Der Stadt entronnen
Buch 5
Der Stadt entronnen
Es war totenstill im kleinen Dorf. Zwischen den feinen Windböen ertönte ein leiser Hilferuf. Woher kam er? Als der Wind sich drehte, war nichts mehr zu hören.
Nur wenige Leute wohnten hier. Die meisten waren aus der Stadt gekommen. Sie suchten auf dem Land etwas Ruhe und ein bisschen unberührte Natur. Sie hatten genug vom Lärm der Stadt, den vielen Menschen und der unaufhaltsamen Hektik. Natürlich war es viel einfacher in der Stadt. Die Geschäfte waren fast Tag und Nacht offen. An jeder Ecke gab es eine Kneipe. Das Freizeitangebot war kaum zu übertreffen. Die Strassenbahnen und Busse verbanden den Osten der Stadt mit dem Westen, den Norden mit dem Süden. Die Wartezeiten bei den öffentlichen Verkehrsmitteln waren minim. Es war Komfort pur. Man konnte überall hin, ohne sich ins Auto setzen zu müssen. Eigentlich wäre die Stadt in dieser Hinsicht ideal gewesen. Trotzdem waren die Stadtbewohner faul und uneinsichtig. Lieber sassen sie eine halbe Stunde im überhitzten Auto im Stau, statt die Strassenbahn oder den Bus zu benutzen. Die Luft in der Stadt war stickig geworden, besonders im Sommer, wenn die Hitze wie eine Wand zwischen den Häusern stand. In manchen Quartieren konnte man nachts nicht schlafen. Hier lebten Südländer, die ihren lebhaften Lebensstil mitgebracht hatten. Sie verbrachten die lauen Sommernächte draussen, unterhielten sich lautstark in einer Sprache, die niemand verstand. Am Wochenende trafen sich ganze Sippschaften, um den Sonntag zusammen zu verbringen. Es war Tradition in diesen Familien. Die Stadt war das, was man eine multikulturelle Kleinstadt nannte. Es war nicht jedermanns Sache, hier zu leben.
Wer die Natur liebte und lange genug in der lauten Stadt gelebt hatte, zog es irgendwann aufs Land. Hier fand man die Ruhe, die in der Stadt schon lange verloren gegangen war. In der Freizeit konnte man sich aufs Fahrrad setzen und übers Land radeln. Es war ein herrlicher Anblick. Grüne Hügel erstreckten sich von einem Dorf zum andern. Auf den Wiesen standen riesige Baumkulturen voller Kirschen oder Aepfel. Ueberall sah man Kühe und Schafe, die friedlich weideten. Hier duftete es noch nach blühenden Wiesen statt nach dampfenden Industriekaminen. Schmetterlinge und Insekten erkämpften sich die besten Plätze am kleinen Teich um die Ecke. Wer Glück hatte und sich ruhig verhielt, entdeckte den grossen Feldhasen beim Frühstück. Er sass da und frass, stets auf der Hut, um bei Gefahr wegzuhoppeln.
Die Zugezogenen waren im kleinen Dorf die Fremdlinge. Erst waren die Dorfbewohner skeptisch, denn von den Stadtmenschen hatte man nichts Gutes gehört. Man sagte ihnen nach, sie seien lärmig und unzugänglich. Die "Dörfler" hatten Angst vor ihnen. Sie waren überzeugt, man wolle ihr idyllisches Dorf in eine Kleinstadt verwandeln. Der Bauboom liess sich jedoch nicht aufhalten, denn die Stadt platzte schon aus allen Nähten. Am Rande des Dorfes entstanden Reiheneinfamilienhäuser. Zum grossen Erstaunen der Dorfbewohner waren es aber hübsche Häuser, dem Stil des alten Dorfkerns angepasst. Man hatte eigentlich erwartet, dass Betonbunker oder futuristische Bauten in die Landschaft gestellt würden. Stattdessen errichteten die Neuen kleine schmucke Häuser mit viel Holzverzierung. Noch waren die Vorgärten voller Bauschutt und brauner, matschiger Erde. Doch kaum zog der Frühling ins Land, verbrachten die Neuzugezogenen Stunden um Stunden in ihrem neuen Garten. Aus der unansehbaren kleinen Fläche entstand im Verlaufe des Sommers ein zauberhafter Kleingarten; wunderschöne Gebüsche, Bäume und Sträucher, dazwischen Sommerfloor in allen Farben. Bei einigen Häusern entdeckte man eine Kinderschaukel, einen Sandkasten und eine Klettermöglichkeit für die Kinder. Hinter manchen Häusern gab es sogar einen kleinen Gemüsegarten. Die "Dörfler" mussten sich eingestehen, dass die Neuen wirklich grossen Wert auf eine schöne Umgebung legten. Sie hatten sich echt Mühe gegeben, ihre Gärten hübsch und natürlich zu gestalten.
Die Neuen aus der Stadt waren auch freundliche Leute. Die Kinder lernten schon bald, dass man sich grüsste, wenn man sich im Dorf begegnete. Sie waren sauber gekleidet und wohlerzogen. Mit ihrer fortschrittlichen Art und grossen Fantasie brachten sie neuen Schwung ins Schulzimmer. Sie waren eine Bereicherung für die Dorfbewohner. Auch die Eltern wussten, was es heisst, im Dorf zu wohnen. Sie kannten die Vorurteile, liessen sich aber dadurch nicht beirren. Bald waren die Neuen im Dorfverein oder am Stammtisch anzutreffen. Sie halfen mit beim Dorffest, in der Gemeinde und zum Wohle aller. Es ging nicht lange und die Vorurteile waren wie weggewischt. Die Alteingesessenen mussten einsehen, dass die Städter normale Menschen waren, die nur dem Landleben den Vorzug gaben.
