Shivas Reise ins Ungewisse
Buch 7
Shivas Reise ins Ungewisse
Tina hatte viel zu tun, um das neue Haus einzurichten und katzengerecht zu gestalten. Es fiel nicht allen Katzen leicht, sich an die neue Umgebung anzupassen. Für die einen war es super, durch den grossen Garten rennen zu können, andere vermissten die alte Umgebung.
Shiva hatte es nicht leicht. Die wunderschöne Dreifärberin war vor dem Umzug viel bei einem Nachbarn gewesen, der sie gefüttert und verwöhnt hatte. Er hatte sie dadurch dem wirklichen Zuhause entwöhnt. Dies war zwar nicht böse gemeint, für Tina aber ein Problem. Sie liebte ihre Shiva und wollte nicht, dass sie wo anders wohnte. Die Schöne war als kleines Baby zu Tina gekommen, nur gerade mal 330 Gramm schwer. Sie war für ihr Alter von sieben Wochen viel zu klein, doch Tina hatte sich in das Katzenbaby verliebt. Sie war mit ihrer grau-beige-weissen Zeichnung etwas ganz Besonderes. Diese Farbkombination fand man nicht überall. Als Tina sie das erste Mal sah, wusste sie, dass Shiva bei ihr einziehen würde. Von Anfang an gab es zwischen den beiden eine starke Bindung. Aus dem erst etwas struppigen Katzenkind entstand eine absolute Schönheit. Die Leute drehten sich nach ihr um, die Kater belagerten sie. Auch mit ihrem sanften Wesen überzeugte sie alle. Sie schlich sich in jedes Herz, leider auch in das des besagten Nachbarn. Er wohnte nicht sehr weit weg, also einen „Katzensprung“ entfernt. Wenn Tina arbeiten ging und sie sich daheim langweilte, ging sie einfach zu ihm. Er fütterte sie und gab ihr einen kuschligen Liegeplatz, als ob Shiva bei ihm wohnte. Tina sah das gar nicht gern, war es doch nicht die erste Katze, die auf diese Weise dort gelandet und nicht mehr nach Hause gekommen war. Aber machen konnte sie nichts. Sie wusste bereits, dass sie eines Tages wegziehen würde.
Beim Umzug nahm sie die Katzen in Etappen mit. Jedes Mal wenn sie ins Haus fuhr, packte sie zwei Katzen in den Tragkorb. Bei Shiva wartete sie bis zum Schluss. Sie war die letzte, die sie mitnahm. Im neuen Haus angekommen, begrüsste sie erst mal ihre Katzengeschwister, die sich bereits eingelebt hatten. Sie zeigten Shiva alles, wo die schönsten Liegemulden und Kratzbäume waren. Das Haus war wirklich riesig. Trotz der vielen Katzen gab es noch genug freie Plätze, die Shiva belegen konnte. Auf jedem Stockwerk gab es auch mehrere Katzenklos. Besonders interessant war die Küche. Dort lagerte das Futter. Zwei Mal täglich spielte Tina Dosenöffner. Wenn die Tiere das Klicken der Dose hörten, rannten sie in die Küche und warteten gespannt, ob heute wohl Fisch, Rind oder Hähnchen an der Reihe war. Tina füllte drei grosse Futterschalen, die eigentlich für Hunde gedacht sind, und die Katzen reihten sich darum herum. Lecker, einfach nur lecker! Tina hörte das Schmatzen, wenn sie sich den Bauch vollschlugen. Auch für den Durst war gesorgt. Tina hatte mehrere Zimmerbrunnen, wo das Wasser über einen Stein hinunterfloss. Dieses Wasser war besonders lecker, da es den ganzen Tag gequirlt wurde. Ueberhaupt standen keine Wünsche offen. Hier war das Paradies für die Tiere.
