Emsy, der Streuner
Buch 1
Emsy der Streuner
Emsy war ein kleiner schwarz-weisser Kater. Sein dichtes Fell war weich wie Samt, seine Pfoten rund und dick. Er war ein hübscher Kerl mit einem liebevollen und äusserst verschmusten Wesen. Sein Herrchen war Kunstmaler und Musiker und lebte in einem grossen, hellen Atelier. Dort durfte Emsy sein Katzenleben geniessen. Dies tat er auch in vollen Zügen, solange er ein kleines Katerchen war. In der Nacht schlüpfte er ins Bett des Herrchens und schmuste mit ihm, bis er ihn rausschmiss. Wenn sein Herrchen Saxophon spielte, setzte sich Emsy dazu und schaute ihm zu. Er hatte keine Angst vor den lauten, schrillen Tönen, Hauptsache war, dass er nahe bei seinem Menschen sein konnte.
Sein Herrchen liebte ihn über alles und war sehr traurig, als Emsy eines Tages grösser wurde und beschloss, die grosse weite Welt zu erkunden. Er sprang vom Balkon und lief davon. Auf seiner Entdeckungsreise begegnete er einer kleinen graumelierten Schildpatt-Mieze, die in einer Parterre-Wohnung, zusammen mit ihren drei Geschwistern lebte. Es war schön, mit ihr zusammen zu sein. Mit ihr konnte er Verstecken spielen, auf Jagd gehen, über die Wiesen toben oder sich im nahegelegenen Park unter die Bäume legen. Als es Abend wurde, ging Emsy kurzerhand seiner kleinen Freundin nach, die ihn unweigerlich zum Futternapf führte. Er folgte ihr durch eine kleine Türe. Dann sah er sich in der neuen Wohnung um und beschloss einfach, dort zu bleiben.
Wie erstaunt war die Schildpatt-Miezen-Katzenmutter, als an diesem Abend der Neuankömmling unter dem Tisch in ihrem Wohnzimmer lag, dicht bei Smokie, so hiess nämlich die kleine Katzendame. Sie schaute ihn verwundert an und streichelte ihn sanft. Dies gefiel ihm. Er begann leise zu schnurren und Smokie stimmte mit ein. Er lag da auf dem Teppich, als gehöre er seit Jahren in diese Familie. So liess ihn Tina, die Katzenmutter, gewähren. Sie war überzeugt, er würde am nächsten Tag sicher wieder den Heimweg antreten.
Doch da hatte sie sich geirrt, denn es sollte anders kommen. Emsy ging am nächsten Morgen mit Smokie in den Ausgang. Wiederum tobten sie im nahegelegenen Park herum. Doch am Abend standen beide wieder in der Küche und verlangten ihr Nachtessen. Eigentlich war es Tina nicht recht, dass da plötzlich eine fremden Katze bei ihr aus- und einging. So anhänglich wie dieser kleine Kater war, gehörte er ganz sicher irgendjemandem. Es wäre ihr lieber gewesen, Emsy wäre zu seinem Herrchen oder Frauchen heimgekehrt. Doch dies war überhaupt nicht Emsys Meinung. Er wollte Tinas Herz erobern und dazu war ihm jedes Mittel recht. Er war der liebste Kater, den man sich vorstellen konnte. Mit seinen grossen, runden Augen und seinem samtweichen Fell war es ein Genuss, ihn anzusehen. Seine zutrauliche, verschmuste Art liess Tina nicht mehr los. Emsy konnte diese Katzenmutter richtiggehend um den Finger wickeln. Und wie er das konnte. Er beherrschte sein Handwerk ausgezeichnet, schlüpfte in der Nacht in ihr Bett, kuschelte sich eng an sie und schnurrte ihr unermüdlich ins Ohr. Und somit war es um sie geschehen. Nicht nur Smokie, auch das Katzenmami hatten sich in Emsy verliebt. Dennoch haben beide versucht, den kleinen Ausbrecher wieder nach Hause zu schicken. Nach einer Woche machte sich Tina dann doch ernsthafte Gedanken. Ob niemand den kleinen Kerl vermisste? Sie meldete Emsys Aufenthaltsort bei der Polizei und so konnte Emsys Herrchen ausfindig gemacht werden. Er war sehr froh, dass es dem Katerchen gut ging und nahm ihn wieder nach Hause, wo er eigentlich hingehörte. Doch dort fühlte sich Emsy nicht mehr wohl, sprang regelmässig vom Balkon und rannte direkt zu Smokie. Der Drang nach seiner neuen Freundin war zu gross. Da half auch Schimpfen und Toben nichts.
Nach etlichem Hin und Her mussten Tina und Mike einsehen, dass Emsy seine Entscheidung getroffen hatte und dass es nichts brachte, den Ausreisser immer wieder nach Hause zu bringen. Die beiden Katzenbesitzer mussten sich Emsys Drängen fügen und einsehen, dass Emsy ein neues Zuhause gefunden hatte. So zog Emsy zu den anderen vier Katzen in die Parterre-Wohnung ein.
Für Emsy begann eine wunderschöne Zeit im Kreise der neuen Geschwister. Zuerst waren zwar alle etwas skeptisch und fauchten ihn wie einen Eindringling an. Doch für ihn war das überhaupt kein Problem. Er tat einfach so, als sei überhaupt nichts passiert und stellte sich taub. Er legte sich unter den Tisch und genoss das Leben. Er wollte hier bleiben, das stand fest, da liess er sich doch nicht von einer fauchenden Mieze einfach vertreiben.
Durch das regelmässige Rumtreiben und Uebernachten im Freien hatte sich Emsy einen gefährlichen Schnupfen geholt. Dieser plagte ihn ungemein. Die Nase floss Tag und Nacht, ihm war elend zumute. Er bekam kaum noch Luft und röchelte ununterbrochen vor sich hin. Tina nahm deshalb den Neuankömmling und brachte ihn weit weg, an einen Ort, wo viele Tiere waren. Es war Emsy schon etwas mulmig ums Herz, als sie ihn einfach in einen grossen Käfig steckte und ins Auto verfrachtete. Er schrie aus lauter Kehle, zu mindest so laut wie das mit der havarierten Nase möglich war. Die Leute an diesem Ort, den das Katzenmami Tierarzt nannte, liefen in weissen Kitteln rum und rochen ganz komisch. Man stellte ihn auf einen Tisch, drückte an ihm rum und horchte seine Lunge ab. „Na na na“, sagte der Mann im weissen Kittel, „da gibt es keine andere Möglichkeit als eine Spritzenkur“. Noch bevor sich Emsy vorstellen konnte, was das denn jetzt wieder heissen sollte, piekte ihn der Onkel Doktor in den Hintern. Bevor er sich mit seinen Krallen richtig rächen konnte, was alles vorbei, gottseidank.
