Grigia das Bonsai-Kätzchen
Buch 2
Grigia das Bonsai-Kätzchen
Wieder einmal war es so weit. Minusch spürte den Zug der Natur, das Verlangen nach einem Freund. Es war noch nicht lange her, als sie drei kleinen Fellknäueln das Leben geschenkt hatte, doch die Natur ging ihren Lauf. Sie wurde unruhig und verbrachte die lauen Sommernächte im benachbarten Bauernhof. Dort wurde sie von den jungen Katern wegen ihrer majestätischen Erscheinung bewundert. Nur selten kam eine so vornehme und schöne Katzendame bei ihnen vorbei. Ja, schön war sie, das war unbestritten.
Sie war das, was die Menschen eine rassereine Perserkatze nannten. Ihre Vorfahren hatten wegen ihrer Schönheit etliche Preise gewonnen. Sie waren internationale Champions, reisten von Ausstellung zu Ausstellung. Sie zählte zu den begehrten Rassekatzen und bekam öfters Nachwuchs.
Eines dieser Katzenbabies war Minusch. Es war genau so schön wie ihre Mutter, doch wurde es nicht für die Weiterzucht gebraucht. Sie kam in eine Familie zu einem lieben Freund, ebenfalls einem Perserkater. Mit ihm verstand sie sich ausgezeichnet. Er war gross und kräftig und sehr lieb zu ihr.
In dieser Familie gab es auch einen grossen Hund, mit dem sie innert kurzer Zeit gut Freund war. Minusch durfte, im Gegensatz zu ihrer Mutter, in die Natur hinaus, welch herrliches Leben! Sie lebte am Rande der Stadt, in einer kleinen Ueberbauung. Wenn sie am Küchenfenster sass und nach draussen blickte, schaute sie auf grüne Wiesen und in die unendliche Weite der Natur. Es roch nach Pferden und Kühen. Unweit gab es einen Hühnerstall, der für sie allerdings ein absolutes Tabu war. Sie hatte deswegen schon öfters Hausverbot bekommen, weil sie in jugendlichem Uebermut die Hühner gejagt hatte. Sie war geheilt, liess das Federvieh mit verächtlicher Mine links liegen.
Minusch konnte über eine Katzentreppe nach unten. Sie war während den Nächten draussen unterwegs. Am Tag erholte sie sich dann auf dem Katzenbaum, der dicht am Fenster stand und von dessen Liege aus man auch von drinnen den Ausblick ins Revier hatte. Sie war eine überaus glückliche Katzendame.
Und jetzt, in der rolligen Zeit, zog es sie regelmässig zum benachbarten Bauernhof. Dort wurde sie gerne gesehen, denn die Kater des Nachbarn staunten über ihr seidenes Fell. Sie hatte eine eher seltene aber äusserst edle Fellfarbe, die Farbe ihrer Mutter. Die Züchter nannten die Farbe der Schildpatt-Katze „black-tortie-smoke“. Für die Kater der Nachbarschaft war sie schlicht und einfach grau gescheckt. Sie war eine auffallende Erscheinung mit ihrem langen Haar, das sie stundenlang mit ihrer rauen Zunge bearbeiten musste, damit es nicht verfilzte. Die Kater bewunderten sie, wenn sie hüfteschwingend durch die Felder streifte und ihr langes Haar in der Sonne glänzte. Auch ihre Augen waren auffallend gross. Mit ihrem Blick konnte sie eine Menge Kater aufs Mal betören. Und dies tat sie auch liebend gern. Sie wusste, dass sie schön war und liebte es sehr, wenn man ihr Komplimente machte und sie bewunderte. Sie stolzierte jeden Tag mindestens einmal quer durch den Nachbarshof, die geilen Blicke sämtlicher Hofkater waren auf sie gerichtet. Sie war ein Luder, genoss es, den Männern den Verstand zu rauben. Manchmal stritten sie sich wegen der schönen Minusch. In dieser Beziehung waren Kater wie Menschen. Wenn sie eine Schönheit entdecken, agieren sie nicht mehr mit dem Verstand. Sie prügelten sich um die Gunst der schönen Minusch. Sie ihrerseits war bei der Partnerwahl nicht besonders wählerisch. Wer ihr gefiel, durfte sie ein paar Tage begleiten.
