätte das ein achtjähriges Mädchen auch
wissen sollen. Für sie stand es fest, sie würde Mimi finden.
Sie ging und ging, rief
immer wieder nach Mimi. Die Spuren führten sie von links nach rechts. Sie waren
kreuz und quer verteilt, doch Sina war sich dessen nicht bewusst. Sie lief
teilweise im Kreis herum. Jede Spur, die sie entdeckte, war ihrer Meinung nach
die Spur von Mimi. Der Weg führte sie weitab vom Dorf, hinauf in die unbewohnte
Gegend am Fusse des Matterhorns. Sie war so fixiert auf Mimi, dass sie die Zeit
vergass und gar nicht realisierte, dass sie das Dorf verlassen hatte und sich
in die Einöde begab. Dies war für ein Kind in ihrem Alter gefährlich, denn
niemand würde sie hier oben suchen, falls ihr etwas passierte. Auf einem der
letzten Bäume sass ein Käuzchen. Es rief Sina aufgeregt zu "Mädchen, geh
nach Hause, hier ist es zu gefährlich." Aber Sina ignorierte diese
Warnung. Sie würde nicht ohne Mimi heimgehen.
Dann
entdeckte sie Mimi. Diese sass am Eingang einer Höhle und schaute ins Tal
hinunter. Sina rannte zu ihr, nahm sie in die Arme und drückte sie ganz fest an
sich. "Mimi, was machst du hier? Du hattest Glück, dass ich dich gefunden
habe. Warte, ich wärme dich etwas auf." Sie nahm Mimi unter ihren Mantel
und streichelte sie mit einer Hand. Sie war richtig kalt. Gerade als sie den
Heimweg antreten wollten, verdunkelte sich der Himmel. Ein Schneesturm zog auf.
Sina und Mimi suchten Schutz vor der Kälte und den Schneeflocken, die quer
durch die Luft flogen. Sie gingen weiter in die Höhle hinein, fanden dort an
der hinteren Wand einen Unterschlupf. Es war unheimlich hier. Sina war froh,
dass sie die Laterne mitgenommen hatte. Im Schein dieser Lampe entdeckte sie dunkel
Gestalten, die an der Decke hingen. Ihre Köpfe schauten nach unten. Sie hielten
sich mit ihren Krallen an der Decke fest. Es waren unheimliche Tiere. Noch nie
hatte sie Fledermäuse gesehen, schon gar nicht in so grosser Zahl. Jetzt bekam
sie es mit der Angst zu tun. Sie war gefangen, zusammen mit diesen Tieren die
wie Drachen aussahen. In der Höhle sassen die unheimlichen Tiere und draussen
tobte der Schneesturm. Wie froh war sie doch, dass sie Mimi bei sich hatte. Sie
spürte nicht, dass auch Mimi am ganzen Leib zitterte und sich fest an sie
drückte. Von draussen hörte sie wieder das Käuzchen, dass sie erneut
aufforderte, nach Hause zu gehen. Doch auch diese Mahnung missachteten sie. Das
Käuzchen rief immer lauter "bitte, bitte, geht heim!" Aber sie blieben.
Dann
stand sie vor ihnen, eine schwarze Gestalt in einem langen Mantel. Sie lachte
schrill und riss dabei ihren Mund so stark auf, dass man ihre verfaulten Zähne
sehen konnte. Ihr Lachen tönte wie ein Kreischen. Unter ihrer Kapuze sah man
das alte verbissene Gesicht mit der langen Hakennase. Sie lachte immer wieder
und tanzte in der Höhle umher. Dann riss sie ihre Hände hoch und Sina entdeckte
die langen Fingernägel, die sie wie eine Waffe gegen das Duo streckte.
"Ihr habt mein Reich betreten, das war ein Fehler. Hier ist mein Revier
und niemand darf sich hier aufhalten. Wer das tut, wird bestraft, für
immer." Die Hexe fuchtelte mit ihren Händen durch die Luft und stiess
laute Flüche aus. Dann zog sie blitzschnell einen Zauberstab aus ihrem Mantel
hervor und hielt ihn drohend gegen Sina und Mimi. "Schlangenei und Krötendreck,
ihr müsst aus meiner Höhle weg! Ene, mene, Riesenschreck, du bist jetzt augenblicklich
weg!" Aus dem Zauberstab der Hexe kam ein Wasserstrahl und Rauch. Sina und
Mimi wurden vollkommen eingenebelt und mit Wassertropfen übersäht, die innert
Sekunden zu Eis wurden. Sie hockten noch immer auf dem Felsen und hielten sich
gegenseitig fest. Doch aus ihnen war innert Sekunden ein Eisberg entstanden.