Was Emsy aber nicht ahnte, dass das Katzenmami noch ein grosses Set mit diesen langen Nadeln mit nach Hause bekam. So musste der kleine Kerl zwei Mal die Woche hinhalten und wurde gestochen. Das schlimmste war ja noch, dass das Katzenmami dazu auch immer noch sagte, dies sei für Emsys Wohlergehen. Warte nur, dachte er, ich werde mich rächen. Der Schnupfen heilte langsam aus und Emsy wurde zusehens lebhafter und verspielter. Bald ging es ihm schon wieder wunderbar und er konnte seine morgendlichen Streifzüge durch die Wiesen wieder aufnehmen.
Im Regen ausgesetzt
Eines Tages, als er auf einem grossen Stein vor der nahegelegenen Tennishalle hockte, kam eine nette Frau vorbei, die ihn streichelte. Sie schien ihn zu mögen und redete liebevoll auf ihn ein. Sie erzählte ihm, dass sie bis vor einem Jahr auch einen Kater gehabt hatte. Dieser sei aber sehr alt gewesen und starb.
Während sie ihm dies alles berichtete, streichelte sie ihn ununterbrochen. Sie fuhr ihm durch sein dichtes Haar, kraulte ihn hinter den Ohren, nahm ihn auf die Arme und schmuste mit ihm. Dies gefiel ihm sehr und er setzte eine ganz traurige Miene auf. Dazu schnurrte er wie wild und drückte sein Köpfchen fest an ihre Wange. Die Frau öffnete ihr grosses Katzenherz und schmolz wie warme Butter. Es war schon herrlich, wie alle Leute den Streuner mochten. Nach einiger Zeit verschwand sie in der Halle. Emsy blieb sitzen und wartete geduldig auf die Rückkehr der netten Dame. Da plötzlich brach der Himmel auf und ein gewaltiges Gewitter überzog den morgendlichen Himmel. Es regnete fürchterlich. Sein zartes Fell wurde nass und glitschig. Dennoch blieb er beharrlich sitzen. Er wartete auf die Rückkehr der netten Dame. Er frohr leicht und spürte, wie seine Nase wieder zu tropfen begann. Nach etwa einer Stunde war es mit dem Regen vorbei. Emsy sah aus, als ob er in einen Bach gefallen wäre.
Die Haare klebten um seinen pumeligen Körper, der Kopf war tropfnass. Er begann sich trocken zu lecken mit seiner rauen Zunge. Und weniges später stand die nette Dame von vorhin wieder da. Sie hatte grosses Bedauern mit dem kleinen Kerl, der zusammengerollt auf dem Stein sass und erbärmlich aussah. Es kam ihr sofort der Verdacht, die Katze sei vielleicht ausgesetzt und könne deshalb keinen Unterschlupf vor dem Regen finden. Für diese Tatsache sprach ja auch die triefende Nase. Und überhaupt war es ja nicht typisch für eine Katze, sich im Regen draussen aufzuhalten.
Da konnte doch etwas nicht stimmen.
Als sie davonging, folgte ihr Emsy auf Schritt und Tritt. Sie waren bereits am Robenweg angekommen, als sie sich nochmals umdrehte und den Verfolger entdeckte. Emsy schaute sie ganz lieb an und rieb seinen Körper an ihren Beinen. Er schaute sie mit seinen traurigen, nassen Augen an als wolle er sagen „Ich armer, armer Kater, niemand will mich“. Jetzt stand es für sie ganz fest, der kleine Kater brauchte ein Zuhause. Sie nahm ihn auf die Arme und trug ihn nach Hause, an ein Plätzchen, wo es warm und kuschelig war. Sie brachte am gleichen Tag noch ein Katzenklo, Futter (logischerweise von der besten Sorte), Milch und Gudi-Gudi für zwischendurch. Für Emsy war es wie im Urlaub. Er schlief den ganzen Tag, auch den nächsten. Am Abend durfte er neben ihr auf der Polstergruppe sitzen und sich dicht an sie drücken. Manchmal setzte er sich auf ihre Beine. Dann kraulte sie ihn hinter den Ohren und sprach liebevoll mit ihm.
Doch dann nahm ihn die Frau mit zum Tierarzt. Dieser sollte seine Nase mal anschauen. Und wieder bekam er Medizin, die er überhaupt nicht mochte. Die Tage vergingen und Emsy erholte sich von den Folgen des Gewitters und des Schnupfen-Rückfalles. Allmählich wollte er wieder nach Hause und stand eines Abends miauend vor die Türe. Doch die Frau schüttelte nur den Kopf. Es gab keine Katzentüre und auch keinen Sitzplatz, wo er hätte die Sonne geniessen können. Die Dame wohnte in einem Hochhaus im 10. Stock und hatte keine Möglichkeit, Emsy nach draussen zu lassen.
Am kommenden Tag kam sie ganz traurig und verstört nach Hause. Sie nahm in fest ihn die Arme und erklärte ihm, dass sich seine Katzenmami gemeldet hatte. Sie vermisste ihn und hatte ihn überall gesucht. Die Frau war todunglücklich, musste sie nun einsehen, dass Emsy wohl ein Zuhause hatte und eben nur ein Streuner war. Am gleichen Abend nahmen sie Abschied voneinander. Emsy ging wieder zurück zu Smokie und seinen Stiefgeschwistern, die ihn aufgeregt begrüssten. Er genoss die Wiese vor der Parterre-Wohnung und die Freiheit, die er wiedererlangt hatte und legte sich gleich der ganzen Länge nach ins wohlriechende Gras. Er rollte sich auf den Rücken, schnupperte an den Blumen, die dort blühten. Dies war seine Welt, die Freiheit pur. Er realisierte plötzlich, dass dieser Abstecher leicht hätte ins Auge gehen können; Emsy, der Streuner, eingesperrt im 10. Stock. Er versprach der Katzenmami, solche Albernheiten in Zukunft zu lassen und den Leuten nicht immer vorzumachen, er sei ein armer, vereinsamter, alleingelassener, ausgesetzter Kater. Er kam deshalb (mindestens vorübergehend) abends immer brav nach Hause und blieb über Nacht daheim.
Emsys Reise in den Hotzenwald
Aus dem kleinen Emsy war mittlerweile ein grosser wunderschöner Kater geworden. Sein Fell war über den Winter üppiger geworden, sein Kopf und seine Pfoten bekamen Volumen. Er wog bereits fünf Kilo, hatte aber nach wie vor das Wesen eines kleinen anschmiegsamen Kätzchens. Quer über sein Gesicht verlief die Farbteilung schwarz/weiss, die ihm das Aussehen gab, als schiele er durch Vorhänge. Jedermann, der Emsy sah, war entzückt. Und dies genoss er. Er legte sich mit Vorliebe vor den Eingang des Einkaufszentrums, wo viele Leute vorbeikamen, die ihn bewunderten.
