In der Falle
Buch 7
In der Falle
Er sass in der Falle, mitten im Wald. Wenn er nach oben blickte, sah er die hohen Tannenwipfel, die ihn vor dem Regen schützten. Unter seinen Füssen war es weich. Er sass auf einem dicken Teppich aus Tannennadeln. Es roch nach Harz. Jetzt, wo wieder ein Windzug durch die Bäume fegte, fielen zahlreiche Blätter auf ihn hinab. Es schien, als regnete es Blätter. Sie bildeten am Boden eine dicke Schicht. Wenn er darüber ging, knirschte es unter seinen Pfoten. Vor zwei Wochen noch hätte er mit den Blättern gespielt, nach ihnen gegriffen und wäre ihnen nachgerannt, wenn sie, vom Wind getrieben, durch die Luft flatterten. Er hätte sie gepackt wie eine Maus und nach oben geschleudert.
Doch jetzt war alles anders. Sein Leben hatte sich blitzschnell verändert und er sass in der Falle. Sie hatte ihn verlassen, war mit ihren Kindern weggegangen. Nun hatte er sich auch noch verirrt, wusste nicht mehr, wo er sich befand. Plötzlich war er in diesem grossen Wald gefangen. Um ihn herum gab es nur Bäume. Einer sah aus wie der andere. Zwar lagen etliche Aeste am Boden, doch auch daran konnte er sich nicht orientieren. Weiter vorne hatten Waldarbeiter Holz aufgestapelt. Sie hatten einen riesengrossen Holzvorrat aufgeschichtet. Dort konnte er sich vor dem Herbststurm ein wenig in Sicherheit bringen. Er hörte den Wind, der durch den Wald blies, sah die Tannenäste, die sich im Rhythmus der Böen hin und her bogen. Er setzte sich dicht vor den Holzstapel und schaute sich ängstlich um. Es gab nichts, woran er sich orientieren konnte. Dann prasselte der Regen auf ihn nieder. Igitt, wie hässlich! Der Holzstapel schützte ihn nur vor den Windböen. Dem Regen war er jedoch schutzlos ausgeliefert. Er musste einen Unterschlupf finden, bevor sein Fell durch vollständig durchtränkt war.
Er schaute sich um nach einer Höhle oder einem Unterschlupf. Nichts, nur Bäume. Als der Regen einen Moment nachliess, rannte er um den Holzstapel herum. Vielleicht entdeckte er etwas auf der anderen Seite? Sein Blick suchte den Horizont ab. Es war sehr dunstig und er konnte kaum etwas erkennen. War das ein Haus, das er weit entfernt sah? Durch den Regen war die Sicht getrübt. Das Wasser peitschte über dem Boden auf und spritzte wieder hoch. Es entstand eine Nebelschicht, die alles trüb erscheinen liess. Doch, da war doch was.
Bei der nächsten kurzen Regenpause rannte er in die Richtung, in der er das Haus gesehen hatte. Tatsächlich, es war so. Da stand eine Hütte mitten im Wald. Nun musste er nur noch einen Durchschlupf ins Innere finden. Immerhin gab es in dieser Waldhütte eine kleine Terrasse mit einem Vordach und einer Bank, auf die er sich vorerst mal legen konnte. Trotzdem wäre er viel lieber drin gewesen. Er war nass geworden und müde. Draussen wollte er nicht bleiben. Er hatte Angst, in der Nacht vom Fuchs überrascht zu werden. Langsam schlich er ums Haus. Im hinteren Teil war ein kleiner Anbau, eine Art Geräteschuppen. Die Türe reichte nicht bis zum Boden. Wenn er sich duckte, könnte er sich darunter durch zwängen. Gesagt, getan. Dann stand er drin, doch was war denn das? Er stand in einer Toilette. Dies kannte er von daheim. In einem solchen Raum war damals sein Katzenklo untergebracht. Hier wohnten Menschen, dachte er, sonst gäbe es hier keine Toilette. Er suchte weiter, wollte nbedingt ganz ins Hausinnere. Die Toilette bot ihm zwar vorübergehend Schutz, doch war das nur eine Notlösung. Der Raum war sehr klein und roch unangenehm.
Die Hütte schien schon älter zu sein. Jedenfalls sahen die Bretter so aus. Sie waren tatsächlich morsch und an vielen Stellen nicht mehr ganz dicht. Für Wuschel war es einfach, sich zwischen zwei losen Brettern durchzudrücken. Er konnte sich ja so dünn und flach machen. Er hatte erreicht, was er wollte. So war es immer bei ihm. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er es auch durch. Nun war er im Innern der Waldhütte. Auch hier roch es leicht muffig, dafür war es trocken und windgeschützt.