Doch im Moment hatte sie andere Sorgen. Sie war rollig, obwohl sie erst vor kurzer Zeit einen Wurf Katzen zur Welt gebracht hatte. Die Nachbarskater stritten sich wie immer um sie und Minusch gefiel es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie verbrachte einige Tage im Kreise ihrer Freunde. Wie es bei Katzen üblich ist, nimmt man es mit der Treue nicht so ernst. Sie hatte unzählige Liebschaften, denn die Schar der Fans war gross. Das Leben einer rolligen Katze ist sehr anstrengend, und Minusch zottelte nach eineinhalb Wochen nach Hause, erschöpft und abgemagert. Sie hatte vor lauter Liebesleben vollkommen vergessen, sich zu ernähren. Ihr Katzenmami Vreni stellte ihr einen besonderen Leckerbissen hin und war froh, dass Minusch endlich wieder zu Hause war.
Was Vreni geahnt hatte, traf in den nächsten Wochen ein. Minusch war erneut trächtig. Sie hatte bereits zwei Mal geworfen innert einem Jahr. Eigentlich wäre es an der Zeit gewesen, diesem Zustand ein Ende zu bereiten, doch Vreni liebte Katzenbabies und hatte den Zeitpunkt verpasst, Minusch die Pille zu geben oder sie sterilisieren zu lassen. Nun war es wieder so weit und Minuschs Bauch wuchs und wuchs. Minusch musste sich keine Sorgen machen, denn es wurde gut für die kleine Schönheit gesorgt. Die Futterschalen waren prall gefüllt und ihr Katzenbruder legte sich oft zu ihr, damit sie nicht allein war. Nach sieben Wochen konnte sie kaum mehr raus, denn die Katzentreppe war zu steil. Minusch kam mit ihrem runden Bauch kaum mehr vorwärts. Es wurde langsam Zeit, dass sie gebären konnte. Sie suchte sich, wie bei den letzten beiden Malen, ein schönes Plätzchen, an dem sie ihre Jungen zur Welt bringen würde. Wenn es nach ihr ginge, wäre Vrenis Bett genau das richtige. Immer wieder versuchte sie, das Bett für sich einzunehmen. Doch Vreni war da ganz anderer Meinung. Sie hatte der Katze eine Gebärkiste vorbereitet und drängte darauf, dass sie diese auch benutzte. Das Schlafzimmer wurde vorsichtshalber zur Tabu-Zone erklärt und verriegelt.
Dann kam der Tag der Niederkunft. Minusch spürte das bekannte Ziehen in ihrem Bauch. Vreni sass bei ihr und beobachtete die unruhige Katze. Beide wussten, dass es wieder mal so weit war. An einem schönen Sommertag im Juni brachte Minusch mit Hilfe ihrer Katzenmutter Vreni sechs kleine Kätzchen auf die Welt. Wie bei den letzten Geburten musste Vreni mithelfen, denn das Katzengebiss einer Perserdame lässt es nicht zu, dass die Mutterkatze die Nabelschnur durchbeissen kann. Hier muss der Mensch nachhelfen. Die Jungen waren allesamt sehr süss und bis auf eines alle vollkommen gesund. Das Erstgeborene war ein graues kleines Weibchen, bei den anderen fünf Katzen handelte es sich um rotweisse und grau-weisse Kater. Wie winzig waren sie doch alle. Und trotzdem wussten sie gleich, wo es was zu trinken gab. Minusch half den Kleinen, die Milch zu finden. Dann lagen sie alle beisammen und wärmten sich gegenseitig.
Obwohl sich Vreni über die Kätzchen freute, war sie doch etwas schockiert über die grosse Anzahl. Mit sechs Jungen hatte sie nicht gerechnet. Nun musste sie gleich sechs Mal ein gutes Plätzchen finden für die Babies. Erschwerend kam dazu, dass eines der Babies eine Behinderung am Bein hatte. Hier würde sie wohl kaum jemanden finden, der das Kleine aufnehmen würde. Naja, dann würde sie es eben behalten!