Dann rollte er sich auf den Rücken und liess sich streicheln und liebkosen. Er ging im nahegelegenen Möbelgeschäft ein und aus, als wohne er dort. Es gab dort weiche Polstergruppen in allen Farben, die man testen konnte. Und die Verkäuferin, eine Katzenfreundin, fand den Kerl allerliebst und liess ihn gewähren. Am Abend stellte sie ihn jeweils vor die Ladentür und sagte ihm, er solle nun nach Hause laufen.
Nicht immer führte ihn dieser Weg direkt nach Hause. Wenn Smokie nicht da war, langweilte er sich. Seine Neugier war unbeschreiblich gross. Als er auf dem Heimweg bei einer Katzentüre vorbeikam, beschloss er, einen Abstecher zu machen. Hinter dieser Türe gab es sicher etwas Gutes zu essen oder Leute, die ihn streichelten. Er trat ein und sah sich um. Niemand war zu Hause, weder Besitzer noch Katze. Vom Tagesgeschehen müde geworden, legte sich Emsy kurzerhand aufs Bett und schlief ein.
Wenig später kamen Frau Tucher mit Sohn nach Hause und fanden Emsy im Tiefschlaf vor. Ihre eigene Katze, die Emsy enorm glich, war nicht da. Sie war ihm zum Verwechseln ähnlich, in ihrer Art jedoch viel scheuer und unzugänglicher. Für Markus war Emsy ein willkommener Gast, liess sich dieser streicheln und beschmusen, was er von seiner Katze nicht gewohnt war. Er genoss den kleinen schnurrenden Kerl und gewährte ihm für eine Nacht Unterschlupf. Am nächsten Morgen ging Emsy nach Hause, als sei nichts gewesen.
Bald kannten ihn alle im kleinen Städtchen. Jedermann wusste, dass der kleine Streuner eigentlich an den Robenweg gehörte zu seinen vier Adoptiv-Geschwistern. Und wieder wurde es Winter und Emsy blieb meistens zu Hause. Es war ja schrecklich draussen, klirrend kalt. Zudem blieben die Passanten nur noch ungern stehen, um den kleinen Kerl zu streicheln. So wurde das Möbelgeschäft ad acta gelegt.
Im nächsten Frühling versuchte Emsy sein Glück wo anders. Etwa 500 Meter entfernt gab es ein grosses Industriegelände der Firma Dosch. Der Bürotrakt war klimatisiert und mit einer Drehtür versehen. Den ganzen Tag gingen Leute ein und aus und Emsy folgte ihnen so, wie er damals der kleinen Smokie gefolgt war. Er schlich sich rein und legte sich am Empfang auf die Polstergruppe, die für Besucher bereitstand. Dem Portier gefiel das überhaupt nicht, da in dieser Firma Tierhaltung verboten war. Er setzte ihn pflichtbewusst vor die Türe. Doch Emsy war hartnäckig und wartete, bis der nächste Besucher kam. Diesem folgte er, und schon war er wieder drin. Das Spiel ging den ganzen Tag hin und her und der Pförtner fragte sich langsam, wem diese Katze wohl gehörte. Auch am nächsten Tag stand Emsy wieder vor der Türe und wartete darauf, bis der erste Besucher kam. So ging das eine Woche lang und Emsy fand es sehr lustig. Die meisten Angestellten oder Besucher fanden es auch ganz amüsant, dass zur Firma Dosch eine Hauskatze gehörte, die als Empfangsdame tätig war.
Die Katzenmami machte sich unterdessen grosse Sorgen, als Emsy eine ganze Woche nicht nach Hause kam. Sie hoffte sehr, dass es Emsy gut ging, war fast sicher, dass dieser wieder irgendwo sass und die Sonne und Leute genoss. Doch nach einer Woche wurde ihr doch etwas mulmig im Magen und sie fragte in der Nachbarschaft nach, ob Emsy irgendwo gesehen worden war. Die Antwort war negativ. Ihre Sorge stieg, so dass sie einmal mehr eine Suchmeldung aufsetzte und an den bereits bekannten Stellen in der Region platzierte.
Es dauerte nur zwei Tage, als eine Bekannte anrief und ihr mitteilte, dass man in der Firma, in der sie arbeite, eine etwas hartnäckige Katze habe, die das Spiel mit der Drehtüre raushatte. Der Katzenmami war nun klar, dass es sich bei dieser Katze nur um ihren Emsy handeln konnte. Sie war glücklich und versprach, den Ausreisser nach Feierabend abzuholen. Als sie allerding gegen 18 Uhr am Haupteingang ankam, erklärte ihr der Pförtner, die Hauskatze habe heute vermutlich ihren freien Tag, er habe sie heute überhaupt nicht gesehen. Sie deponierte sicherheitshalber ihre Anschrift und Telefonnummer.
Um das Bürogebäude erstreckte sich ein wunderbarer, naturbelassener Garten mit Hecken, Büschen und Bäumen aller Art. Für eine Katze wie Emsy wäre das ein wahres Paradies gewesen. Aus diesem Grund schlenderte sie durch die Prachtsanlage und rief nach ihrem Ausreisser. Nichts passierte, Emsy blieb spurlos verschwunden.
Und in genau diesem Bürogebäude arbeitete Herr Knut. Er lebte im angrenzenden Deutschland, am Rande des Hotzenwaldes. Zu seiner Nachbarschaft gehörten drei Katzen und ein Hund. Die Katzendamen waren schwarz/weiss, der Kater ein molliger Langhaar-Tiger. Mit diesen Tieren verstand er sich wunderbar. Jeden Morgen fuhr er mit dem Auto den weiten Weg in die Schweiz. Im Sommer, wenn es schon frühmorgens warm war, fuhr er mit offenem Schiebedach, um die warme Morgenluft einzuatmen. Es war ihm schon mehrmals passiert, dass sich die Nachbarskatze über diese Luke in sein Auto geschlichen hatte.
Als er zur Mittagszeit den Bürotrakt verliess, um zur Kantine zu gehen, musste er den Parkplatz überqueren. Es blieb ihm fast das Herz stehen, als er neben seinem Auto die Nachbarkatze sitzen sah. Sie musste durch die Dachluke eingestiegen und ungesehen mitgefahren sein. Sicher würde sie von der Nachbarin schon vermisst. Mit dem Handy konnte er die Nachbarin erreichen, die ihm versicherte, dass ihre Katze den ganzen Tag nicht gesichtet worden ist. Herr Knut war froh, dass Minusch so brav beim Auto geblieben war. Sie hätte sich ja in dieser fremden Gegend verirren können.
Am Abend nahm er den blinden Passagier wieder nach Hause mit und überreichte die Katze voller Stolz seiner Nachbarin. Wie erstaunt war er aber, als die Nachbarin sich vor Lachen bog. Was war denn jetzt wieder los? Sein Blick fiel auf die Treppe, wo drei Katzen das Treiben im Wohnzimmer verfolgten. Wer war denn das schwarz/weisse Bündel, das in seinen Armen gelassen vor sich herschnurrte?
