Des Storchs neue Heimat (JD)
Buch 8
Seit Tagen liefen die Vorbereitungen für die Rückkehr nach Europa. Die Storchenfamilie hatte den Winter in Afrika verbracht und nun sollten sie über 10‘000 km fliegen, um anfangs März wieder in Europa zu sein. Drei kleine Storche und ihre Eltern. Bengo war der Jüngste und fürchtete sich vor der langen Reise, die sie zurück in die Heimat bringen sollte. Er ahnte noch nicht, dass er dort angekommen, ganz allein auf sich gestellt sein würde. Ohne Eltern. Ohne Geschwister.
Als der Tag der Abreise gekommen war, legte sich die Morgensonne über die Wüste Afrikas und Bengo hatte in der Nacht vor Aufregung, kein Auge zu gemacht. Als sie loszogen waren die Elefanten gerade am Wasserloch und sie verabschiedeten sich. Im nächsten Winter würden sie wieder zusammen sein und die warmen Nächte mit Geschichten füllen. Das gefiel Bengo besonders gut.
Die Reise verlief ohne Zwischenfälle und führte sie über die iberische Halbinsel und Frankreich in Richtung Nordosten. Dort lag ihr Ziel. So zumindest sagten es ihre Eltern. Bengo war zwar noch klein, aber er vermochte das Flugtempo seiner Sippe gut mitzuhalten, auch wenn er dann abends nach einer üppigen Mahlzeit, müde in seine Schlafstätte fiel.
Als sie am 31. Tag ihrer Reise den Flug antraten, kam zäher und dichter Nebel auf. Er zog sich wie eine dichte Wolldecke über die Landschaft und Bengo konnte nur gerade die letzten Federn seiner grossen Schwester sehen, der er täglich treu gefolgt war. Auf einmal wurde der Nebel so dicht, dass Bengo trotz Anstrengung nichts sah. Eine kalte Angst überkam ihn und er zwang sich, regelmässig die Flügel zu schlagen, um den Anschluss nicht zu verpassen. Als der Nebel sich löste, war Bengo ganz allein am Himmel. Keine grosse Schwestern, keine Eltern in Sicht. Wo sind sie? Panik stieg in ihm auf und er versuchte sich zu beruhigen und verlangsamte seine Geschwindigkeit. Niemand in Sicht.
Als es zu dämmern begann, war Bengo verzweifelt. Ohne seine Familie war er verloren und orientierungslos. Ein fremdes Land unter ihm und das genaue Ziel unbekannt. Er schluckte die aufkommenden Tränen hinunter und auf einmal verliessen ihn seine Kräfte und er stürzte kopfüber in den Abgrund. Der Aufprall war unsanft und das rascheln der Blätter verriet ihm, dass er vermutlich in einer Baumkrone gelandet war. Zu erschöpft, zu kraftlos und ohne Mut, lag er auf einem Ast. Er schloss die Augen. Das war wohl das Einfachste und Beste in diesem Moment. Erschöpft schlief er sofort ein.
Fröhliches Vogelgezwitscher drang in Bengos Ohren. Wo war er? Welche Vögel singen dieses melodische Morgenlied? Vorsichtig öffnete er seine Augen. Er lag auf dem Ast einer Erle. Die Vögel tanzten und sangen um ihn herum. Da waren aber auch Menschenstimmen. Bengo rappelte sich auf und stellte sich auf seine langen Beine. Die Erle schien kräftig und uralt zu sein. Von Oben sah die Welt am Schönsten aus. Er erblickte den Wald, die Gehege der Tiere, die Wege, spazierende Menschen mit Hunden an den Leinen, trollende Kinder und etwas entfernt ein Gebäudekomplex. Mein Gott, war er in einem Zoo gelandet? Danach sah es jedenfalls aus. Was es ihm aber leicht machen würde, Beute und Futter zu finden. Das war sein Trost.
Und auf einmal hörte er die liebevolle Frauenstimme. Er drehte sich um und entdeckte sie am Gehege der Schafe. Sie sprach zu ihnen und die Schafe streckten die Köpfe und versuchten eine Berührung der Frau zu erhaschen, in dem sie sich gegenseitig wegdrängten. Und das Gleiche wiederholte sich am Gehege der Gämse und der Hirsche. Jedes Mal sprach sie zu den Tieren und streichelte sie. Obwohl Bengo die Sprache nicht verstand, wusste er, dass es liebevolle Worte sein mussten.