So erhielt Tina eines Tages die Nachricht, dass Minusch sechs kleine Kätzchen bekommen hatte, die eine Bleibe suchten. Für Tina kam das ja nicht in Frage, denn ihre Katzenfamilie war schliesslich gross genug. Doch sie wusste jemanden, der ein Kätzchen aufnehmen könnte. Brigitte und ihre Familie waren mit Tina befreundet. Sie hatten schon mal zwei Katzen, die sie leider auf der Strasse verloren hatten. In der Zwischenzeit wohnten sie aber weit weg von der Strasse. Hinter ihrem Haus gab es einen Garten und ein Stückchen Wald. Es wäre ein Paradies für eine Katze. Brigitte brauchte nicht viel Ueberredungskunst und die ganze Familie war damit einverstanden, eine von Vrenis Katzen aufzunehmen.
So fuhren Tina und Brigitte eines Tages zu Minusch und ihren Jungen. Diese zeigte den beiden Frauen voller Stolz ihre Kinder. Sie waren ja noch so winzig mit ihren drei Wochen. Es war auch gar nicht zu erkennen, ob sie kurz- oder langhaarig werden würden. Erkennbar war allerdings schon jetzt, dass das Erstgeborene viel zu klein war. Es war nur halb so gross wie seine Brüder und die Frauen machten sich ernsthaft Sorgen, ob man das kleine Ding wohl durchbringen würde. Vreni hatte sich mit einer Schoppenflasche und Katzen-Milchpulver eingedeckt. Sie würde das Kleine mit der Flasche aufziehen, wenn es bei der Muttermilch zu kurz kam.
Als Tina den Winzling sah, hatte sie Mitleid mit dem kleinen Kätzchen. Als das Bonsai-Kätzchen sich dann auch noch von ihrem Schoss unter ihre Bluse flüchtete und eine Stunde schnurrend dort verbrachte, war es um sie geschehen. Ihr Verstand wusste genau, dass das Katzenhaus voll war, doch ihr Herz hatte noch ein kleines freies Plätzchen entdeckt für einen Winzling, der zur Zeit alles andere als hübsch war. Das kleine Büsi hatte die gleiche graue Farbe wie die Mutter, weshalb Tina es sofort GRIGIA nannte. Die grossen runden Augen standen wie Scheinwerfer aus dem Gesicht heraus. Nein, hübsch war sie nicht. Doch gibt es da die Geschichte vom kleinen hässlichen Entlein? Was nicht ist, kann ja noch werden.
Brigitte entschied sich für einen weiss-roten Kater, der das Doppelte von Grigia wog. Er war ein kleiner Frechdachs, das sah man schon jetzt. Seine rote Farbe war so intensiv, dass Brigitte ihn Chili nannte. Vom Temperament her würde er seinem Namen alle Ehre machen, das wusste sie schon jetzt.
Gegen Abend verabschiedeten sich die Frauen und liessen die Katzenfamilie vorerst noch zurück. Die Kleinen mussten von Minusch noch lernen, was es heisst, eine grosse Katze zu sein. Sie durften die nächsten neun Wochen noch zusammen verbringen. Als die Babies 12 Wochen alt waren, brachte Vreni Chili in sein neues Heim. Dort war alles vorbereitet und Chili fand es herrlich dort. Jetzt war er alleiniger König und wurde den ganzen Tag gestreichelt und verwöhnt.
Grigia blieb noch drei Wochen bei ihrer Mutter, denn sie war immer noch viel zu klein. Sie wog nur die Hälfte der Brüder, die bereits in ihren neuen Familien lebten. Zurück blieben nur Grigia, Minusch und ihr kleiner Bruder. Dieser durfte für immer bei Minusch bleiben. Er hatte einen kleinen Geburtsfehler, der sich aber im Laufe der Zeit ausgewachsen hatte. Dennoch fand Vreni es richtig, dieses Katerchen bei Minusch zu lassen.
