Miss Tchibo - Luskas Bücher

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Miss Tchibo

Buch 5
Miss Tchibo

Woher kommt nur dieser eigenartige Name? Das haben sich viele gefragt, die von Miss Tchibos Geschichte erfahren haben.

Eine Stunde von Tinas Katzenhaus entfernt, auf der anderen Seite der Grenze, gibt es eine kleine Ortschaft, die aus wenigen Häusern und einem Gasthaus besteht. Sie liegt idyllisch am Fusse des Feldbergs. Im Sommer kann man draussen sitzen und auf den verkehrsfreien Ortsplatz schauen. Auch Tina und ihre Freunde sind ab und zu mal zu Gast im Krug. Bevor Betty ins Gasthaus geht, begrüsst sie immer zuerst Frau Merkel, die vor der Küche darauf wartet, dass es etwas Leckeres gibt.

Nein, Frau Merkel ist nicht die deutsche Bundeskanzlerin. Frau Merkel ist eine schwarz-weisse Katzendame, allerdings die Ranghöchste in dieser kleinen Ortschaft. Sie war eines Tages beim Gasthof zum Krug eingetroffen und nicht mehr gegangen. Auch wenn der Gastwirt keine Katze mehr wollte, konnte er dem treuen Blick der Schwarz-Weissen nicht widerstehen. Er wollte sie nicht füttern, gab ihr trotzdem ein paar Stückchen Fleisch. Katzenfutter würde es nie geben, das war sein Credo. Trotzdem standen schon ein paar Tage später zahlreiche Dosen mit leckerem Katzenfutter vor der Türe. Okay, sie könne ab und zu mal reinschauen, doch da bleiben, das käme nicht in Frage. Und wenige Tage später stand schon ein Korb unter dem Tisch, ausgekleidet mit einer warmen Decke, damit Frau Merkel auch wirklich nicht frieren musste. Jaja, so konsequent war der gute Mann halt. Wie viele Männer war auch er den schönen Augen verfallen, diesmal allerdings solchen einer schönen Katze. Sie hatte ihn in ihren Bann gezogen und liess ihn nicht mehr los. Frau Merkel war in aller Munde. Alle wussten, dass sie beim Gasthof zum Krug bleiben durfte.

Die anderen Katzen der Strasse waren ihr neidisch. Frau Merkel war an der Quelle. Ihr Liegekorb stand direkt im Hinterhof, zwei Meter von der Küchentüre entfernt. Ab und zu ging die Türe auf und der Koch stellte der nimmersatten Katzendame einen Teller voller Futter hin. Mhhhh, das war ein Leben! Doch Frau Merkel verteidigte ihren Ehrenplatz. Sie würde sich ihren Thron von niemandem streitig machen lassen. Wenn ihr eine Katze zu nahe kam, knurrte sie bedrohlich. Dem Gastwirt war das auch recht, denn mehr als eine Katze im Hinterhof war ihm zu viel. Er hatte früher schon einmal die Erfahrung gemacht, dass plötzlich an die zwanzig Tiere vor seiner Küche standen und um Futter bettelten. Nein, das wollte er nicht mehr. Frau Merkel dürfte hier bleiben, doch dann war Schluss.

Als Tina und Betty eines Tages aus dem Restaurant kamen, wollten sie sich von Frau Merkel verabschieden gehen. Dies war jeweils so üblich, ein Ritual. Sie konnten nie den Heimweg antreten, ohne nicht noch ein paar Minuten mit Frau Merkel geschmust zu haben. Wenn man kam, begrüsste man die Königin. Bevor man sich auf den Heimweg machte, wurde sie noch kurz gestreichelt.

Es war schon recht dunkel draussen, als die beiden Frauen in den Hinterhof gehen wollten. Da sass sie, die kleine graue Katzendame. Sie schaute den zwei Frauen nach, die zum Hinterhof gehen wollten. "Miau, Miau", die Kleine gab ein leises Geräusch von sich. Tina schaute etwas Genauer. In der Dunkelheit war nur eine Silhouette zu erkennen. Dann sah sie das kleine Kätzchen, das an der Wand sass und flehend zu ihr hoch schaute. In diesem Moment kam der Koch aus dem Hof und erklärte, diese Katze sei eine Wildkatze. Sie käme zwar täglich zu ihnen, doch würde man sie nicht füttern. Zudem sei sie so wild, dass man sie nicht anfassen konnte.