Ueberall standen Holztische und Bänke herum. Zum Teil waren sie aufeinander gestapelt. An einer Ecke gab es eine Nische mit einer kleinen Küche. Der Raum war nicht allzu gross, doch Wuschel gefiel er. Bestimmt trafen sich hier die Menschen, um Feste zu feiern. Am anderen Ende des Raumes war ein Kamin. Dort roch es nach kalter Asche und nach den Resten von Grilladen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Nun hatte er Hunger. Die letzte Mahlzeit lag lange Zeit zurück. Doch daran war er selber schuld. Einen Moment lang wurde er traurig. Er dachte an die letzten Monate, an Kiki und ihre gemeinsamen Kinder. Alles hatte er kaputt gemacht. Wie blöd war er doch gewesen. Mit seinem Handeln hatte er sie und seine ganze Familie verloren. Erst war er der glücklichste Kater dieser Welt, nun war er ein einsames verirrtes Tier, das Angst bekam, wenn es an die Zukunft dachte.
Immerhin war er froh, einen Unterschlupf gefunden zu haben. Nahrung würde er sich schon noch suchen. Doch erst wollte er sich trocken putzen und dann etwas schlafen. Es ging bereits die Sonne unter. Er hatte einen langen Tag voller Abenteuer hinter sich. Er sprang auf einen der Stühle, rollte sich zusammen und schlief sofort ein. Er sah den Mond nicht, der am Himmel stand und hörte die Tiere nicht, die nachts im Wald ihr Nachtgebet sangen. Wuschel schlief so tief wie schon lange nicht mehr. Sein dichtes Fell legte sich wie ein Mantel um seinen kräftigen Körper und wärmte ihn.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war es schon hell. Der Regen war vorbei, und die Sonne hatte ihr Sonntagsgesicht aufgelegt. Noch war der Boden nass. Doch dort, wo die Sonnenstrahlen bis zum Boden gelangten, entstand feiner Nebel, der über den Waldboden kroch. Dieser Nebel erschien in der Sonne wie Rauch, der über den Boden glitt. Von den Blattenden rieselten die letzten Wassertropfen. Welch schöner Herbstmorgen! Wuschel hockte auf dem Fenstersims und schaute durch das schmutzige Fenster nach draussen in die Natur. Er war wieder zufrieden, hatte lange und gut geschlafen. Die trüben Gedanken von gestern Abend waren weg. Er musste in die Zukunft schauen, denn an der Vergangenheit konnte er nichts mehr ändern. Er musste sich damit abfinden. Nun gab es nur noch das Problem mit dem Hunger. Er ging durch den Raum, schaute in jede Nische und unter jede Bank. Nein, da gab es nichts. Die Hütte war sauber geputzt. Die letzte Gesellschaft hatte alles aufgeräumt. Nichts war für ihn übrig geblieben. Er sprang wieder auf das Fensterbrett und schaute raus. Ein Eichhörnchen sprang von Ast zu Ast. Als es auf den Boden hüpfte und dort eine Haselnuss mit seinen scharfen Zähnen bearbeitete, rannte Wuschel los. Er drückte sich unter den beiden Türen durch nach draussen. Das kleine Ding würde er schnappen und mit Haut und Haar fressen. Doch sein Plan ging nicht auf. Das flinke Eichhörnchen hörte ihn und kletterte blitzschnell auf den nächsten Baum. Es schaute von oben auf den schönen Kater hinab, der zwar klettern konnte, ab nie und nimmer so flink war wie es. „Pech“, dachte Wuschel. Er hockte sich wieder auf die Holzbank und beobachtete das Geschehen im Wald. Er sah nur Käfer und Fliegen, keine Maus und auch keinen Hasen. Es vergingen Stunden und Wuschels Hunger wurde immer nagender. Plötzlich hörte er Stimmen, die sich der Hütte näherten. Da er nicht wusste, wer da kam, schlich er sich vorerst mal davon. Er drückte sich erneut durch die losen Holzschindeln ins Innere und setzte sich auf die Fensterbank. Die schmutzigen Scheiben waren so trübe, dass man von aussen nicht hinein sehen konnte. Er konnte mit seinen scharfen Augen allerdings alles überblicken.
Es kamen vier Personen, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Sie trugen Rucksäcke und sangen ein Wanderlied. Bei der Hütte angekommen, legten sie alles auf die Bank. „Ihr geht Holz sammeln, Ronja und ich bereiten das Essen vor“, erklärte die Mutter. Der Vater und sein Sohn zottelten davon. Holz gab es ja genug. Es war also nicht schwierig, welches zu finden. Schon nach kurzer Zeit standen sie deshalb wieder da. In den Händen trugen sie Holz, dicke und dünne Aeste. Der Vater ging zur Grillstelle, schichtete alles schön auf und zündete den Stapel an. Da es am Vortag geregnet hatte, war ein Teil des Holzes noch etwas feucht, weshalb viel Rauch aufstieg. Doch dieser war bald verschwunden und die Flammen loderten.