Als Grigia 15 Wochen alt war, brachte sie noch immer erst 800g auf die Waage. Doch jetzt durfte sie sich von ihrer Mama und ihrem Bruder verabschieden. Nun kam sie in Tinas Katzenhaus, wo die anderen Mitbewohner schon ganz gespannt warteten. Was Tina heute wohl wieder anschleppen würde? Als Tina den Korb öffnete, trauten die Grossen ihren Augen nicht. Dort sass ein Winzling von einer Katze mit kugelrunden, überdimensional grossen Augen. Und daraus sollte mal eine richtige Katze werden? Tasja schüttelte nur den Kopf. Manchmal verstand sie ihr Frauchen gar nicht. Was die wohl an diesem Mini-Tiger fand? Smokie freute sich über den Neuzugang und Samena war ganz ausser sich vor Freude. Endlich kam mal jemand, mit dem man so richtig schön rumtoben konnte.
Grigia war es nicht so wohl bei der Sache. „Die sind ja riesig“, dachte sie „und die schauen mich alle so eigenartig an“. Irgendwie war ihr etwas mulmig zumute und sie hielt sich an Tina, deren Geruch sie ja schon kannte. Vielleicht war es ihre Winzigkeit, vielleicht auch ihre Sanftmut oder ihr selten schönes Fell: Grigia wurde sofort aufgenommen von den anderen Tieren. Es gab kein Fauchen und kein Toben. Sogar Miezi schlich sich nicht wie auch schon davon. Sie sassen alle da und beobachteten den Zwerg, der sein neues Heim inspizierte.
Sie wurden alle Freunde und spielten Tag und Nacht miteinander. Was Grigia von ihrer Mutter nicht gelernt hatte, lehrten ihr nun ihre neuen Geschwister. Man nahm das Bonsai-Kätzchen mit auf die Mäusejagd und zeigte ihr die schönsten Plätzchen in Tinas Garten. Sie war noch zu klein, um den Katzenbaum zu erklimmen. Also legte man sich mit ihr auf den Boden. Sie verhielten sich vorbildlich, dachte Tina. Vermutlich spürten sie, dass die kleine Grigia noch etwas Hilfe brauchte. Und diese wollten sie ihr geben. Als Dankeschön wurden sie von Grigia regelmässig geputzt. Das konnte sie sehr gut, denn das hatte sie von ihrer Mutter von klein auf gelernt. Wer langes Haar hat, muss dieses auch pflegen, das wusste sie. Ob sie wohl langes Haar bekommen würde, wusste hingegen noch niemand. Die Härchen standen dem Mini-Kätzchen noch vom Körper ab und niemand konnte sagen, was wohl aus dem Fellknäuel werden würde.
Innert ein paar Monate war dann klar, Grigia würde kein langes Haar bekommen. Sie war eben keine echte Perserkatze, denn ihr Vater war ja ein Bauernhof-Kater. Doch konnte sie ihre Abstammung nicht verheimlichen. Sie hatte die riesengrossen Augen der Perserkatze und den buschigen Schwanz. Ihr Näschen war nicht ganz so eingedrückt wie das der Mutter, doch sah man ihr die Abstammung deutlich an. Ihr Fell war seidenweich und graumeliert, exakt wie das ihrer Mutter. Innert weniger Monate entwickelte sie sich zu einer Schönheit. Aus dem hässlichen Entlein war ein wunderschöner Schwan geworden.
