Wunder geschehen überall - Luskas Bücher

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Wunder geschehen überall

Buch 7
Tina legte die Geschichten zur Seite. „Echt schöne Geschichten“, sagte sie zu sich selber. Sie dachte an ihr eigenens Leben mit den Katzen. Zwar nahm sie nicht ausschliesslich Katzen auf, die behindert waren oder krank, doch manchmal passierte das schon. Sie schaute zur schönen Nala, die mit Shumba in einem Korb lag. Shumba zog bei Tina ein, als fest stand, dass Wuschel nicht mehr zurückkommen würde. Shumba war eine Mischung zwischen einer Perserkatze und einem Norwegerkater. Er war Wuschel optisch sehr ähnlich, vom Charakter her aber viel wilder und unberechenbarer.

Als junger Kater war er ein richtiger Flegel, jagte die anderen Katzen kreuz und quer durch das Haus. Allerdings war das für ihn Spiel. Er war ein ganz lieber Kerl, der niemandem etwar zuleide tat. Als sein erster Geburtstag bevor stand, war er viel ruhiger und lieber geworden, gesellte sich oft zu den anderen Katzen, die früher Angst vor ihm hatten.

Wuschel war noch nicht vergessen. Tina dachte ständig an ihn und fragte sich, was wohl aus ihm geworden war, ob es ihn überhaupt noch gab. Ganz hart war es für Tina, wenn sie zu ihrer Freundin ging, bei der Wuschels Schwester lebte. Alaya war das Abbild von Wuschel, nur etwas graziler als er. Die Zeichnung war genau gleich, auch der buschige Schwanz. Sie dachte oft, wie schön es doch gewesen wäre, wenn sie gesehen hätte, wie Wuschel erwachsen wird. Auch hatte sie Angst, dass er nicht mehr zurück kann, weil jetzt ein Gartenzaun ums Grundstück gezogen ist. Sie konnte ihn einfach nicht vergessen, den schönen grossen Kater. Sie liebte ihre anderen Katzen auch, aber Wuschel war schon immer etwas ganz Besonderes gewesen, eben der Sohn ihrer geliebten Giny. Das Allerschlimmste war, dass sie nicht wusste, warum er weggegangen war und was mit ihm geschehen ist. Jedes Mal, wenn sie Alaya sah dachte sie an Wuschel und wurde traurig.

Es waren viele Monate verflossen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Und dann hatten sie auch noch einen sehr harten Winter. Sie wollte gar nicht daran denken, dass er vielleicht alleine da draussen war und frieren musste. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was da wohl passiert war.

Es gibt im Internet eine Seite, auf der man vermisste oder gefundene Tiere melden kann. Tina schaute nach Wuschels Verschwinden fast täglich da rein, platzierte dort auch eine Suchmeldung von Kiki und Wuschel. Mit der Zeit rief sie diese Seite aber nur noch sporadisch auf. Ihre Hoffnung war zwar noch da, wurde aber immer geringer. Nach so langer Zeit müsste ein Wunder passieren, damit sie Wuschel wieder sehen würde.

Natascha rief sie an. Eine ihrer Katzen war seit einer Woche verschwunden. Sie bat Tina, eine Suchmeldung auf dieser Seite zu platzieren. Vielleicht hatte sie jemand gefunden. Als Tina am nächsten Tag zur Arbeit fuhr, kam ihr das in den Sinn. Sie stieg, wie früher täglich ins Internet ein und gab für Natascha ein Inserat auf. Dann noch ein Foto hinzufügen – und fertig. „So, nun warten wir mal ab, ob die Schöne wieder auftaucht“, murmelte sie. Eine innere Stimme sagte, sie solle noch nicht aus dem Internet aussteigen, sich auch mal die aktuellen Fundmeldungen anschauen. Gesagt, getan. Sie gab ihren Wohnort und eine Distanz von 30 km ein und wartete. Nun suchte die Maschine alle Fundmeldungen zusammen, die auf Tinas Vermisstmeldung passten; Kater, unkastriert, langhaarig, im Umkreis von 30 Kilometern ab Wohnort.
Was sie dann sah, konnte sie kaum glauben. Ganz oben auf der Seite schaute sie in Wuschels Gesicht. Oder war er es nicht? Dieses Fundinserat war für ein weibliches Tier aufgegeben worden. War er es oder wohl doch nicht? Sie hatte sich schon mehrmals getäuscht, war schon kreuz und quer durch das Land gefahren, um Fundtiere anzuschauen, die Wuschel ebenso geglichen hatten. Konnte das sein? Wo um Gottes Willen lag denn diese Ortschaft?