In der Zwischenzeit hatte die Mutter den Rucksack geöffnet. Sie packte alles aus, was sie mitgenommen hatten, Tee für die Kinder und Wein für den Vater. Sie breitete auf dem Holztisch ein Tuch aus, stellte das Geschirr darauf und legte das Besteck daneben. Es gab nebst Tomaten- und Gurkensalat auch noch Reissalat und Brot. Sie liessen es sich gut gehen, so wie jeden Sonntag. Sie liebten die Natur und verbrachten viele Wochenenden im Wald bei dieser Waldhütte. Es war ihr Lieblingsort. Und dann – Wuschel traute seinen der Hand. Er sah weisse und rote Würste, welch ein Schmaus! Sie legte sie zu den anderen Esswaren. Da lagen sie, prall und fett, schön aneinander gereiht. Sie strömten einen Duft aus, der ihn fast wahnsinnig machte. „Viel zu viele Würste für vier Personen“, dachte er. „Dem muss man Abhilfe schaffen.“ Erneut drückte er sich unter den Balken durch. Leise musste er sein, denn er wollte nicht entdeckt werden. Noch sassen die Mutter und Ronja am Tisch und bereiteten den Festschmaus vor. Doch als der Vater sie rief, standen sie auf und gingen sie zu ihm hinüber. Das war Wuschels Chance. Blitzschnell griff er zu. Er packte eine weisse Wurst und rannte davon. Die Familie hörte nur noch einen Knall, als ein Teller zu Boden fiel, und sah einen dunklen Schwanz, der hinter dem nächsten Baum verschwand. Es ging alles zu schnell, als dass sie sagen konnten, um welches Tier es sich gehandelt hatte. Fest stand nur, dass nun eine Wurst fehlte. Plötzlich fingen alle an zu lachen. Die Situation war aber auch komisch. Das unbekannte Wesen hatte nur eine einzige Wurst erwischt. Es war also noch genug für sie übrig.
Wuschel war stolz auf sein Werk. In der Schnauze hing die weisse, lange, fette, wohlriechende, geklaute Wurst. Sie war grösser als alle, die er je gesehen hatte. Oder war das nur der Hunger, der sie grösser erscheinen liess? Er rannte so weit weg, dass man ihn nicht mehr sehen konnte. Hinter sich hörte er noch immer das Lachen der Familie, doch er drehte sich nicht mehr um. Als der Abstand gross genug war, blieb er stehen. Noch einmal schaute er sich um. Er musste sicher sein, dass kein Feind da war. Und dann – endlich – konnte er reinbeissen. Sie war einfach nur lecker, ein himmlisches Mahl. Er genoss jeden Bissen und spürte, wie sein Bauch sich füllte und wie sein Hunger endlich nachliess.
Dann schlich er sich zurück zur Hütte. Vielleicht gab es ja noch Nachschlag? Da hatte sich Wuschel aber getäuscht. Die Familie hatte aus der Sache gelernt. Sie hatten die Wurstwaren wieder in den Rucksack gepackt bis die Glut so weit war, dass man die Würste auf den Grill legen konnte. Als er beim Waldhaus ankam, lagen die Leckereien bereits auf dem Feuer. Die Familie sass am Tisch und bewachte die Grilladen sehr genau. Sie sahen ihn nicht. Er sass im Unterholz unter einer Wurzel und schaute ihnen zu. Keine Chance, noch mehr Fleisch zu bekommen. Aber sein Hunger war vorerst gestillt. Er ging wieder zurück in die Hütte und legte sich schlafen. Wie schön war es, satt zu sein.
Lange schlief er nicht, vielleicht eine Stunde oder höchstens zwei. Jedenfalls war die Familie noch immer da, als er wach wurde. Sie tranken nun Tee und assen Früchte. Er wusste, das Essen war vorbei, die Würste gegessen. Es dauerte nicht mehr lange und sie packten ein. Alles kam in den Rucksack, auch die leeren Flaschen und der Abfall. Sie wollten ihren Lieblingsplatz sauber zurücklassen, damit sie sich auch am nächsten Sonntag daran freuen konnten. Als sie langsam davon schlenderten, fasste Wuschel einen Plan. Er folgte ihnen. Sie wussten bestimmt, wie man aus diesem Wald herausfand. Sicher kannten sie den Weg. In mässiger Entfernung folgte er ihnen. Er durfte und wollte sie nicht verlieren. Als sie nach einer Stunde eine Rast machten, hockte sich auch Wuschel hin.