Es war deshalb nicht erstaunlich, dass eines Tages ein grosser, stattlicher Kater vor der Türe stand, der um die Gunst Grigias warb. Tina kannte ihn, hatte man den guten Kerl vor wenigen Monaten zu Tina gebracht, als er von daheim weggelaufen war. Er hiess Güdi, das wusste sie. Sein Heim lag nur etwa 50 m von Tinas Katzenhaus entfernt. Jeden Abend stand er vor Tinas Türe und holte die kleine Grigia zum Ausgang ab. Sie verbrachten etliche Nächte zusammen und spielten wie kleine Kinder. Güdi war nur etwa zwei Monate älter als Grigia, wog aber bestimmt das Doppelte oder Dreifache. Er war ein grosses Tier, hatte einen sauberen, weissen Pelz mit wenig hellbraunen Flecken auf dem Kopf und Rücken. Wenn die beiden zusammen unterwegs waren, sahen sie aus wie David und Goliath. Die Katzenfamilie sah es allerdings nicht so gern, wenn Güdi vor der Türe stand und auf seine Freundin wartete. Sie vertrieben ihn regelmässig, denn dies hier war ihr Revier. Grigia war ihre Schwester und sie würden auf sie aufpassen. Doch Güdi liess nicht locker. Er wollte die kleine graue Katze haben und kam immer wieder. Grigia war genau so verliebt in den grossen Weissen. Sie wusste in der Zwischenzeit, wo er wohnte und ging ihn oft daheim abholen, wenn er nicht zu ihr kam.
Als Grigia acht Monate alt war, wog sie noch immer erst zwei Kilos. Vermutlich würde sie ein Bonsai-Kätzchen bleiben. Und genau diese Zierlichkeit gefiel Güdi. Wenn Grigia sich zu ihm legte, verschwand sie förmlich in seiner Fülle. Sie spielten stundenlang miteinander, tobten wie kleine Kinder durch die Gärten. Dann kam der Tag, an dem Grigia rollig wurde. Güdi war überglücklich, denn auch er war noch nicht kastriert. Nun wurde aus dem verspielten Katzenpaar ein echtes Liebespaar.
Für Tina war Grigias Rolligkeit ein Schock. Was sollte sie wohl mit weiteren Katzenbabies anfangen? Sie war hin- und hergerissen, hatte den Zeitpunkt der Sterilisation so lange herausgezögert bis es nun zu spät war. Allerdings wusste sie auch, dass die Katze noch viel zu klein war, um jungen Kätzchen das Leben zu schenken. Sie meldete sie beim Tierarzt an, der sie sterilisieren sollte. Ihr Gewissen plagte sie sehr, als sie Grigia operieren liess. Gott sei Dank bestätigte ihr der Arzt, dass Grigia noch nicht trächtig gewesen war. Auch erklärte man Tina, dass Grigia ohne fremde Hilfe keinen Nachwuchs hätte bekommen können. So war Tina beruhigt. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Für Grigia war die Operation ein kleiner Eingriff. Die kleine Narbe an ihrem Bauch war kaum zu sehen. Sie wurde allmählich ruhiger, die Hitze in ihr verschwand. Dennoch stand ihr Güdi jeden Tag vor der Türe. Er war ihr treuer Freund geworden und geblieben. Ueber das Wochenende kam Emsy nach Hause. Ihn mochte sie besonders gern. Er war so knuddlig, so gross und stark. Er hatte ein besonders freundliches Gemüt. Nicht einmal Güdi schaffte es, Emsy aus der Ruhe zu bringen. Wo andere Katzen sich mit Tatzen und Zähnen attackierten, liess Emsy alles mit sich geschehen. Selbst wenn Güdi seinen dicken Schädel in Emsys Futternapf steckte, interessierte ihn das kaum. Er war ein richtiger Gemütskerl, ein total fauler Sack. Und diese Sanftmut gefiel Grigia. Sie legte sich oft zu ihm auf den Katzenbaum. Er konnte so wunderschöne Geschichten erzählen. Grigia wusste, dass Tina schon viel Kummer mit dem freiheitsliebenden Emsy erlebt hatte, dass er ständig zu seinen Freundinnen in die Firma DPD rannte. Sie wusste aber auch, dass ihn alle liebten, inklusive Grigia. Sie freute sich auf jedes Wochenende, wenn Emsy nach Hause kam.