Tina konnte nicht glauben, was sie da hörte. Die Kleine war wunderschön und kaum ein Jahr alt. Sie erinnerte sie an ihre Shiva mit ihren dunkelgrauen Flecken und dem hübschen Gesicht. Jetzt kam ihr in den Sinn, dass sie noch etwas Kaffeesahne in der Tasche hatte. Sie nahm den kleinen Sahnebehälter hervor und stellte ihn geöffnet hin. Schwupps, und die Kleine kam unter dem Tisch hervor und schlabberte die Sahne ganz gierig aus dem Töpfchen. Tina hob das Kätzchen hoch und streichelte es. Wild? Nein, bei ihr war die Katze ganz ruhig. Allerdings fiel Tina sofort auf, dass das Kätzchen trächtig war. Ihr Bauch war runder als normal. Zudem spürte sie zwei Erhärtungen - Katzenbabies. Was würde wohl mit der kleinen Katze passieren, wenn sie im kalten Spätherbst noch Babies bekäme und kein Zuhause hatte? Mutter und Kinder hätten keine Ueberlebenschance. Für Tina war absolut klar, hier musste man helfen. Sie wollte wissen, ob diese Katze tatsächlich niemandem gehörte. Wenn sie kein Zuhause hatte, würde Tina sie aufnehmen. Sie war hin- und hergerissen. Erst müsste sie abklären, ob es sich bei diesem Tier wirklich um eine wilde Katze handelte oder ob sie nicht doch jemandem gehörte. Sie beschloss, in den nächsten Tagen die Nachbarschaft zu befragen.

Ein paar Tage später fuhr sie erneut zum Gasthof. Sie entdeckte zwar die trächtige Katze nicht mehr, doch klingelte sie überall in der Nachbarschaft. Sie erfuhr, dass es hier nur ältere Katzen gab, mit einer Ausnahme - die Katzen der Familie Werther. Dort wohnten, wie es scheint, mehrere Katzen, auch Dreifarbige. Leider fand Tina keine Hausklingel, konnte auch niemanden im Haus entdecken. Sie beschloss, später dort anzurufen. Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie schlussendlich die Tochter ereichte. Diese bestätigte ihr, dass es sich bei der Kleinen vermutlich um eine der Katzen handelte, die bei ihrer Mutter wohnten. Doch sei diese Katze nicht trächtig, sondern habe vor wenigen Wochen Junge auf die Welt gebracht.

Mit dieser Auskunft gab sich Tina nicht zufrieden. Sie wollte ganz sicher sein, dass die Kleine vor dem Gasthaus wirklich das Muttertier war, von dem die Tochter Werther gesprochen hatte. Also musste man mit der Mutter in Kontakt treten. Dies war aber ein schwieriges Unterfangen. Wenn Betty anrief, wurde sie nur mit dem Anrufbeantworter verbunden. Die Nachricht "Wenn Sie es nochmals versuchen, bekommen sie einen Gratiskaffee bei uns…." kannte sie bereits auswendig. Wie es scheint, war niemand daheim. Tinas Freundin, Betty, konnte tagelang niemanden erreichen, obwohl sie nicht locker liess und immer wieder einen Versuch startete. Okay, es war Ferienzeit. Vielleicht waren sie ja auch für ein paar Tage in den sonnigen Süden gefahren. Endlich, nachdem sie den "Kaffeebeantworter" schon in- und auswendig kannte, war sie mit Mama Werther verbunden. Diese erzählte ihr, dass sie eine vierjährige Katze hatte, die noch säugen würde. Sie hatte vor ein paar Wochen zwei Junge zur Welt gebracht. Da sie in all den Jahren immer wieder Nachwuchs hatte, war sie derart klein geblieben, dass man sie bestimmt mit einer jungen Katze verwechseln konnte.

Tina konnte sich kaum vorstellen, dass diese Katze, die beim Gasthaus gewesen war, vier Jahre alt sein sollte. Sie hätte sie auf 6 - 8 Monate geschätzt, so zierlich und klein wie sie war. Sie wusste sich keinen Rat mehr. Gab es bei Familie Werther wohl noch andere Katzen? Oder gehörte die Katze vom Restaurant gar nicht dorthin? Wo könnte die Mutterkatze während der Abwesenheit der Familie denn rein oder raus? Sie müsste ja irgendwo einen Durchgang haben, damit sie ihren Nachwuchs versorgen könnte? Es gab zahlreiche Fragen und keine Antworten. Wahrscheinlich handelte es sich ja um zwei verschiedene Tiere.

Tina und Betty fuhren nochmals hin. Niemand war zu Hause. Sie suchten nach Futterschalen oder einer Durchschlupfmöglichkeit für eine Katze. Es war absolut nichts zu sehen. Sie konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier eine oder mehrere Katzen lebten.

In ihrer Verzweiflung gingen sie zurück ins Gasthaus, tranken dort einen Schluck Wein und hofften darauf, dass bald jemand der Familie Werther nach Hause käme. Endlich, eine Stunde später, erhellte sich das gegenüberliegende Fenster. Tina und Betty überquerten die Strasse und klingelten. Ein kleiner Junge öffnete die Türe. Seine Mutter war nicht daheim. Beim Thema "Katze" war er ratlos. Somit war auch jetzt noch nicht klar, ob die Vierjährige von Werthers die gleiche Katze war, die jeden Tag vor der Gaststätte bettelte.