Die Fledermäuse über ihnen weinten. Sina und Mimi spürten noch die Tränen, die
auf sie hinab tropften. Dann fielen sie in einen unendlich tiefen Schlaf.
Auch die Fledermäuse waren
Gefangene der Hexe. Nun mussten sie mitansehen, wie das Mädchen und sein Büsi
zu Eis erstarrten. Sie waren sehr traurig, hatten aber keine Möglichkeit
einzugreifen, denn sie waren an der Decke festgewachsen. Die Macht der Hexe war
gross. Es gab kein Mittel dagegen. Man munkelte zwar, die wahre Liebe könne
ihre Macht erschüttern und die Zauberkraft ausschalten. Aber einen Beweis dafür
hatte es noch nicht gegeben.
Die Hexe war seit Jahren
hier. Sie duldete keine Eindringlinge. Wer in ihre Höhle kam wurde verhext für
immer und ewig. Sie wusste auch von Big und davon, dass er mit Sina und Mimi befreundet
war. Sie wollte das Zauberelixier, das Big in seinem Fässchen trug. Dieses
Elixier würde ihr noch mehr Macht geben. Sie musste es haben. Der Besuch der
beiden in ihrer Höhle kam ihr sehr gelegen. Schon lange hatte sie auf eine
Gelegenheit gewartet, Big zu treffen. Bestimmt würde er seine Freunde suchen.
Dann könnte sie das Elixier stehlen und Big zu einer Fledermaus verwandeln.
Von dem allem wusste Big
nichts. Er stapfte immer noch durch den Schnee. Von weitem hörte er Stimmen aus
dem Dorf, die nach Sina riefen. Langsam wurde es dunkel und er musste sich
einen Unterschlupf suchen. Er legte sich unter die grosse Wurzel eines
umgefallen Baumes und rollte sich ein. Sein dichtes Fell umschlang ihn wie ein
Pelzmantel und hielt ihn in der Nacht warm. Am Morgen, als er die Augen
öffnete, musste er zuerst den Neuschnee von seinem Rücken schütteln. Es war
noch immer beissend kalt. Erst als die Sonne aufging, wurde es etwas wärmer,
sodass er seine Suche fortsetzen konnte. Er drückte seine Nase tief in den
Schnee und versuchte die Fährte wieder aufzunehmen. Die Spuren waren kaum mehr
vorhanden. Der Schnee, der in der Nacht fiel, hatte sie tief unter sich begraben.
Er gab nicht auf, er
musste Sina finden. Gegen Mittag erreichte er die Höhle, wo er Mimi schon
einmal gesehen hatte. Er spähte hinein. Es war sehr dunkel. Dennoch konnte er
ein paar Gestalten sehen, die an der Decke hingen. Sie sahen sehr komisch aus.
In der Höhle roch es unangenehm, nach Kot und Moder. Trotzdem betrat er den
dunklen Raum. Von oben hingen Flügel und Beine herunter, Fledermäuse. Weit
hinten an der Wand sass eine Gestalt, die in einem Eisblock gefangen war. Es
war Sina! Aus ihrem Mantel schaute Mimi hervor. Beide hatten die Augen geschlossen
und schliefen.
Big begann zu weinen. Er
schämte sich zwar dafür, dass er als ausgewachsener Bernhardiner Tränen vergoss
wie ein Welpe. Doch das Bild der erstarrten Freunde machte ihn unheimlich traurig.
Wäre er nur früher gekommen, dann hätte er sie vielleicht retten können. Nun
waren sie erfroren. Er weinte bitterlich. Seine Tränen tropften auf den
Eisblock, in dem seine Freunde festsassen. Er wollte sie nicht noch mit seinen
Tränen beschmutzen. Deshalb leckte er mit seiner rauen Zunge alle Tränen weg.