Oftmals legte sich die kleine Grigia auch zu Tina ins Bett. Dort war es warm und wenn sie wach wurde, schlang sie ihre Arme um das kleine graue Kätzchen. Als Dankeschön leckte ihr Grigia mit ihrer rosaroten rauen Zunge über die Nase. Tina erwachte oft, weil Grigia so laut schnurrte. Sie wusste ja nicht, dass Grigia ihr mit Absicht so laut ins Ohr schnurrte, damit sie aufwachte. Wenn sie ihre Augen öffnete, sah sie in riesengrosse Kulleraugen. Die kleine Katze konnte stundenlang schnurrend neben Tina liegen. Am liebsten wäre sie noch zu ihr unter die Decke geschlüpft. Natürlich wusste sie, dass es auch bei Tina Grenzen gab. Eine Katze im Bett, das ging doch nicht. Auf dem Nebenbett durfte Grigia liegen, denn dieses blieb unbenutzt. Die Bettdecke hingegen bildete die Grenze. Und diese Grenze kannte Grigia ganz genau. Dennoch gab es den allabendlichen Kampf um den Platz auf dem Kopfkissen. Wenn Grigia diesen verlor, und das war meist so, legte sie sich einfach daneben, dicht an Tinas Ohr, und liess ihr Schnurrkonzert von statten.
Grigia liebte es überhaupt, dicht bei ihrem Menschen zu sein. Wenn Tina am Computer sass, legte sie sich auf die Tastatur. Wurde sie von Tina weggeschoben, verteidigte sie ihren Platz mit unsagbarer Hartnäckigkeit. Sie spielte liebend gern mit dem Cursor, der über den Bildschirm huschte, wenn Tina in die Tasten griff.
Am Abend, wenn Tina nach getaner Arbeit müde vor dem Fernseher sass, legte sich Grigia auf ihre Beine. Sie war wie ein kleiner Ofen, eine kleine pelzige Wärmeflasche. Auch Tina war von Grigias Schönheit angetan. Aus dem hässlichen Entlein war tatsächlich ein schöner Schwan geworden.
Wenn Tina frei hatte, gingen sie oft zusammen spazieren. Nur unweit von Tinas Wohnung lag ein kleiner Park mit einer grossen Magerwiese und vielen grossen Bäumen. Eine Runde um den Park dauert normalerweise fünf Minuten. Mit den Katzen im Schlepptau dehnte sich ein solcher Spaziergang ohne Probleme auf eine Stunde aus. Jede Katze musste an jedem Gräschen schnuppern und jeden Baum erklimmen. Auch gab es mitten in der Wiese einen kleinen Hügel, unter dem etliche Mäuse wohnten. Dort musste man sich mal vorübergehend auf die Lauer legen. Tja, so was kann dauern. Dennoch mochten sie es, wenn Tina ihnen voraus ging und sie hinter ihr herspringen konnten. Es gab ein paar Sitzbänke, auf denen Tina jeweils Rast machte. Dann konnte sie ihren Tieren zuschauen, wie sie die Gegend erkundeten.
Mitten in diesem kleinen Park lag die grosse Magerwiese. Im Sommer, wenn diese hoch stand, sah man die Katzen kaum mehr. Nur die hochgestellten Schwänze ragten aus den Grashalmen heraus. Mit ausgestrecktem Schwanz und rasendem Tempo rannten sie quer durchs hohe Gras. Es roch nach Blumen, Blüten und Gras und die Katzen entdeckten unzählige Käfer, Bienen, Fliegen und Schmetterlinge. Es war ein ganz kleines Stückchen Paradies für die Samtpfoten. Sobald Tina das Haus verliess, folgten sie ihr, manchmal ganz gegen ihren Willen. Die Katzen konnten nicht unterscheiden, ob sich Tina auf den Weg zur Arbeit machte oder mit ihnen spazieren ging. So liefen sie ihr auch hinterher, wenn sie den Abfall wegbrachte oder eine Nachbarin besuchen ging. Sie waren stets in der Nähe ihres geliebten Menschen.