So kam es, dass sich am folgenden Tag Herr Knut beim Katzenmami meldete und ihr erklärte, dass er vermutlich
Emsy in den Hotzenwald mitgenommen habe. Der Katzenmami war das ganze schleierhaft. Sie war einerseits erfreut, dass es Emsy gut ging, der Zusammenhang war ihr aber noch absolut unbegreiflich. Erst als ihr Herr Knut die Geschichte mit der verwechselten Nachbarskatze erzählte, begann auch sie zu lachen. Da wird Emsy aber sehr beleidigt sein, dachte sie, wenn man ihn mit einer Katzendame verwechselt und dies erst nach einer einstündigen Autofahrt merkt. Die Katzenmami wollte sich gleich auf den Weg machen, um den Ausreisser abzuholen. Doch Herr Knut beruhigte sie und erklärte, er werde sowieso am kommenden Morgen wieder in die Schweiz kommen. Der Weg zu seinem Haus sei sehr lang und schwierig zu finden, wohne er doch am Rande des Hotzenwaldes, dort wo Fuchs und Hase sich Gutenacht sagen. So einigten sich die beiden, dass Herr Knut Emsy am nächsten Morgen wieder mitbringen werde.
Bereits um 07.15 Uhr läutete das Telefon am Robenweg und Herr Knut überbrachte die traurige Mitteilung, dass Emsy in der Nacht weggelaufen sei. Die Katzenmami bekam einen Riesenschock, wusste sie doch, dass Emsy ein Streuner war und den Weg in die Schweiz nie und nimmer finden würde. Wie konnte das nur passieren? Emsy lag die ganze Nacht neben Herrn Knut im Bett und schnurrte ihm ins Ohr. Sein Schlafzimmer lag im ersten Stock des Einfamilienhauses. Die Schlafzimmertür führte zum Balkon und stand in heissen Sommernächten immer offen. Noch keine seiner Katzen war je da runtergesprungen, weshalb er sich auch keine weiteren Gedanken über die offene Balkontüre machte. Da kannte er Emsy aber schlecht. Genau dieser Sprung war ja seine Spezialität. Und dies bewies er an diesem Morgen. Als Herr Knut aufstand, war Emsy verschwunden.
So trafen sich das Katzenmami und Herr Knut nach Feierabend und fuhren gemeinsam in den Hotzenwald, um Emsy zu suchen. Wunderschön war die Gegend dort, ein Paradies für Katzen. Doch der Katzenmami war es nicht nach Naturgeniessen. Sie sorgte sich um das Wohl ihres Streuners.
Endlich erreichten sie das kleine Dorf am Rande des Hotzenwaldes. Kaum waren sie ausgestiegen, kam ihnen die Nachbarin entgegen. Sie strahlte und überbrachte die freudige Nachricht, Emsy sei wieder da. Nach seinem morgendlichen Ausflug in den Hotzenwald überkam ihn der Hunger. Er ging zurück zu dem Haus, in dem er mittlerweile zwei Tage gewohnt hatte, stellte sich vor die Tür und brüllte drauf los. Die Nachbarin, die über Emsys Verschwinden orientiert war, liess ihn rein, fütterte ihn und wachte über ihn bis das Pseudo-Herrchen und das Katzenmami kamen.
Die Wiedersehensfreude war gross für Emsy und sein Frauchen. Emsy verabschiedete sich von Herrn Knut, der Nachbarin, den drei Katzen und dem Hund und stieg ohne Murren ins Auto ein. Dort legte er sich auf die Rückbank und schlief erschöpft ein. Zu Hause wurde er von Smokie stürmisch begrüsst, die ihn sehr vermisst hatte. Für Emsy ging ein aufregendes Abenteuer zu Ende, eine ungewollte Reise in den Hotzenwald.
Emsy in der Industrie
Diese Reise sollte für Emsy nicht die letzte sein. Emsy war ein Zigeuner, der die Freiheit liebte. Er hielt Tina auf Trab, die ihn unentwegt suchen durfte. Sein ehemaliges Lieblingsrevier, die Firma Bosch, trat an zweiter Stelle. Er beobachtete, dass im nahegelegenen Einkaufszentrum ein Umbau gemacht wurde. Es entstand ein grosses Gartencenter mit Hochregalen und vielen, vielen Blumentöpfen.
Es roch dort herrrlich nach Frühling. Leute gingen den ganzen Tag ein und aus. Das Areal wurde von einem hohen Maschenzaun umgeben, der für Emsy jedoch kein Hindernis darstellte. Wenn Emsy sich etwas duckte, konnte er ohne Probleme unter dem Zaun durchkriechen. Tagsüber stand sowieso der Eingang offen, durch den er frühmorgens schon mit hocherhobenem Schwanz stolzierte. Meistens legte er sich unter die Blumentröge, die auf beweglichen Hochgestellen auf Käufer warteten. Diese Gestelle boten Schatten und dienten zudem als Regenschutz. Wollte Emsy seine Ruhe haben, legte er sich auf ein Hochregal oder in einen riesigen Terracotta-Blumentrog. Es gab auch gemauerte Gartengrille, die ihm ein Dach über den Kopf boten. Er wurde zum Liebling der Gartencenter-Kunden. Die Kundschaft liebte ihn, wie er sich wohlig auf den Rücken rollte und alle Viere von sich streckte. Er wurde von allen Seiten gestreichelt und bewundert. Dies war die Welt, die Emsy liebte; hier war er im Mittelpunkt und konnte zeigen, was er alles zu bieten hatte. Die Kassiererinnen kannten ihn bereits und lachten über sein freundliches und zutrauliches Wesen.
Von Zeit zu Zeit kam Tina vorbei, um sich nach dem Streuner zu erkundigen. Manchmal, besonders in lauen Sommernächten, übernachtete Emsy im Gartencenter und ging nicht nach Hause. Dann machte Tina sich Sorgen und erkundigte sich im Gartencenter, ob er immer noch da war.
Es war ein herrliches Leben für Emsy. Er war den Leuten ganz nahe, die ihn liebkosten und sich über ihn wunderten. Sicher gab es in der ganzen Region kein anderes Gartencenter, das einen eigenen Hauskater besass. Wenn ihn der Hunger plagte, nahm er den kleinen Weg von 200 Meter auf sich und trabte nach Hause. Dort standen viele Töpfchen mit Leckereien, selbst dann, wenn Tina bei der Arbeit war. Dann schlug er sich den Bauch voll und schlenderte wieder zurück ins Gartencenter. An Feiertagen und Sonntagen langweilte sich Emsy. Dann kamen keine Leute vorbei und er sass einsam unter den Blumen und Gemüsesetzlingen.