Sie hatte im Geschäft zwei Bildschirme. Sie platzierte das Fundfoto auf dem Bildschirm rechts, das Foto der Vermisstmeldung auf dem Bildschirm links. War er das? Im Inserat schrieb man etwas von einer gefundenen weiblichen Katze? Aber Wuschel war ja ein Kater. Sie rief sofort Natascha an. Sie sollte sich das Bild auch mal anschauen. Ihre Freundin war absolut überzeugt, dass es sich um die gleiche Katze handelte. Tina nahm den Hörer in die Hand und rief an. Eine freundliche Stimme antwortete. Die Frau war sich nicht sicher, ob es sich beim Fundtier um einen Kater oder um eine Katze handelte. Bei einem langhaarigen Tier, das man nicht ohne weiteres anfassen kann, ist das etwas schwierig festzustellen.
Tina schickte ihr per Mail die Suchmeldung von Wuschel. Er trug ja einen Chip. Mit einem Lesegerät konnte man jederzeit feststellen, ob er es war oder nicht. Die Rückmeldung war interessant. Die Frau war sich auch nicht ganz sicher, ob es sich beim Fundtier um Wuschel handelte. Sie musste noch warten, bis ihr Mann mit dem Auto nach Hause kam. Dann würde sie zum Tierarzt fahren, eine Chipkontrolle machen und Tina benachrichtigen.

Nun war es vorbei mit der Arbeit. Tina konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie wartete gespannt, schaute dem Zeiger der Uhr zu, der langsam von einer Minute zur nächsten sprang. Endlich kam der erlösende Anruf. Nela war tatsächlich mit Wuschel zum Tierarzt gefahren. Das Lesegerät machte ein eindeutiges Geräusch. Die Katze trug einen Chip. Sie verglichen die Nummern des Chips mit dem der Suchmeldung. Es stand eindeutig fest, dass es sich um Wuschel handelt, der da auf dem Behandlungstisch sass.
Tina wurde es fast übel vor Freude. Neun Monate nach seinem Verschwinden hatte sie Wuschel gefunden. Noch wusste sie nicht, ob er gesund war und ob es ihm gut ging. Eines wusste sie aber, sie musste sofort in diese Ortschaft fahren, von der sie noch nie was gehört hatte und die 20 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt lag. Es war bitterkalt, die Strassen voller Schnee und Eisglätte. Aber Tina war das egal. Sie fuhr über Hügel und durch Ortschaften, die ihr vollkommen unbekannt waren. Ihre Gedanken waren bei Wuschel. Wie würde er sich verhalten, wenn er Tina sah? Würde er sie wiedererkennen? War er gesund? Viel hatte sie von Nela bei diesem kurzen Gespräch nicht erfahren. Auch sie war ausser sich vor Freude, dass sich Wuschels Besitzerin gemeldet hatte. Der Weg zu Wuschel schien unendlich lang.
Eine Stunde später war sie dort. Nela öffnete ihr die Tür und begrüsste sie äusserst freundlich. Sie führte sie in ein Waschhaus, in dem ein paar Katzen lagen und schliefen. Diese öffneten kurz die Augen und beobachteten die Frau, die sie noch nie gesehen hatten. Sollte diese näher kommen, würden sie wegrennen. Zu Nela hatten sie bereits Vertrauen gewonnen, doch Fremden gegenüber blieben sie vorsichtig. Doch Tina liess sie in Ruhe. Ihre Augen waren auf den hintersten Korb gerichtet, in dem eine Langhaarkatze schlummerte. Der Kater stand auf und gähnte ausgiebig. Gab es denn jetzt schon wieder Futter? Doch die Frau, die nun vor ihm stand, war nicht Nela. Er betrachtete Tina sehr genau. Als diese seinen Namen nannte, stand er auf, miaute zaghaft und ging auf sie zu. Ihre Stimme löste in ihm etwas Vertrautes aus. Alte Erinnerungen kamen in ihm hoch. Er strich sich den Schlaf aus den Augen und schnupperte an ihren Beinen. Vertraute Gerüche und eine liebevolle Stimme, die ihn Wuschel nannte. „Ja, Wuschel ist mein Name. Jetzt kann ich mich erinnern“. Er drückte sich fest an sie. Sie hatte ihn gefunden nach so langer Zeit. Nun standen ihr die Tränen in den Augen. Sie hob Wuschel hoch, streichelte, drückte, küsste ihn. Sie hatte ihren Schatz wieder gefunden. Doch was war passiert?
Nela erzählte Tina von den Wilden, die sie sterilisieren liess und denen sie die Waschküche als Unterschlupf angeboten hatte. Eines Tages entdeckte sie eine weitere Katze, ebenfalls eine langhaarige. Das war vor einigen Wochen gewesen. „Ach je, noch eine. Ich meinte, ich hätte alle sterilisieren lassen“, dachte sie. Aber im Grunde genommen war es ja egal, wenn eine zusätzliche Katze zu ihr kam. Futter und Decken waren genug da. Auffallend war nur, dass Wuschel anders war, irgendwie zutraulicher. Während die Wilden die Flucht ergriffen, wenn sie ihnen zu nahe kam, zeigte Wuschel keine Angst. Ganz im Gegenteil. Er suchte die Nähe des Menschen. Zwar liess er sich auch nicht ohne Weiteres anfassen, doch rannte er nicht gleich weg wie die anderen. So blieb Wuschel bei den Wildkatzen und durfte ein Bett im Waschhaus beziehen.