Der einzige Nachteil im Moment war, dass Shiva vorerst drinnen bleiben musste. Das passte ihr natürlich gar nicht, was Tina auch verstehen konnte. Sie wollte raus in die Natur, sich nicht einsperren lassen. Die Katzen, die schon länger hier waren, durften bereits Freigang geniessen. Sie sah sie durchs Fenster, wie sie draussen herumrannten. Als der Tag kam, an dem sie die ersten Schritte in den Garten machen durfte, war die Welt wieder in Ordnung. Jetzt spürte sie wieder Gras unter ihren Füssen, durfte Bäume hochklettern und sich zum Schlafen unter die Büsche legen. Noch gab es keine Katzentüre bei Tina. Shiva konnte über die Balkonbrüstung, die fast bis zum Boden reichte, ins Haus hinein. Wenn Tina daheim war, stand die Haustüre sowieso immer offen.
Auch wenn Shiva am alten Wohnort nicht mehr oft daheim gewesen war, wurde sie von ihren Katzengeschwistern liebevoll empfangen. Niemand war ihr böse, dass sie oft unterwegs gewesen war. Nun war ja alles wieder in Ordnung, so dachten sie mindestens. Für Shiva war das aber nicht so. Sie war ein Dickkopf – schon immer gewesen – und liess sich nicht vorschreiben, was sie zu tun hatte und was nicht. Sie heckte einen teuflischen Plan aus. Sie wollte ihren ehemaligen Nachbarn besuchen gehen, hatte allerdings keine Ahnung, dass dies ein extrem weiter Weg war. Katzen scheinen einen phänomenalen geografischen Instinkt zu haben. Niemand weiss, woran sie sich orientieren, doch gibt es Geschichten über Katzen, die kilometerlange Strecken zurückgelegt und allen Gefahren getrotzt haben, um an den alten Wohnort zurückzukehren.
Im Spätherbst, als die ersten Blätter fielen, machte sich Shiva auf den Weg. Sie schlug den Weg Richtung Westen ein, was grundsätzlich stimmte. Sie ahnte nicht, dass sie tage- wenn nicht wochenlang unterwegs sein würde. Eine Distanz von 35 Kilometern lag vor ihr. Ihr Weg führte sie über Felder und quer durch die Reben. Sie orientierte sich nach der Sonne und dem Mond. Mit ihren kleinen Beinen kam sie nicht schnell voran, doch das störte sie nicht. Sie hatte jede Zeit der Welt. Schon am ersten Wandertag kam sie an einem Bauernhof vorbei, auf dem Katzen lebten. Sie gesellte sich zu ihnen und erzählte ihnen von ihrem Vorhaben. Als Dank für die schöne Geschichte durfte sie am Nachtessen teilnehmen. Hier wurden die Katzen gefüttert, mussten sich nicht alleine ernähren. Der Bauer war ein grosser Tierfreund und gerne bereit, seine Katzen mit Qualitätsfutter zu versorgen. Shiva blieb ein paar Tage bei ihren neugewonnenen Freunden, dann verabschiedete sie sich. Es gefiel ihr, die Freiheit auszuleben und trotzdem nicht zu frieren oder zu hungern. Sie würde jeden Tag eine Strecke laufen und sich dann wieder irgendwo verpflegen. So war der Plan. Aber manchmal kommt halt alles anders als man denkt. Es kamen zwei Wochen voller Hunger und Einsamkeit. Als sie dem Waldrand entlang schlenderte, war es vorbei mit Bauernhöfen und Futterstellen. Sie war nun total auf sich selbst gestellt. Ausser den Bäumen gab es nichts mehr. Sie musste ganz allein im Wald schlafen und hörte nachts Tiere, die unheimliche Geräusche von sich gaben. Immerhin fand sie eine Höhle unter einer grossen Wurzel, in der sie sich etwas verstecken konnte. Aber sicher war sie dort nicht. Angst kroch in ihr hoch. Was waren das für Tiere, die nachts durch den Wald heulten? Futter hatte sie auch keines. Bei Tina wurde es ihr jeden Tag frisch angeboten, hier war nichts. Sie sehnte sich nach ihrem Dosenöffner. Hatte sie Tina Unrecht getan, in dem sie verschwunden war? Und jagen konnte sie nicht gut, woher auch? Sie war nie auf sich selbst gestellt gewesen und hatte nie gelernt, Mäuse zu fangen. Sie frass, was sie erwischte, Käfer, Heuschrecken oder manchmal auch eine Fliege. Trotzdem blieb ihr Bauch meistens leer. Sie sehnte sich plötzlich nach einem kuschligen Bett oder einer Hand, die sie streichelte. Was hatte sie nur getan? Sollte sie umkehren? Der Hunger war kaum auszuhalten. Dazu kam ein unangenehmer, kalter Wind, der durch den Wald fegte. Die ersten Schneeflocken waren bereits gefallen. Der Winter hatte die ersten Vorboten geschickt. Auf den Feldern lag der erste Schnee. Nun wurde es noch schwieriger, Beute zu fangen, weil sich die Mäuse tief unter der Erde in ihr Winterquartier verzogen hatten.