Eines Tages beschloss er, den freien Tag zu nutzen, um auf Entdeckungsreise zu gehen. Er folgte der alten Spur zur Firma Bosch, liess diese aber mit hocherhobenem Kopf links liegen. Hinter diesem Gelände befand sich eine Fabrik. Die Tür zur Lagerhalle stand offen und Emsy streckte den Kopf hinein. Hier war es laut und heiss. Die Maschinen liefen auf Hochtouren. Da entdeckte er eine Maus, die quer durch die Halle rannte. Nichts wie hinterher, dachte er. Mit einem grossen Satz sprang er in Richtung Mausloch, wo die kleine graue Maus verschwand. „Welch Frechheit“, dachte Emsy, „warte nur, ich werde es dir zeigen“. Die Angestellten schauten Emsy mit verwundertem Gesicht an. Wie konnte ein Kater so gelassen mitten durch die lauten Maschinen spazieren?
Emsy beschloss, ein paar Tage hier zu verbringen. Er wollte den Mäusen zeigen, wer hier der Meister war. Die Fabrikangestellten waren froh über Emsy, der ihnen innert kurzer Zeit den Mäusebestand redimensionierte. Eines Tages stand Tina da und nahm Emsy mit nach Hause. So stand er wieder vor seinen Töpfchen, die voller Leckereien waren.
Er blieb zwei Tage und zwei Nächte und machte sich dann wieder auf zum nächsten Abenteuer.
Neben der Fabrik, in der er ein paar Tage zu Gast war, ging eine Strasse abwärts Richtung Fluss. Sie führte ins Industriegebiet. Dies war eine Gegend, die Emsy noch nicht kannte und die ihn unheimlich neugierig machte. Er wollte unbedingt wissen, was sich hinter den verschiedenen Toren verbarg. Eines Morgens, nachdem er sich einen dicken Bauch angefressen hatte, stiefelte er davon. Es war ein langer Weg und Emsy musste aufpassen, dass Tina ihn nicht entdeckte, bevor er sein Ziel erreicht hatte.
Das erste Tor im Industriegebiet stand offen. Hier lagerten Autoreifen in allen Grössen und Marken. Sie waren zu hohen Bergen aufgestapelt und auf Paletten befestigt. Emsy konnte auf ihnen rumturnen, durch sie durchspringen und die Krallen daran wetzen. Zwei junge Männer beluden einen LKW und kümmerten sich nicht um ihn. So legte er sich in einen Reifenstapel und schlief den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht. Der Bauch war voll, kein Hunger plagte ihn. Am kommenden Morgen, als die Arbeiter das grosse Tor zum Lager öffneten, stand Emsy mit verschlafenem Blick vor ihnen. In diesem Lager blieb er zwei Tage, dann hatte er alles gesehen, was er sehen wollte. Am zweiten Abend stellte ihn der Arbeiter vor die Tür. Na ja, das war ja nicht so schlimm. Es gab noch etliche andere Tore, hinter denen Emsy neue Abenteuer vermutete. Bei Anbruch der Dunkelheit machte er sich auf den Weg zum nächsten Gebäude.
Da hörte er plötzlich ein Quietschen, ein Fellbündel flog durch die Luft. Es war daraufhin mucksmäuschenstill. Das Auto war davongefahren und Emsy realisierte, dass er das Fellbündel war, das nun am Strassenrand lag. Er verspürte plötzlich einen stechenden Schmerz am Kopf. Ein klaffende Wunde von der Stirn zum Schnäuzchen überzog das hübsche Gesicht des kleinen Katers. Blut rannte aus der Wunde und lief ihm in die Augen. Der Mund brannte, er verspürte plötzlich unendlichen Durst. Die Glieder waren wie gelähmt und schmerzten ungemein.
In seinem Kopf dröhnte es, und er hörte Stimmen, die ihm bis anhin unbekannt waren. Als er endlich die Augen etwas öffnen konnte, sah er die Lagerhalle, die seine Neugier geweckt hatte. Daneben befand sich ein Bürogebäude mit einem erhöhten und gedeckten Eingangsbereich. Dort wollte er hin und sich etwas erholen. Er schleppte sich mit letzter Kraft die Treppe hinauf und legte sich vor dem Eingang auf den Teppich. Dann wurde er bewusstlos. Erst gegen Morgen wachte er wieder auf. Die Schmerzen waren noch immer da, doch konnte er sich kaum mehr daran erinnern, was eigentlich passiert war. Er wollte aufstehen, doch versagten seine Beine den Dienst.
Eine Stunde später kamen ein paar junge Damen, die in diesem Büro arbeiteten. Sie entdeckten den verletzten Kater und nahmen ihn zu sich. Sie organisierten etwas Futter und reinigten seine Wunde. Es war warm und ruhig im Büro.
Emsy legte sich unter das Pult und schlief sofort ein. Die Sekretärinnen hatten grosses Mitleid mit dem kleinen Tier, das sich bei ihnen vor den Eingang gelegt hatte. Sie wussten nicht, woher er kam und wohin er gehörte, erkannten aber sofort, dass es Hilfe brauchte.
So blieb Emsy 10 Tage dort. Tagsüber durfte er im Büro schlafen und erhielt regelmässig Futter. Am Abend ging er raus in die frische Luft und verbrachte die Nächte in der freien Natur. Punkt sechs Uhr stand er wieder am Eingang und wartete auf seine Retter.
Dennoch stimmte etwas nicht mit Emsy. Er war zwar froh, dass er hier gut aufgehoben war, doch war ihm nicht klar, wohin er eigentlich gehörte und was passiert war. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es zu diesem Unfall gekommen war.
Nach zehn Tagen stand eine Frau am Eingang, die Emsy voller Mitleid betrachtete. Sie war geschockt über die Narbe, die sein Gesicht noch immer entstellte. Sie nahm ihn auf die Arme und drückte ihn fest an sich. Emsy liess alles mit sich machen, konnte sich aber nicht erklären, was sie eigentlich von ihm wollte. Er erkannte Tina nicht mehr, die sich grosse Sorgen um ihn gemacht hatte. Er wusste nichts davon, dass sie tagelang durch die Industriegebäude gefahren war und nach ihm gesucht hatte. Sie hatte erfahren, dass er sich zwei Tage im Reifenlagern einquartiert hatte, konnte ihn aber nirgendwo finden. Sie fuhr mit dem Fahrrad durch die Gegend und rief nach ihm, jedoch ohne Erfolg. Er konnte nicht wissen, dass sie in einer Nacht-und-Nebelaktion alle Firmen des Industriegeländes angeschrieben hatte und eine Suchmeldung nach Emsy gefaxt hatte. Auch ahnte er nichts davon, dass seine Retterinnen Tina informiert hatten.
Sie nahm Emsy ins Auto und fuhr nach Hause. Als er dort ausstieg, war er sich nicht sicher, ob er schon mal hier war. Es standen viele Autos in Reih und Glied nebeneinander. Er schaute die Frau, die ihn hierhergebracht hatte, mit verwunderter Miene an. Sie ging zielstrebig auf einen Garten zu, der kaum 10 Meter vom Parkplatz entfernt war.