Nach ein paar Wochen musste Nela eine Entscheidung treffen. Für sie stand fest, dass sie nicht wieder junge Kätzchen wollte. Also musste die Neue auch sterilisiert werden. Aber die Kosten waren halt schon recht hoch. Sie hatte gehört, dass der Tierschutz bei Wildkatzen einen Teil der Kosten übernimmt. Also rief sie dort an. Die Auskunft war ernüchternd: „Sie müssen ein Fundtier zwingend bei der Tierfundstelle melden, das ist nach Tierschutzgesetz Pflicht. Behalten dürfen Sie es erst, wenn sich der Besitzer innerhalb von zwei Monaten nicht meldet.“ Dies war eigentlich nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. Sie war sich sowieso ganz sicher, dass Wuschel auch zu den Bauernhofkatzen gehörte, die sich seit längerer Zeit bei ihr aufhielten und von denen sie zwei aufgenommen hatte. Trotzdem beunruhigte sie die Auskunft. Hatte sie einen Fehler gemacht, als sie die Wilden einfach aufgenommen und sterilisiert hatte? Sie hatte noch nie was von dieser Internetseite gehört, wo man verlorene und gefundene Tiere inserieren konnte.
Also hockte sie sich am Abend an den Computer und gab ein Inserat auf. Nur noch ein Foto, dann war alles erledigt. Die Internetseite suchte nach ihrer Eingabe alle passenden Tiere durch. Da sie aber das Inserat für ein weibliches Fundtier aufgegeben hatte und die Region auf 20 km eingegrenzt hatte, fand sie die Vermisstmeldung von Wuschel nicht. Jetzt, wo sie von Tina erfuhr, dass Wuschel schon seit Monaten fehlte, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Hätte sie schon früher reagiert und ihn auch auf einen Chip kontrollieren lassen, hätte Tina einige Sorgen weniger gehabt. Aber nun war daran nichts mehr zu ändern. Sollte ihr so was nochmals passieren, würde sie schneller handeln. Sie wusste, wie schlimm es ist, wenn man ein Tier vermisst und nicht weiss, was ihm passiert ist.

Doch das war jetzt alles vergessen. Tina war überglücklich, dass sie Wuschel wieder in die Arme schliessen konnte. Wie würden sich Giny und Merlin freuen, wenn sie mit ihm heim kam. Sie sprach noch lange mit Nela, über die Wilden und Wuschels Auftauchen. Nela war froh, dass sie Wuschel abgeben konnte in ein Zuhause, wo es ihm gut ging. Zwar war sie sehr darauf bedacht, den wilden Tieren ein gutes Plätzchen anzubieten, aber durch das ängstliche Verhalten hatten die Katzen keinen Menschenkontakt. Sie vermissten zwar die Streicheleinheiten, die Nelas eigene Katzen täglich bekamen, doch die Angst der Wilden war zu stark.
Eine Stunde später machte sich Tina auf den Heimweg. Sie setzte Wuschel in einen Transportkorb, den ihr Nela ausgeliehen hatte. Er liess es einfach geschehen. Die Begegnung mit Tina hatte ihm auch zugesetzt. Was würde ihn daheim erwarten? Würde Giny mit ihm schimpfen oder war sie froh, ihren Sohn wieder zu haben. Als Wuschel eine weitere Stunde später vor Giny stand, war die Schöne ausser sich vor Freude. Ihr Junge war wieder da. Sie stupste ihn mit der Nase an, als wolle sie sagen „Hey, Bub, so was machst du nicht mehr. Wir haben uns grosse Sorgen gemacht.“ Wuschel dachte überhaupt nicht daran, so einen Quatsch nochmals zu machen. Er war glücklich, wieder daheim zu sein, legte sich auf den Kratzbaum und schlief sofort ein. Eine lange Reise war vorbei. Er war erwachsen geworden und hatte sich diese Reife hart verdienen müssen. Am nächsten Tag wurde auch Wuschel kastriert. Sein Trieb hatte ihn in die Fremde geführt, das sollte nicht mehr passieren.

Wuschel wurde danach viel ruhiger. Die rolligen Weiber der Umgebung machten ihm keinen Eindruck mehr. Er blieb viele Monate daheim. Jetzt, wo der Garten eingezäunt war, war es sowieso nur mit grosser List möglich, auszubüchsen. Er wollte das nicht mehr. Die monatelange Reise hatte Spuren hinterlassen. Er hatte gehungert, gefroren und gelitten. Wofür das alles? Hier war sein Zuhause, seine Familie. Eigentlich war er doch glücklich hier! Manchmal braucht es eine schlechte Erfahrung um zu erkennen, wo das Glück liegt. Und Wuschels Glück war hier.
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