Und Tina war glücklich, wenn alle Katzen gesund und daheim waren. Sie lag oft im Bett, Grigia in ihren Armen und hörte dem Schnurren des kleinen Wesens zu. Oft dachte sie, dass sie der glücklichste Mensch auf dieser Welt war. Sie durfte zu den auserwählten Menschen zählen, die einen kleinen Engel bei sich haben können. Sie liebte das Bonsai-Kätzchen über alles, konnte sich an dessen Schönheit kaum satt sehen. Wenn Grigia sie mit ihren grossen Augen ansah, schmolz ihr Herz wie Butter. Nein, es war keine Liebe auf den ersten Blick, es war tiefste Verbundenheit und abgöttische Liebe auf den zweiten Blick. Sie fragte sich oft, wie sie es wohl verdient hatte, dieses Glück zu erleben.
Doch wie das oft so ist im Leben, folgt dem Sonnenschein auch Regen. Eines Tages war Grigia verschwunden. Es war der heisseste Tag im Sommer. Eine wochenlange, unbändige Hitze plagte Mensch und Tier. Das Thermometer erreichte Rekordhöhen. Es gab seit Wochen keinen Tropfen Regen. Das Wasser wurde bereits knapp und viele Pflanzen vertrockneten vor den Augen der Gärtner. Die Region zählte einen neuen Hitze- und Trockenheitsrekord. Tinas Katzen lagen den ganzen Tag in der kühlen Wohnung. Sogar auf dem schattigen Sitzplatz war es kaum auszuhalten.
Als Tina an diesem heissen Sommerabend nach Hause kam, war Grigia weg. Als sie auch in der Nacht nicht heim kam, machte sich Tina allmählich Sorgen. Sie suchte sie in der ganzen Umgebung, ging (mit ihren anderen Katzen im Schlepptau) durch die Nachbarschaft. Sie fragte jeden Passanten und hängte Suchmeldungen auf. Niemand hatte das Kätzchen gesehen. Als Tina sie auch am übernächsten Tag nicht fand, informierte sie sämtliche Institutionen. Angst kam in ihr hoch. Wo war ihr kleiner Engel geblieben?
Eigenartig war allerdings, dass die anderen Katzen sehr unruhig waren. Besonders Tasja und Miezi verhielten sich auffallend. Tasja schrie den ganzen Tag aus Leibeskräften, Miezi wich nicht von Tinas Seite. Er, der normalerweise den ganzen Sommer draussen verbrachte, folgte ihr auf Schritt und Tritt. Seine Art war unheimlich aufsässig. Wenn sie sich aufs Sofa setzte, legte er sich neben sie, wenn sie in der Küche das Essen zubereitete, setzte er sich an ihre Füsse. Sobald sie sich schlafen legte, kroch er zu ihr ins Bett. Nie hatte Miezi so was getan. Er legte sich nicht nur zu Tina ins Bett, nein, er krallte sich in ihren Haaren fest. Sie wusste nicht, was in den kleinen schwarz-weissen Kater gefahren war. Dies war gar nicht seine Art. Es stimmte tatsächlich etwas nicht in Tinas Katzenhaus.
Der Schock kam am nächsten Tag, als Tina das kleine Bündel entdeckte. Nicht weit von der Wohnung entfernt, doch gut versteckt unter einem Bäumchen, lag die Leiche der kleinen Grigia. Tinas Herz schrie, als sie das kleine Tier in die Arme nahm. Noch immer blickten ihre schönen grossen Augen in Tinas schockiertes Gesicht. Die anderen Katzen kamen, und wollten wissen, warum Tina so bitterlich weinte. Da entdeckten auch sie den leblosen Körper ihrer kleinen Schwester. Schnurstracks liefen sie zum Gebüsch, unter dem das keine Tier gestorben war. Nun war auch Tina klar, weshalb die Tiere so unruhig waren. Sie wussten vom leblosen Körper der kleinen Grigia, doch konnten sie sich bei Tina nicht verständlich machen. Sie wollten mit ihrem Schreien und ihrem unruhigen Tun Tina etwas sagen, doch sie verstand es nicht.