Mit den Städtern kamen auch die Haustiere ins Dorf. Für viele Familien ging jetzt ein Wunsch in Erfüllung. Endlich konnten sie sich ein Tier zulegen, das hier Auslauf geniessen durfte. In der Stadt wäre so etwas nicht möglich gewesen. Für Tierliebhaber wäre es undenkbar gewesen, einen Hund in der Stadt zu halten. Sie wollten nicht, dass ihr Haustier jeden Tag den gleichen Spaziergang von einem Häuserblock zum andern zurücklegen musste. In der Stadt gab es viel zu wenig Grünflächen und Bäume. In den wenigen Grünzonen war Hundeverbot oder Leinenzwang angesagt. Auch die gut gemeinte Hundetoilette war keine Alternative zum grünen Feld und Wald. Bei freilaufenden Katzen war die Gefahr besonders gross, dass sie dem Verkehr zum Opfer fielen. In den kleinen Hinterhöfen hörte man jede Nacht das Geschrei der rivalisierenden Kater. Ihr Revier war zu klein geworden. Das Katzenleben war ein ständiger Revierkampf. Die Stadt war auch für die Katzen zu eng geworden.
Die neuste Siedlung war erst vor wenigen Wochen fertig geworden. Innert kurzer Zeit belebten sich die Häuser. In vielen Vorgärten lag nun ein Hund in der Sonne und genoss das Leben auf dem Land. Die Hundehalter kannten sich schon bald. Zusammen ging man spazieren und tauschte erste Tierhaltererfahrungen aus. Hinter dem letzten Haus im freien Feld sah man einen roten Kater, der unbewegt auf eine Feldmaus starrte. Endlich bekamen auch die Meerschweinchen den Auslauf, den sie sich ersehnt hatten. In der Stadt mussten sie das Haus hüten. Nun bekamen sie im Garten ein grosses Laufgehege. Darin befanden sich kleine Häuser, in denen sie sich vor der Sonne schützen konnten. Auch der kleine Wassernapf wurde jeden Tag neu gefüllt. Wer hier Haustier sein durfte, hatte das grosse Los gezogen.
Ganz am Ende des Dorfes wurde die Strasse schmäler. Sie führte den Hügel hinauf an den Waldrand. Nur wenige Leute verirrten sich dorthin. Es war keine Durchgangsstrasse, denn das Dorf lag etwas abgelegen. Vor zwei Jahren hatte man auf der Hochebene am Waldrand grosse Gebäude errichtet. Der Bauherr hatte sehr lange nach einem geeigneten Gelände gesucht. Es musste ruhig gelegen und dennoch gut erreichbar sein. Vom Preis her durfte es nicht zu teuer sein, musste gerade noch erschwinglich sein, denn die Kosten wurden vom Fonds der Stiftung getragen. Zuerst wollte man ein bestehendes Gebäude kaufen und renovieren. Leider liessen sich viele der Objekte nicht nach modernen Kriterien umbauen, oder die Bewohner des ausgewählten Dorfes verweigerten die Zustimmung. Es musste auch die Möglichkeit bestehen, die Gebäude falls nötig zu vergrössern. Die Direktion hatte die grösste Mühe, ein geeignetes Projekt zu finden. Nach monate-, nein, jahrelanger Suche wurde man endlich fündig. Jetzt hatte man das Gelände gefunden, nach dem man so lange gesucht hatte. Bald kamen die Bauarbeiter mit ihren Kränen und Baggern und errichteten die einzelnen Häuser und Zäune.
Und nun standen die flachen Gebäude da, mitten in der wunderschönen Natur. Der Wald war nur wenige Meter entfernt, doch immer noch nahe genug, um den Aussengehegen Schatten zu spenden. Durch die erhöhte Lage auf dem Plateau bekam man mehr als genug Sonne ab. Die Sommertage waren lang, die Sonne schien eigentlich von früh bis spät.
Es gab ein Eröffnungsfest, an dem zahlreiche Gäste, Politiker, Journalisten und Freunde teilnahmen. Die meisten kamen aus der Stadt. Sie schlenderten durch die neu errichteten Hallen und bewunderten den seltenen Baustil. Sie stellten mit Entzücken fest, dass jeder Trakt genügend Licht hereinliess, um den Gästen einen komfortablen Aufenthalt zu ermöglichen.
Nur wenige Tage nach der offiziellen Eröffnung zogen auch schon die ersten Gäste ein. Die meisten brachte man mit dem Auto hin. Einzelne kamen aber auch ganz alleine. Dann gab es noch welche, die sogar versuchten, unbemerkt ins Haus zu schlüpfen. Und bei ein paar Gästen wusste man überhaupt nicht, woher sie kamen. Sie sassen einfach eines Tages auf der Eingangstreppe und bettelten um Einlass oder einen Teller Essen.
Alles war neu hier und erweckte grosse Neugier. Die Dorfbewohner wollten wissen, was sich hinter dem grossen Zaun verbarg, der das ganze Gelände eingrenzte. Sie nahmen an der grossen Eröffnungsfeier nicht teil. Trotzdem führte mancher Sonntagsspaziergang hinauf an den Waldrand, dorthin, wo das neue Gästehaus entstanden war. Je näher man dem Areal kam, desto lauter wurden die Geräusche. Zwischen dem Wind, der durch die Blätter fuhr, hörte man leise Geräusche. Zuerst konnte man sie schlecht einordnen. Es war kein Schnarchen, auch kein Scharren, nein, es war ein sanftes Schnurren.