Das Eis war kalt und hart. Dennoch hatte er den Eindruck, dass sich im Eishaus plötzlich
etwas bewegte. Er leckte weiter und weiter, trug eine Eisschicht nach der
anderen ab. Es dauerte eine Ewigkeit bis er Sina und Mimi freigeleckt hatte.
Sie sassen noch immer steif da, hatten aber keinen Eisblock mehr um sich herum.
Big öffnete sein Fässchen
mit dem Zaubertrank. Er goss ein paar Tropfen des Elixiers in Sinas Mund, dann
auf die Pfote von Mimi. Sollte es möglich sein, würde Mimi die Tropfen ablecken.
Die Hexe hatte alles aus
der Ferne beobachtet. Sie hatte sich hinten in der Höhle versteckt und auf
einen idealen Zeitpunkt gewartet, wo sie Big das Fässchen entreissen konnte.
Gerade als sie mit ihrem Zauberstab auf Big losgehen wollte, erwachte Sina.
Noch hielt sie Mimi in der Hand, die friedlich schlief. Sie hatte die Hexe entdeckt,
die hinter Big stand und ihn verhexen wollte. Sie schrie laut "Pass auf,
Big, schau nach hinten." Obwohl Big eher ein gemächlicher Hund war, sprang
er sofort auf. Die Hexe verfehlte ihr Ziel mit dem Zauberstab. Was war nur mit
ihr los? Normalerweise konnte sie doch besser hexen. Jetzt war sie aber sehr unsicher
geworden, hatte auch noch den Zauberspruch vergessen. Ihre Hände zitterten wie
Espenlaub. Stimmte es wohl doch, dass wahre Liebe ihr die Zauberkraft nahm? Und
hier sassen zwei Liebende, das war unbestritten.
Dann wachte auch Mimi auf.
Die Hexe spürte einen höllischen Schmerz in ihrer Brust. Dort, wo andere ein
Herz voller Liebe hatten, entfachte in ihr ein Feuer. In ihrer Brust loderten
Flammen. Sie rannte aus der Höhle Richtung Gletscher. Man hörte sie fluchen und
jammern. Sie rannte kopflos davon und hoffte, dass der Schmerz in ihrer Brust
nachliess. Sie hatte grossen Durst und kniete beim Gletschersee nieder. Sie
wollte nur noch trinken und trinken. Dabei übersah sie, dass das Ufer gefroren war.
Sie rutsche aus und glitt über das Eis. Dann verschwand sie in einer
Gletscherspalte. Noch kurz vor ihrem Tod, als sie tief in die Spalte abstürzte,
fluchte sie auf diese Welt und die Geschöpfe, die lieben konnten. Die Hexe war
tot, ihre Macht vorbei. Die Liebe hatte gesiegt.
Big nahm sein Fässchen erneut
hervor und liess die Fledermäuse an seinem Wundertrank nippeln. Der Zaubersaft
tat seine Wirkung. Die Fledermäuse konnten sich nicht mehr an der Decke
festhalten und stürzten auf den Boden. Noch im Flug zum Boden verwandelten sie
sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurück, die sie vor dem Fluch der Hexe hatten.
Sina entdeckte Dorfbewohner, die schon seit Jahren vermisst wurden. Ihr Onkel
Karl war auch hier. Er war nach einer Bergwanderung nicht mehr nach Hause gekommen
und man hatte den Verdacht, dass er in eine Gletscherspalte gefallen und
gestorben war. Auch das Pony der Nachbarsleute stand vor ihnen. Es wieherte
dankbar. Auf dem Rücken des Ponys sass Chili, der rote Kater. Wegen ihm war
Mimi immer wieder zur Höhle gegangen. Er war ihr liebster Freund gewesen und
eines Tages einfach verschwunden. Die Höhle füllte sich allmählich. Vermisste
Personen und Tiere standen da und unterhielten sich aufgeregt miteinander. Alle
hatten böse Erfahrungen mit der Hexe gemacht und waren froh, dass sie nun tot
war.
Wenig später stapfte eine
grosse Gruppe Personen und Tiere den Berg hinunter durch den Tiefschnee. Sie
waren etwas steif in den Beinen und man vermutete, dass sie eine lange
Wanderung hinter sich hatten. Als sie die ersten Häuser erreichten, stand die
Sonne hoch am Himmel und lachte auf die Erde hinunter. Es war ein Wunder
geschehen, das hatte sich im Dorf schnell herumgesprochen. Die Vermissten waren
zurückgekehrt, unter ihnen auch Sina und Mimi. Es gab Freudentränen und viele Umarmungen.
