Mariolu die kleine Meerwelle (JD)
Buch 8
Der Vollmond
leuchtete über das noch stille, blaue Meer und liess es in einem silbernen
Schimmer leuchten. Bald würde die Sonne auf der anderen Seite aufgehen und mit
ihren Strahlen das Meer türkisblau zum Scheinen bringen. Als Mariolu, die
kleine Meerwelle, erwachte, blinzelte sie in den Morgengrauen und wusste, dass
dieser Tag für sie von spezieller Bedeutung sein würde.
Mariolu schaute
sich um und die grossen Wellen schliefen noch tief und fest. Diese Stille
faszinierte sie. Sie streckte sich, um über das Wasser zu sehen und ihre zarte
Bewegung lies die Welle neben sie erwachen. Mariolu genoss es, als erste wach
geworden zu sein, denn so konnte sie das Schauspiel beobachten, wenn die
anderen Wellen aufwachten. Ihre langsamen Bewegungen während sie sich streckten
und reckten, vom Schlaf noch benommen, liessen langsam die Wasseroberfläche
wellenartig schwanken. Die ersten Wellen bäumten sich hoch und liessen sich im
Schaum ihres Körpers wieder genüsslich ins Wasser fallen. Mariolu war noch zu
klein, um sich so bewegen zu können, aber eines Tages würde auch sie das tun
können und zu den anderen grossen Wellen gehören. Sie wäre dann genau so
kräftig und mächtig.
Die Sonne ging
auf und die ersten Strahlen liessen das Wasser glitzern. Es würde ein schöner
und heisser Sommertag werden. Mariolu liebte diese Tage, denn das bedeutete,
dass viele Menschen mit ihrem Schiffen aufs Meer hinausfahren würden und diese
Szenerie bot ihr immer wieder ein vielfältiges Schauspiel.
Die weissen, auf
Hochglanz polierten Schiffe glitten über das Meer und die Wellen amüsierten
sich im Kielwasser. Das war wie Achterbahnfahren. Manchmal stritten sich die
grossen Meerwellen um den besten Platz. Das fand Mariolu lächerlich, denn es
kamen ja so viele Schiffe vorbei, dass sich jede der grossen Wellen an die
erste Position stellen konnte. Aber so waren eben die Erwachsenen. Sie
schimpften die Kleinen und wenn es darauf ankam, vergassen auch sie ihre
Vernunft und liessen sich von ihrem Spieltrieb vorwärts treiben.
Es war Sonntag
und an Sonntagen waren immer besonders viele kleine und grosse Schiffe
unterwegs. Die Menschen nahmen ihr Essen an Bord und veranstalteten Feste,
Grilladen und vergnügten sich bei lauter Musik und erfrischenden Getränken.
Ihre Stimmen glitten über das Wasser und Mariolu lauschte gerne den Geschichten,
die sie sich erzählten. Alle Zusammenhänge verstand sie nicht immer, da die
Menschen oft wirres Zeug redeten, das keinen Sinn machte. Sie vermutete auch,
dass sie sich nicht immer die Wahrheit erzählten und mit ihren Geschichten
übertrieben, um ihre Gesprächspartner zu beeindrucken.
Das
mittelgrosse, weisse Schiff, entdeckte Mariolu bereits als es die Fahrrinne des
kleinen Hafens verliess. Im Wind wehte eine grosse Fahne mit einer Sonne und
einem Mond. Der Hintergrund war Blau und der Wind zerrte am Stoff, das fest am
Masten hing. Menschen liefen seitlich zum Heck und der Kapitän rief ihnen etwas
zu, das Mariolu auf diese Distanz nicht verstehen konnte. Sie bewegte sich
langsam in die Richtung, aus der das Schiff kam und hoffte, dass es den Kurs
beibehalten würde. Sie war neugierig und gespannt, wer die Menschen an Bord waren.
Als das Schiff
näher kam, entdeckte Mariolu das kleine Mädchen am Bug des Schiffes. Sie sass
am Boden und hielt sich an den Stahlseilen der Reling fest. Ihre Beine hingen
über der Kante und sie starrte auf den Wellengang im Wasser. Sie schien
fasziniert zu sein, wie die Wellen an der Schiffswand aufschlugen und zurückfielen.
Es war ein durchaus hübsches, kleines Mädchen. Sie trug ein rosafarbenes
Sommerkleid und ihre blonden Locken bedeckte ein weisser, runder Strohhut mit
einer Schlaufe. Ihre Augen waren so blau wie das Meer. Mariolu fühlte sich zu
diesem Mädchen hingezogen und so klammerte sie sich an eine kräftige Welle, die
sich in Richtung Schiff bewegte. Ihr fehlte noch die Kraft, sich so schnell
durch das Meer gleiten zu lassen.
Eine Frau rief
nach dem Mädchen, welches aber weiter ruhig und gespannt auf das Meer hinunter
schaute, unbeeindruckt, wer nach ihr rief. Zu gross war die Faszination der
Bewegungen und der Farben des Wassers. Als sich Mariolu nährte, sah sie das
Gesicht des Mädchens, mit ihren zarten Konturen und ihren freundlichen, weichen
Gesichtszügen.
Berührt vom
Anblick des Mädchens, vergass Mariolu sich rechtzeitig vom Rücken der grossen
Welle zu lösen und so geschah es, dass sie gemeinsam gegen das Schiff prallten.
Mariolu sah ihr Ende kommen und wusste, dass das ihre letzten Züge waren. Sie
zerschlug mit grosser Wucht in Hunderttausend kleine Wassertropfen. Das Mädchen
sah Mariolu direkt in die Augen und ein paar Spritzer trafen ihre kleinen, nackten
Füsse, die über dem Bord hingen. Das Mädchen riss die Augen auf und sprang hoch.
„Mama, Mama, kommt her und schau dir das an! Ich habe die Augen einer kleinen
Meerwelle gesehen und ihre Tropfen sahen aus wie Kristalle. Ich habe noch nie
so etwas Wunderschönes gesehen, Mama. Schau, auf meinen Füssen sind noch
welche…“. Das Mädchen rannte zur Frau, die sich zu ihr umgedreht hatte.
Mariolu zerfiel
im Wasser und während sie ihre letzten bewussten Gedanken wahrnahm, fragte sie
sich, wofür sich ihr kurzes Dasein wohl gelohnt hatte. Sie sah das strahlende
Gesicht des Mädchens vor sich und die Freude in ihren blauen Augen. Und dann
erkannte sie den Zweck ihrer eigenen kurzen Existenz in diesem Augenblick. Es
war die Freude. Sie hatte dem Mädchen Freude bereitet. Und dafür hatte es sich
zu existieren gelohnt, dachte Mariolu.