Allmählich drängte die Zeit. Wenn die Kleine tatsächlich trächtig war und nicht zu Werthers gehörte, müssten die Jungen bald einmal auf die Welt kommen, denn in der Zwischenzeit waren schon ein paar Wochen vergangen und Katzen tragen bekanntlich nur gerade 64 Tage. Damit man nicht immer von der "Kleinen" oder "Trächtigen" sprechen musste, taufte man das Kätzchen "Miss Tchibo". Sie sollte so heissen, wie der Kaffe, zu dem man schon mehrfach eingeladen worden war.

Im Gasthaus hatte man auch keine Ahnung, ob es sich nun bei Tchibo um Frau Werthers Mutterkatze handelte oder um eine ganz andere Katzendame. Immerhin liess man sich dort erweichen und stellte der bettelnden Katze etwas Futter hin. Sie nahm es dankbar an. Als Betty eines Tages im Krug essen ging, sass die Kleine am Eingang. Ihr Bauch war nicht mehr so rund, dafür der Hunger elend gross. Es schien so, als habe sie ihre Jungen zur Welt gebracht und säuge sie nun. Das Küchenpersonal bestätigte, dass Tchibo jeden Tag mehrfach erschien und um Futter bettelte. Die Fleisch­stücke, die man ihr gab, frass sie nicht einfach gierig auf, sondern nahm sie ins Maul und trug sie davon. Nun war absolut klar, dass sie irgendwo ein Nest mit Jungtieren hatte und die Leckerbissen ihrem Nachwuchs mitbrachte. Wenn Tchibo - wie es schien - auch kein richtiges Daheim hatte, wurde nun immerhin für sie gesorgt. Sie musste keine Angst haben, dass sie ihre Babies nicht ernähren konnte. Der Gastwirt hatte ein gutes Herz und Mitleid mit dem kleinen Kätzchen. Auch wenn ihm die Vernunft sagte, er solle kein weiteres Tier füttern, sprach sein Herz eine ganz andere Sprache. Tchibo wurde umsorgt und geliebt. Wenn ihre Babies gross waren, würde sie diese vielleicht einmal zeigen und zur Gaststätte mitbringen. Wenn alles klappte, dürfte Tchibo mit ihren Kindern in Tinas Katzenhaus einziehen. Dies wäre jedoch erst möglich, wenn definitiv klar sei, dass Tchibo kein richtiges Zuhause habe und garantiert nicht zu Familie Werther gehöre. Zudem gab es noch eine ganz kleine Schwierigkeit. Tina lebte in der Schweiz und Tchibo in Deutschland. Die Zollvorschriften waren relativ hoch, sodass Tchibo mit ihren Babies nicht auf legalem Weg in die Schweiz gebracht werden dürften. Trotzdem wollte Tina einen Weg finden. "Wer sucht, der findet", war ihr Motto. Sie würde sich schon etwas einfallen lassen, damit Tchibo und ihre Kinder bald in einer Familie leben dürften, in der es einen warmen Platz und genügend Futter gab. Das kleine Tier hatte viel auf sich genommen, um sich und ihren Nachwuchs durchzubringen. Nun nahte die Rettung.

Tina ahnte nicht, dass auch sie an der Nase herumgeführt worden war. Die Schauspiel­kunst der Kleinen war einfach umwerfend. Wochen später stellte sich nämlich heraus, dass Tina vollkommen falsch lag. Viel Lärm um nichts. Alle Sorgen umsonst. Tchibo ging es bestens. Sie lag auf der Bank vor dem Haus und sonnte sich. Dicht an sie gedrängt lag ein rot-weisser Kater, einer der beiden Jungtiere. Tchibo war ein äusserst gefrässiges und cleveres Tier, das sich mit bettelndem Blick Leckerbissen erschlichen hatte. Ihr Auftritt beim Restaurant Krug war pures Theater. Sie hatte das arme, halb verhungerte Tier gespielt und sich so die besten Leckereien erschlichen. Auch Tina war drauf reingefallen. Dennoch war Familie Werther froh, dass Tina sich für eines der Tiere interessierte. Sie waren bereit, Tchibo abzugeben, sobald der Nachwuchs gross genug war. Sie würden den kleinen, verschmusten Kater behalten.

Tina fand einen Weg, um Tchibo zu sich zu holen. Sie wollte ihn aber nicht preisgeben, denn der Umzug der Katze war ausserhalb jeglicher Legalität. Heute lebt sie in der Schweiz und schaut bei klarem Wetter hinüber nach Deutschland, wo sie einst gewohnt hatte. Zwar vermisst sie manchmal den Gasthof von gegenüber, bei dem sie immer viel Spass hatte, wenn sie die Leute zum Narren hielt. Ihre Schauspielkünste braucht sie heute nicht mehr.
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