Ein paar Monate später
wurde die Höhle geschlossen. Man rollte Steinbrocken an ihren Eingang um zu
verhindern, dass dort nochmals ein Unglück geschah. Die Zwischenräume wurden
mit Beton verschlossen.
Die Hexe, die zwar abgestürzt
aber nicht tot war, musste machtlos zuschauen, wie man ihr Reich zerstört
hatte. Sie lag tief unten in einer Gletscherspalte, eingefroren und kraftlos.
Auch wenn alle dachten, sie sei tot, es war nicht so. Sie hatte ein viel
schlimmeres Schicksal. Sie musste als lebende Tote und Gefangene im Eis Liebe
und Freundschaft miterleben und konnte nichts dagegen tun. Ihre Macht war
vorbei, doch ihr Hass noch immer vorhanden.
Im Dorf kehrten Ruhe und
Frieden zurück. Die Vermissten hatten sich schon bald wieder im Dorf eingelebt,
und es ging alles seinen gewohnten Gang. Sie konnten sich jedoch nicht mehr an
die genauen Geschehnisse erinnern. Sie wussten nur, dass sie Gefangene gewesen
waren bis Big sie entdeckt und befreit hatte. Es war gut so, die Natur hatte
dafür gesorgt, dass sie die Angst verdrängen und wieder Freude empfinden konnten.
Big war der grosse Held
des Dorfes. Ein Künstler hatte zu seinen Ehren aus einem Holzstamm eine Statue
geschnitzt. Sie zeigte Big und seine Freunde Sina und Mimi und wurde mitten auf
dem Dorfplatz aufgestellt. Am Fusse der Statue war eine Tafel angebracht mit
dem Text "Big, unser Retter". Jedes Mal, wenn Big daran vorbei ging, hielt
er einen Moment inne, stellte seinen Schwanz etwas höher und war mächtig stolz
auf sein Ebenbild. Er war berühmt. Manchmal hörte er Touristen, die tuschelten,
als sie den Riesenhund vor der Statue erblickten. "Schau mal, da ist er
ja, Big, der Retter."
Auch wenn Big seit Jahren
nicht mehr unter uns weilt, steht seine Statue noch immer am Fusse des
Matterhorns. Er hatte in seiner Zeit viele Nachkommen
gezeugt, alles wunderschöne Bernhardiner mit dem Wesen eines Engels. Als
Grossvater erzählte er seinen Enkeln die Geschichte der Vermissten, wie er sie
gefunden und gerettet hatte. Sie konnten nicht genug von diesen Geschichten
bekommen. Er musste sie immer wieder erzählen. Sie hockten im Kreis um ihn herum
und hörten gespannt zu. Sie bewunderten ihren Opa. Wie kräftig und mutig er
doch war. Sie wollten genauso werden wie er und den Menschen helfen.
Noch heute findet man in
vielen Bergdörfern diese kräftigen Bernhardinerhunde, die in ihrem massigen
Körper ein sanftes Wesen beherbergen. Viele von ihnen tragen ein Fässchen wie
es auch Big trug, in dem eine Flüssigkeit ist, der man magische Kraft nachsagt.
Es soll ein Zauberwasser sein, das zur Rettung Verschollener dient. Ob das so
ist, weiss niemand. Tatsache ist aber, dass diese Hunde schon viele Leben
gerettet haben. Ob es nur am Zaubertrank oder am Spürsinn dieser Tiere lag, ist
unklar.
Wenn man einem
Bernhardiner begegnet fragt man sich unwillkürlich, ob auch er wohl ein Nachkomme
von Big ist. Angst braucht man nicht haben, auch wenn er mit seiner Grösse Eindruck
macht. Bernhardiner sind die besten Freunde der Menschen und haben einmal mehr gezeigt,
dass man mit Mut und Liebe die Welt verändern kann. Bedingungslose Liebe ist
stärker ist als der tiefste Hass. Das musste auch die böse Hexe erfahren, die
noch immer als lebende Tote im Gletscher liegt.