Als Emsy vor der Hecke stand, hörte er eine Katzenstimme, die seinen Namen rief. Er ging in Richtung Stimme und stand vor einer Katzentüre, hinter der es nach frischem Fleisch roch. Da musste er rein, das war klar. Emsy stiess die Türe mit seiner verletzten Stirn auf. Da stand sie nun, die kleine Smokie, die sich so nach ihm gesehnt hatte. Sie begrüsste ihn wild und schaute ihm zu, wie der die Näpfe leerfrass. Dann legte er sich auf das Sofa und Smokie setzte sich dicht neben ihn. Sie leckte ihm mit ihrer rauen Zunge das Gesicht und die Narbe, die noch immer gut sichtbar war. Er erzählte ihr, was ihm passiert war, mindestens das, woran er sich noch erinnern konnte. Irgendwie hatte er das Gefühl, schon mal hier gewesen zu sein. Zudem war die kleine Katzendame eine Schönheit, die ihn aufs Neue faszinierte. Sie mochte ihn, das stand fest, denn sonst hätte sie ihn nicht so sehnsüchtig erwartet.
Emsy blieb nur kurze Zeit bei Tina. Er musste sich hier etwas genauer umsehen und herausfinden, ob er wohl hierhin gehörte. Er überquerte die kleine Strasse, die vor Tinas Wohnung lag, und bog in einen Park ein. Smokie folgte ihm stumm. Ein Nachbarskater gesellte sich zu ihnen. Auch er wunderte sich über die Ruhe, die Emsy ausstrahlte. Er war sich sicher, hier stimmte etwas nicht. So zeigten Tinas Katzen Emsy seine neue/alte Welt. Sie wussten, dass Emsy Hilfe brauchte und standen ihm zur Seite.
Als Emsy alles beschnuppert und getestet hatte, fühlte er sich wohler. Es kam ihm alles doch irgendwie bekannt vor. Er zottelte zum nahegelegenen Gartencenter, wo er vor seinem Ausflug viele Stunden verbracht hatte. Als er die Pflanzen sah und die Hochgestelle, auf denen er sich immer ausgeruht hatte, fühlte er sich wohl. Er begrüsste die Kassiererin mit einem lauten Miau. Sie freute sich, Emsy wiederzusehen, denn auch ihr war seine Abwesenheit aufgefallen.
Auch das nahegelegene Feld wurde von Emsy unter die Lupe genommen. Hier roch es vertraut nach Feldmäusen. Den ganzen Tag hindurch versuchte er sich zu konzentrieren. Tinas Stimme ging ihm nicht aus dem Sinn. Sie klang so vertraut und dennoch fremd.
Erst gegen Mitternacht kam Emsy zu Tinas Wohnung zurück. Auch sie wurde mit lauter Stimme begrüsst. Tina war froh, Emsy wohlauf anzutreffen. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass Emsy nicht mehr wusste, dass er hierhergehörte. Dass er nun unaufgefordert nach Hause kam, war für sie ein positives Zeichen. Sie musste ihm Zeit lassen, er würde sich schnell wieder einleben, das hoffte sie fest.
Auch am kommenden Tag streifte Emsy durch die Felder. Bekannte Gerüche stiegen ihm in die Nase. Am Abend ging er zu Tina zurück und zu den Näpfen, die prallgefüllt mit leckerem Fleisch waren.
Tina betrachtete den kleinen Kater, der viel zu ruhig war. Sie wusste, dass er noch nicht wieder gesund war. Seit sie ihn in dieser Firma abgeholt hatte, kam kein einziges Schnurren aus seiner Kehle. Dies war für Emsy sehr erstaunlich, konnte er doch alle Weltrekorde im Schnurren brechen. Zudem war er ängstlich, eine Art, die sie von Emsy nicht kannte. Bis anhin war er unerschütterlich, hatte vor nichts und niemandem Angst.
Tina legte den schlafenden Kater ins Bett neben sich, damit er sich an ihren Geruch gewöhnen konnte. Dort lag er nun, zusammengerollt und schlief wie ein kleines Kind. „Emsy, Emsy“, dachte sie „solche Ausflüge können eines Tages dein Untergang sein“. Sie schliefen beieinander und hofften, dass jeder neue Tag die Heilung voranbringen würde. Und allmählich ging es Emsy besser. Je weniger es in seinem Kopf dröhnte, desto besser konnte er sich an das Vergangene erinnern. Er realisierte, dass dies sein Zuhause war und dass die Katzen und Tina seine Freunde waren.
Nach kurzer Zeit war Emsy wieder der alte. Seine Neugier war wiedergekommen. Es war klar, sobald er wieder voll auf den Beinen war, würde er die nächste Erkundungstour in Angriff nehmen.
So ging es nicht lange und Emsy blieb erneut verschwunden. Tina konnte sich gut vorstellen, wo er war. Sicher war er ins Industriegelände zurückmarschiert zu seinen neuen Freundinnen. Sie war nicht erstaunt, als eines Tages eine Faxnachricht zu Hause lag, in der die Freundinnen berichteten, dass Emsy sie besuchen kam. Sie hatten grosse Freude an ihm. Wie nach seinem Unfall durfte er den ganzen Tag im Büro verbringen und auf den Kisten unter dem Pult liegen. Sie stellten ihm Futter und Wasser hin und verwöhnten ihn. Am zweiten Tag informierten sie Tina, die ihn abholen kam. Emsy war bis auf die Narbe im Gesicht wieder der alte geworden. Er hatte aus dem Unfall zwar gelernt, sich von den Autos etwas fern zu halten, doch die Abenteuerlust war zurückgekehrt.
So musste Tina ihn gut im Auge behalten, damit sie wusste, wo er sich so rumtrieb. Es durfte nicht mehr passieren, dass sie erst nach Tagen realisierte, dass er eigentlich gar nicht nach Hause kam. Oft fuhr sie über den Mittag zur Firma Dosch, wo Emsy sich öfters rumtrieb. Entdeckte sie ihn, wenn er mitten im Feld nach einer Feldmaus schnappte und ihn rief, stellte er die Ohren und rannte mit grossen Schritten auf Tina zu. Wenn die Autotür offenstand, sprang er hinein und wartete, bis Tina sich ans Steuer setzte. Er sprang ihr auf den Schoss und schnurrte ihr wild in die Ohren. Erst wenn sie ihn ausgiebig gestreichelt hatte, verzog er sich in den hinteren Teil des Autos, wo er den Ueberblick auf die Umgebung hatte. Sie fuhr ihn nach Hause, wo er ausgiebig zu Mittag ass. Er kannte zwar den Weg zurück, doch gefiel es ihm besser, wenn er mit dem Auto nach Hause kutschiert wurde. Nobel, nobel, dachten die Nachbarn, als Emsy mit hochgestelltem Schwanz aus dem Auto kletterte.