Noch lange sass Tina in der Küche auf dem Boden, die kleine Grigia in ihren Armen. Sie konnte es nicht fassen, dass ihr Engelchen sie verlassen hatte. Vermutlich wurde sie von einem Auto angefahren, unter dem sie bei dieser brütenden Hitze Schatten gesucht hatte. Mit letzter Kraft und einer Beckenverletzung hatte sie sich nach Hause geschleppt. Dort erlag sie ihren inneren Verletzungen. Grigias Schmerzen waren nun weg weg. Sie war im Katzenhimmel. Von dort aus konnte sie das Bäumchen sehen, unter dem sie gestorben war. Wo sie einst lag, stand nun zu Grigias Gedenken ein kleiner Engel aus Stein. Er diente als Symbol für ein kleines sanftes Wesen, das Tina nur wenige Monate Gesellschaft leisten durfte. Tina wusste, dass es nie wieder eine Katze geben würde, die Grigias Stelle einnehmen konnte. Die Graue war ein ganz besonderes Kätzchen gewesen, vielleicht tatsächlich ein himmlisches Geschöpf, ein kleines Engelchen. Vielleicht waren es nur das zauberhafte Fellkleid oder die wahnsinnig grossen Augen, die es Tina angetan hatten. Oder war es die Sanftmut, die Zärtlichkeit, die von Grigia ausgingen? Nicht ein einziges Mal hatte Grigia gekratzt oder gebissen.
Sie war ihrer Tina treu ergeben. Beide liebten sich, es war tatsächlich die grosse Liebe, die Mensch und Tier verbindet. Leider war der schönen Grigia nur ein kurzes Leben beschert, doch in dieser kurzen Zeit hatte sie so viel Liebe gegeben und bekommen, wie andere Lebewesen in hundert Jahren nicht erhalten. Noch heute fliessen Tränenbäche aus Tinas Augen, wenn sie an ihre kleine Grigia denkt.
Vom Himmel aus hat Grigia oft auf ihre Tina geschaut. Sie weiss, dass sie noch immer traurig ist. Natürlich wäre sie gerne bei ihrem Frauchen.
Manchmal sehnt sie sich danach, in ihren Armen zu liegen und Tinas Duft zu riechen. Sie möchte ihr sagen „sei nicht traurig, es geht mir doch gut“, doch hört Tina sie nicht. Manchmal blickt Tina zu ihr hoch, das weiss sie genau. Mit ihren Gedanken steichelt sie das weiche Fell der grauen Katze. „Kleine Grigia, geliebtes Engelein, eines Tages werden wir wieder zusammen sein“.
Und jetzt, mitten im Katzenhimmel hat sie ihren Freund und Halbbruder Emsy wiedergetroffen. Sie freut sich sehr über den Besuch des unerwarteten Gastes. Engel wissen mehr als wir Lebewesen ahnen. So weiss auch Grigia ganz genau, dass eine neue Trennung bevorsteht. Ohne irgendwelche Erklärung steht sie auf und bittet ihren Gast, ihr zu folgen. Er folgt ihr lautlos durch das hohe Gras. Sie bahnt ihm den Weg und begleitet ihn zum Himmelstor. Dort leckt sie dem guten Emsy nochmals tüchtig über die Stirn, knabbert mit ihren Zähnchen an seinen Ohren. Dann gibt sie ihm einen kleinen freundschaftlichen Klaps auf die Backe und einen schmatzenden Kuss auf den Mund „Tschüss mein lieber Bruder und Freund, es ist noch zu früh für dich. Geh hinunter auf die Erde, zurück zu unserer Katzenfamilie und zu Tina. Tröste sie und sag ihr, dass es mir gut geht. Ich bin in Gedanken immer bei Euch. Wir Katzenengel wachen über unsere Erdfamilien und schauen mit unseren reflektierenden Augen auf die Erde hinunter. Die meisten Menschen nennen sie Sterne, doch Katzenfreunde wissen ganz genau, dass es sich dabei um unsere reflektierenden Augen handelt. Wenn Tina an wolkenfreien Abenden zum Himmel schaut, wird sie auch meine Augen entdecken als kleine, helle Sterne am Firmament“.