Auch er sehnte sich nach einer sanften Berührung, so wie es seine Mutter jeden Morgen getan hatte und seine Augen füllten sich mit Tränen. Wo waren seine Eltern und seine Schwestern hingeflogen? Wie konnte er sie einfach so verlieren? Bengo nahm seinen ganzen Mut zusammen und flog der jungen Frau direkt vor die Füsse. „Wer bist denn du und woher kommst du? Ich habe dich hier noch nie gesehen! Hast du einen Namen?“. Bengo schaute sie traurig an. Wenn er ihr doch nur antworten könnte. Aber die Sprache der Menschen war zu kompliziert für einen kleinen Storch. Die Frau streichelte seinen Kopf und sagte: „Komm mit! Du siehst ziemlich hungrig aus!“. Sie zog ihn hinter sich her und gab ihm dicke frische Würmer zum Frühstück. Er war so hungrig, dass er alle auf einmal schluckte. Die Frau lächelte ihn an. „Jetzt wo du satt bist, kannst du mich auf meinem Begrüssungsritual begleiten. Es fehlen noch ein paar Tier-Gehege.“. Sie machte ihm ein Handzeichen und Bengo folgte ihr durch den Park.
Hier an diesem Ort schien er sicher und aufgehoben zu sein und die Frau kümmerte sich rührend um ihn, so wie es seine Mutter auch immer getan hat. Doch ihm fehlten die anderen Störche trotz allem sehr und mit jedem Tag wurde sein Heimweh grösser. Er wollte zu seiner Familie. Aber wo sollte er sie suchen? Er wusste ja selber nicht genau, wo er hier war. Seine innere Traurigkeit wuchs. Viele Tage waren seit seiner Ankunft vergangen und Bengo wirkte immer mehr in sich gekehrt und untröstlich zu sein. Das bemerkte die Frau mit der liebevollen Stimme und so nahm sie ihn eines Tages nach dem Morgenritual in die Arme und streichelte seinen Kopf. „Komm mit kleiner, trauriger Storch. Ich werde dich an einen Ort bringen, an dem es ganz viele Störche hat und dann wirst du wieder fröhlich und glücklich sein können.“
In der Tat hatte es ganz, ganz viele Störche, die er schon von weitem auf den Feldern sehen konnte, wie sie geduldig nach Futter Ausschau hielten. Ob seine Familie auch hier war? Ein Hoffnungsschimmer stieg in ihm auf und als die Frau ihn aufs Feld liess, hörte er die Stimme seiner Mutter sofort. „Bengo, Bengo, mein verlorener Sohn ist wieder da!“. Sie kam mit grossen Schritten auf ihn zu, gefolgt von seinem Vater und seinen Schwestern. Wiedersehen macht wirklich grosse Freude! Bengo weinte vor Glück und warf sich seiner Mutter in die Arme.
Nach einer gewissen Zeit spürte Bengo aber, dass ihm der Park mit den Tieren, das morgendliche Ritual und die Frau mit der liebevollen Stimme anfingen zu fehlen. Wie konnte das jetzt sein? Er war mit seiner Familie wieder vereint und sehnte sich auf einmal nach dem Ort, an dem er alleine angekommen war und an dem er sich doch so traurig und einsam gefühlt hatte. Er war jetzt wohl erwachsen geworden und es war an der Zeit, dass er seinen eigenen Weg geht und seine eigene Heimat findet. Doch was war Heimat? Und wie fühlte sich Heimat überhaupt an?
Um das heraus zu finden, musste er zurück in den Park. Er verabschiedete sich von seinen Eltern und Schwestern und dankte ihnen für all die Liebe und Zuneigung die sie ihm geschenkt hatten. Sie konnten ihn so gut verstehen. Er war kein Junge mehr und die Reise hat den Reifungsprozess beschleunigt. Er war jetzt ein richtig schöner, grosser Storch geworden. Winkend flog er davon.
Es war früher Morgen und im Park angekommen, sah er sie schon am Gehege der Schafe stehen. Das war die erste Haltestelle auf ihrem Weg und er landete wie immer direkt vor ihren Füssen. Sie erschrak und sah ihn mit grossen überraschten Augen an. „Was machst du denn hier? Hat dir der Park am Ende mehr gefehlt als deine eigene Familie?“. Darauf wusste er keine Antwort. Doch als sie ihn so liebevoll in die Augen sah, wusste er Bescheid, was Heimat bedeutet. Die Antwort lag auf der Hand.
Heimat ist dort, wo das Herz zu lächeln beginnt.