Emsy im Gefängnis
Emsy hatte gelernt, die Nächte zu Hause zu verbringen. Am frühen Morgen, wenn die Sonne aufging, machte er sich wieder auf den Weg ins Gartencenter. Noch immer sah man die rote Kruste auf seinem Gesicht, die er stolz allen zeigte. Jetzt, wo er so verletzt und hilflos aussah, waren alle Kunden noch viel, viel zärtlicher zu ihm. Sie hatten grosses Mitleid mit dem schwarz/weissen Kätzchen, das einen so traurigen Eindruck machte.
Während seiner Abwesenheit hatte sich im Center einiges verändert. Die bekannten Gesichter waren nicht mehr da, vermutlich in den Ferien. Die Dame an der Kasse schaute ihn verwundert an, als er mit hochgestelltem Schwanz an ihr vorbeistolzierte. Auch das Angebot auf den Gestellen hatte sich verändert. Die duftenden Blumen wurden durch Stauden und winterharte Bäumchen ersetzt. Die Zeit der blumigen Düfte war vorbei. Emsy legte sich wie gewohnt unter die Blumenständer und döste vor sich hin, als plötzlich eine Frau bei ihm stand, die ihn sehr kritisch beobachtete. Sie tastete mit ihrer Hand über seine Narbe. Er reagierte nicht, was der Frau Panik verursachte. Plötzlich hörte er ihre hysterische Stimme, die der Verkäuferin klarmachen wollte, dass diese Katze umgehend zum Arzt müsse.
Die Aushilfsverkäuferin telefonierte mit dem Kundendienst am anderen Ende des Centers. Sie war ratlos, was die Dame noch mehr in Rage brachte. Sie schnappte sich Emsy und trug ihn quer durchs ganze Gartencenter. Bei der Information stellte sie ihn auf die Theke und wollte wissen, wohin diese Katze gehörte. Der Angestellte hatte auch keine Erklärung für Emsy. Er schüttelte nur den Kopf. Die Dame wurde über die Gleichgültigkeit der Angestellten sehr wütend und erhob ihre Stimme. Die Kunden, die an der Kasse standen, drehten bereits ihre Köpfe zur Information und tuschelten untereinander. Den Kundendienstangestellten wurde die Situation sehr unangenehm. Auch die Rückfrage beim Centerchef brachte keine Erklärung für Emsy.
Die aufgebrachte Dame liess sich von niemandem beruhigen. Sie war sich ganz sicher, dass Emsy dringend ärztliche Hilfe brauchte. Sie hinterliess beim Kundendienst die Nachricht, dass sie die Katze ins nächste Tierheim bringen werde, damit sie dort geschützt und unter ärztlicher Aufsicht sei.
So landete Emsy im Tierheim und wurde in einen Käfig gesetzt. Es gab dort viele Gitterstäbe, einen Futternapf und eine Katzentoilette. Um ihn herum sah er viele Gehege, in denen etliche Katzen sassen oder schliefen. Sie begrüssten ihn aufgeregt und fragten ihn, wie er heisse, woher er denn komme und wovon seine Narbe im Gesicht sei. Emsy erzählte ihnen von seinem Unfall und seinen Ausflügen in die Freiheit. Sie hörten ihm gespannt zu, hätten sich liebend gern zu ihm gesetzt. Dies konnten sie aber nicht, da die Gitterstäbe die Katzen voneinander trennten.
Er erzählte ihnen stundenlang von seinem Leben, von der Firma Dosch, den Feldern, in denen etliche Mäuse lebten und von seinen Katzengeschwistern. Sie sassen da und hörten ihm gespannt zu. Sie beneideten ihn sehr. Dann erzählten sie ihm von ihrem Leben und ihren Erfahrungen. Jede der Katzen hatte ihr eigenes Schicksal. Sie sprachen mit Emsy den ganzen Abend und die ganze Nacht. Sie erzählten ihm ihre Lebensgeschichten. Der Rothaarige hatte einem alten Mann gehört, der vorige Woche gestorben war. Sie weinte jämmerlich und liess sich kaum beruhigen. Sie hatte ihren Besitzer doch so lieb gehabt. Die Tigerdame wurde vor einem Monat von ihrer Familie ausgesetzt, als diese festgestellt hatte, dass ihre Mieze Junge erwartete. Sie sass nun dort mit ihrem dicken Bauch und war sehr, sehr traurig. Sie wusste, dass niemand eine trächtige Katze wollte, die demnächst werfen würde. Die schwarze langhaarige Schönheit hatte auch kein besseres Schicksal. Sie wurde einem kleinen Mädchen auf den Geburtstag geschenkt. Als dieses den Spass an Selaja verloren hatte, wurde sie ins Tierheim abgeschoben. Es war ein trostloser Haufen Fell, der da sass und jammerte. Sie alle waren sehr traurig und hofften insgeheim, dass bald jemand kommen würde, der sie mit zu sich nahm. Als Emsy die Geschichten der anderen Katzen hörte, wurde ihm klar, dass er in paradiesischen Verhältnissen lebte. Er bekam regelmässig Qualitätsfutter und durfte die ganze Freiheit eines Hauskaters geniessen. War es draussen kalt oder nass, konnte er auf seinen Hochsitz liegen in der trockenen warmen Wohnung. Und Tina war immer für ihn da und streichelte ihn, so oft er das wollte. Danach sehnte er sich jetzt ungemein. Wie schön wäre es doch jetzt, wenn Tina da wäre und ihn hinter den Ohren kraulte.
Er fühlte sich eingesperrt und verloren. Da plötzlich begriff Emsy, welch Schicksal Zottel hinter sich hatte. Er konnte nun verstehen, wieso Zottel ab und zu so aggressiv war.
Wenn man längere Zeit so eingesperrt ist, muss man bösartig reagieren, das wusste er nun. Er wollte raus, das war klar. Er schrie aus Leibeskräften und verlangte, dass man das Tor öffnete. Doch nichts rührte sich. Er versuchte mit der Pfote, am Gitter zu kratzen, ohne Erfolg.
Am Abend stellte man ihm etwas Futter hin, welches er aber verschmähte. Es gefiel ihm hier überhaupt nicht. Zudem wusste er gar nicht, was er hier eigentlich zu suchen hatte. Er dachte an Tina und seine Geschwister und wünschte sich, sie würden kommen und ihn hier rausholen. Panik stieg in ihm auf. Was würde passieren, wenn Tina ihn nicht suchte? Sie war sich ja gewohnt, dass er tagelang rumstreunte. Sein Nackenfell sträubte sich und Emsy bekam es mit der Angst zu tun. Würde er in Zukunft hier leben müssen? Es war eine schreckliche Vorstellung für ihn. Er schlief kaum etwas und dachte unentwegt an sein zukünftiges Schicksal. Bald würde er genau so unglücklich sein wie seine Mitbewohner. Erst gegen Morgen fiel er in einen tiefen erholsamen Schlaf.