Am nächsten Tag entdeckte sie Tiere, die in einer Waldlichtung die letzten Sonnenstrahlen genossen. Es war eine ganze Familie, die im Gras lag. Solche Tiere hatte sie noch nie gesehen. Sie lagen da und schauten sie erstaunt an. Wahrscheinlich dachten sie das Gleiche von Shiva. Was hatte diese Samtpfote in ihrem Wald verloren? Shiva hoffte, bei den Tieren irgendwo etwas Essbares zu finden. Zwar gab es unweit vom Liegeplatz einen Futterplatz, doch die Krippen erhielten nur Korn. Wie konnte sie auch wissen, dass Rehe Vegetarier sind.
Sie fühlte sich gar nicht mehr gut. Ihr Mut war einer grässlichen Angst gewichen. Was würde passieren, wenn sie den Weg nicht mehr fand oder nichts zu fressen bekam? Würde sie sterben? Sie hatte bereits stark abgenommen und war nur noch Haut und Knochen. Gelitten hatte auch die Kraft. Durch den Gewichtsverlust hatte sie die ganze Energie verloren. Sie wollte noch nicht sterben, war ja noch so jung. Sie verdrängte die düsteren Gedanken und schleppte sich Meter um Meter weiter. Nach ein paar Tagen sah sie plötzlich ein Licht am Horizont.
Ein schwaches Licht schien ihr entgegen. Häuser? Menschen? Futter? Etwas wusste sie instinktiv; Wo Leute wohnen gibt es Futter. Sie rannte über die Wiese so gut es noch ging, dem Licht entgegen. Tatsächlich, hier stand ein altes Wohnhaus, das hell erleuchtet war. Sie sah durch das Fenster. Am Kamin sass eine alte Frau und klapperte mit den Stricknadeln. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Tee Krug, aus dem sie von Zeit zu Zeit etwas in ihr Glas goss. Shiva umkreiste das Haus. Sie wollte einen Durchschlupf finden, um mindestens Wärme zu bekommen. Auch wenn das Haus sehr alt war, schien es gut abgedichtet. Es gab keine Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Sie versuchte es immer wieder, ging mehrmals um das Haus, leider ohne Erfolg. In ihrer Verzweiflung legte sie sich oben auf die Treppe des Eingang Bereiches, der durch eine Glasscheibe und ein Vordach geschützt war. Es schneite, doch die Schneeflocken kamen dank der Verglasung nicht bis zur Eingangstüre. Sie legte sich auf den Fussabtreter, dicht an die Türe. Ganz wenig Wärme drang durch den Spalt unter der Türe hindurch, kaum spürbar. Dann schlief sie ein. Sie hatte einen leeren Magen und war so erschöpft, dass sie überzeugt war, den nächsten Morgen nicht zu erleben. Sie dachte nochmals an ihr kurzes Leben zurück, das intensiv und abenteuerlich war. Nun wäre es vorbei. Sie hatte keine Kraft mehr und würde in den Katzenhimmel steigen. Sollte es weiterschneien, würde man am nächsten Morgen nur noch einen Schneehaufen vorfinden, darunter die schöne Shiva, ein letztes Mal eingeschlafen. „Ade schöne Welt“!