Am Morgen brachte man ihm frisches Wasser und Trockenfutter, das er nicht anrührte. Er wollte nichts zu fressen, wollte einfach nach Hause gehen. Von draussen schien bereits die Morgensonne in den Raum. Noch immer sass er im Käfig fest, der kaum einen Quadratmeter gross war. Er konnte nur zwei Schritte nach rechts und zwei nach links machen. Die anderen Miezen wurden für einen kurzen Aufenthalt ins Freigehege gelassen. Er musste drinbleiben, eingesperrt und ungeliebt.
Da hörte er von weit weg das bekannte Geräusch einer Autotüre. Er spitzte die Ohren und hörte Schritte und die vertraute Stimme von Tina. Er schrie so laut er nur konnte. Sie musste ihn doch hören, musste ihn hier rausholen. Er versuchte erneut, sich durch die Gitterstäbe zu zwängen. Noch immer schrie er aus Leibeskräften. Seine neuen Freunde halfen ihm mit lauter Stimme mit. Es war mehr als ein grosser Katzenjammer, es war ein tosender Katzenchor. Er war ganz ausser sich, als Tina in der Türe stand und auf ihn zuging. Sie war seine Rettung, jetzt würde alles gut werden. Die Käfigtüre wurde geöffnet und Emsy konnte seiner Retterin in die Arme springen. Vor lauter Glück vergass er sogar, sich von seinen neuen Freunden zu verabschieden. Er wollte nur nach Hause, zu Smokie und seiner Familie.
Erst als sie daheim angekommen waren, legte sich Emsys Aufregung. Er fühlte sich ganz plötzlich unheimlich hungrig und todmüde. Noch selten hatte das Katzenfutter so gut gemundet wie an diesem Morgen. Er verschlang es, als habe er eine Woche nichts gefressen.
Tina sass da und betrachtete Emsy, der tüchtig zulangte. Sie hatte im Gartencenter erfahren, was gestern passiert war.
Jetzt musste sie etwas unternehmen, so konnte das nicht weitergehen. Sie konnte doch nicht jeden Tag ihrem Streuner nachspringen und ihn irgendwo einsammeln. Sie nahm ein Lederhalsband, das mit einem kleinen Anhänger versehen war, auf dem Emsys Name und Adresse stand. Dieses Halsband legte sie Emsy um. Erstaunlicherweise liess er es ohne Gegenwehr geschehen. Schon zwei Mal hatte sie ihm ein Halsband angezogen, das er aber jeweils am gleichen Tag abgestreift hatte.
Doch dieses Mal schien alles anders. Emsy liess es mit sich geschehen. Der ungewollte Ausflug ins Tierheim war ihm so unter die Haut gefahren, dass er das Halsband eben ohne Knurren tragen wollte. Von jetzt an würde jedermann sehen, dass er hier wohnte und kein streunender, herrenloser Kater war. Jetzt würde man ihn in Ruhe lassen und akzeptieren, dass auch ein Hauskater ab und zu eine kleine Wunde auf der Stirn haben darf, ohne dass man ihn gleich zum Arzt oder ins Tierheim schleppen musste.
Er dachte an seine Tierheim-Freunde und verabschiedete sich in Gedanken von ihnen. Er wünschte ihnen von Ferne alles Gute und dass sie bald eine Familie fänden, die ihnen das bieten kann, was sie sich so sehr wünschten. Er nahm sich vor, in Zukunft ein braver Kater zu sein und abends immer nach Hause zu kommen. Er hatte eine Lehre fürs Leben gezogen und enorm Glück gehabt.
Damit eine solche Geschichte nicht nochmals passierte, schrieb Tina einen originellen Brief mit Fotos von Emsy ans Gartencenter. Sie stellte darin ihren streunenden Kater vor und gab die Adresse bekannt, wo Emsy eigentlich zu Hause war. So konnte sie vermeiden, dass Emsy erneut im Tierheim landete.
Bald kannten ihn alle im Dorf und Tina erfuhr von allen Seiten, was Emsy sich wieder geleistet hatte. So erzählte man ihr im Einkaufszentrum eines Tages, dass Emsy einer Dame einen Riesenschrecken eingejagt hatte. Er lag nämlich friedlich vor der Eingangstüre und schlief den Schlaf der Gerechten. Rechts und links von ihm drängten sich Passanten mit ihren Einkaufswagen vorbei, doch Emsy liess sich nicht stören. Er träumte von Mäusen, dicken Würsten und Katzenmilch. Auch die eine ältere Dame wollte dort ihre Einkäufe machen, als sie den Kater entdeckte, der dort auf der Seite lag und alle Viere von sich streckte. Ueber seinem Gesicht verlief noch immer eine unübersehbare rote Narbe. Sie schaute ihn von allen Seiten an er bewegte sich nicht. Sie schubste ihn sachte an, doch er blieb regungslos liegen. Die Einkaufswagen fuhren dicht an ihm vorbei, doch der Kater bewegte sich überhaupt nicht. Sie erschrak fürchterlich, denn hier stimmte etwas nicht. Sie stürmte in den Laden, direkt auf die Kassiererin zu und meldete aufgeregt, vor der Eingangstüre läge eine tote Katze. Frau Feuermann, selbst eine grosse Tierfreundin, wollte schauen, ob diesem Tier noch zu helfen war und rannte mit der Kundin vor die Ladentüre. Als sie Emsy daliegen sah, musste sie laut lachen. Sie kannte den kleinen Kater unterdessen und konnte die aufgeregte Kundin beruhigen. Emsy war nicht tot, sondern einfach müde. Er hatte sich nur schlafen gelegt und war in einen Tiefschlaf gesunken, der ihn alles um ihn herum vergessen liess. Emsy hatte wieder einmal gezeigt, dass er ein unerschrockener Streuner war.
Tina wurde von links und rechts informiert. Es trafen Fax, Nachrichten und Mails ein, die sie stets über den Aufenthaltsort von Emsy informierten. Auch die Tatsache, dass er ein Halsband mit der Adresse umhatte, beruhigte sie. Sie wusste, wenn etwas passieren würde, könnte man sie informieren. Es war eine anstrengende, jedoch aufregende Zeit mit Emsy dem Streuner. Besonders er hatte Tina fest im Griff. Wenn sie wieder mal von der Arbeit wegspringen musste, um den kleinen Streuner an einem fremden Ort abzuholen und Unmut in ihr aufstieg, drückte er bei ihrer Ankunft sein Köpfchen ganz fest an Tinas Wange und leckte ihr mit seiner rauen Zunge über die Hand. Wenn sie dann in seine grossen runden Augen sah, schmolz sie wie warme Butter.
Dann verging ihr Unmut und sie konnte ihm nicht böse sein. Sie war in der Falle, in den Fängen der Samtpfoten. Sie war wie eine kleine gefangene Maus, die sich ihrem Schicksal ergeben musste. Und diese runden dicken, samtweichen Pfoten hielten sie fest und liessen sie nicht mehr los. Sie war ihm und seinem sanften Wesen ausgeliefert.