Katz und Maus (ES)
Buch 7
Unsere Freunde, Viktor und Grete, wohnen in einer alten romantischen Villa aus dem 19. Jahrhundert, die mitten in einem parkähnlichen, teilweise verwilderten Garten steht. Dort gibt es verborgene Winkel und schattige Verstecke, die nicht nur von ihren eigenen, vielgeliebten Katzen geschätzt werden, sondern auch von den Haustigern der gesamten Nachbarschaft. Doch nicht nur sie lieben dieses grüne Paradies, da gibt es noch eine ganze Reihe anderer Tiere, die sich dort heimisch fühlen.
Im hinteren Teil des Gartens stehen alterskrumme Fichten, Föhren und Lärchen. In ihren Wipfeln sitzen oft Krähen und warten auf eine günstige Gelegenheit, den Katzen das Futter vor der Nase aus den Schüsseln zu stehlen.
Eben diese Körner sind es, die schon seit vielen Mäusegenerationen die kleinen Nager anlocken und ihnen Appetit machen. Sie unternehmen daher immer wieder Versuche, in die Voliere zu gelangen. Doch die erwiesen sich stets als erfolglos. Aus gutem Grund. Die Wände dieses Käfigs bestehen nämlich aus einem feinmaschigen Drahtgeflecht, das keiner noch so mageren Maus gestattet, hindurch zu schlüpfen. Die kleinen Nager lassen sich aber deswegen nicht entmutigen: Zu gross ist die Versuchung. Sie werden auch in Zukunft der Herausforderung nicht aus dem Weg gehen und ihre Chance wahrnehmen, wenn die Zeit dazu gekommen ist.
Dann gibt es noch jede Menge Meisen, Finken, Spatzen und Amseln. Sie halten sich in den ausladenden Kronen der beiden mächtigen Linden auf, die neben dem Haus stehen. Dort flattern und hüpfen sie zwitschernd in den Zweigen umher, fangen Insekten oder holen sich Körner aus den an verschiedenen Stellen angebrachten Futterhäuschen. Zwar ist das Streuen von Körnern im Sommer völlig unnötig, aber Viktor lässt es sich nicht ausreden. Er meint, kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.
Mehrere Meter vom Haus entfernt, genau vor dem Küchenfenster, steht eine Voliere, die das Heim von Sittichen und Rosellas ist. Diese bunten Exoten haben immer etwas zu schwatzen. In den Pausen dazwischen schmusen oder schnäbeln sie mit ihrem jeweiligen Partner, baden in der gläsernen Vogelwanne oder wühlen in den gutgefüllten Futternäpfen, die an Schnüren von den Kletterästen hängen und dabei in Bewegung geraten. Oft pendeln sie so heftig hin und her, dass Körner auf den mit Sand bestreuten Boden fallen, wo sie unbeachtet liegen bleiben.
Nach einem Winter voller Entbehrungen waren sie fest entschlossen, einen neuen Anlauf zu wagen. Sie nagten und gruben unter der Voliere einen Gang und kamen gut voran. Plötzlich stiessen sie, wie schon oft, auf ein Hindernis. Es war der Käfigboden, gezimmert aus hartem Lärchenholz, unter dem sie festsassen. Doch diesmal hatten sie Glück. Die Bohlen, durch Alter und Feuchtigkeit morsch geworden, boten an manchen Stellen ihren Zähnen kaum Widerstand. Die Mäuse nutzten diese Chance, nagten mit vermehrtem Eifer und sahen plötzlich Tageslicht. Sie waren im gelobten Land angekommen.
Die Sittiche entdeckten die fremden Besucher zuerst. Sie flatterten kreischend auf den höchsten Kletterast und beäugten aus sicherer Distanz die Fremdlinge. Doch die kümmerten sich nicht um die bunten Flattertiere, sondern hatten nur Augen für die nahrhaften Körner, die so verlockend auf dem Käfigboden lagen. Sie flüchteten auch nicht in ihr Erdloch zurück, als die Sittiche provozierend auf und ab hüpften und mit den Flügeln schlugen. Diese bunten Vögel machten ihnen keine Angst wie die grossen schwarzen Krähen. Sie wirkten nicht bedrohlich, sondern eher harmlos wie grosse Schmetterlinge. Die erregten Sittiche beruhigten sich nach und nach und beobachteten ein wenig geringschätzig die grauen unscheinbaren Gesellen, die die Reste frassen, die von ihrem reich gedeckten Tisch zu Boden gefallen waren und warteten ab, was dieses Bettelvolk weiter unternehmen würde. Dass nichts Verdächtiges geschah, wurden die umher huschenden Unbekannten für ungefährlich eingestuft und als Untermieter akzeptiert.
Als die Mäuse sich eingewöhnt und begriffen hatten, dass sie hinter dem Gitter vor ihren Feinden, den Krähen, Katzen und dem alten Hausmarder vollkommen sicher waren, begannen sie ihr Leben in vollen Zügen zu geniessen. Das ging so weit, dass sie auch tagsüber ganz ungeniert in der Voliere herumspazierten.
Es dauerte nicht lange, da fiel den Katzen auf, dass sich im Käfig Gäste aufhielten, die dort nichts zu suchen hatten. Eines Tages sassen Gretes Haustiger in der Reihe vor dem Gitter und starrten mit gierigen Blicken und nervös zuckenden Barthaaren auf die ihnen wohlbekannten Nager und mussten tatenlos zusehen, wie diese sich ganz ungeniert von ihren Augen die Bäuche vollschlugen.
Viktor und Grete beobachteten vom Küchenfenster aus das Schauspiel und amüsierten sich köstlich.
Die Katzen brauchten eine gewisse Zeit, um zu befreiten, dass diese neuen Käfigbewohner für sie unerreichbar waren. Sie zogen daraus die Konsequenzen, wandten sich voller Verachtung ab und ignorierten von diesem Zeitpunkt an die Voliere samt ihren Bewohnern. Da die Mäuse keine Feinde, dafür aber reichlich zu fressen hatten, vermehrten sie sich ungehemmt. Im Schlaraffenland wurde es eng. Daher beschlossen ein paar unternehmungslustig Mädchen und einige trächtige Weibchen auszuwandern und Neuland zu erobern. Für ihr Vorhaben schien sich das Gebäude gegenüber gerade ideal anzubieten. Sie krochen durch einen der alten Gänge hinaus in die Welt ihrer schon fast vergessenen Feinde, liefen mutig über ein Rasenstück, fanden einen Spalt im Kellerfenster und schlüpften hindurch.
Drinnen war es kalt und feucht. Zu essen fanden sie nur ein paar alte Kartoffeln, die in einer Ecke vor sich her schimmelten. Da sie besser Kost gewöhnt waren, zogen sie rasch weiter.
Eines Morgens stellte Grete fest, dass es in der Küche stank. Da diese aufdringlichen Gerüche eindeutig nicht von Katzen stammten, hatte sie sofort einen ganz bestimmten Verdacht. Sie machte sich auf die Suche und fand im Küchenkasten Spuren, die ihre Ahnung bestätigten. Seine Rückwand hatte ein Loch, einige Töpfe waren durch Exkremente verunreinigt und in der hintersten Ecke lag ein Häufchen zernagtes Zeitungspapier, das offensichtlich vor kurzer Zeit noch ein Mäusenest gewesen war.
Da Viktor und Grete keine Mäusehassen sind und die üblichen brutalen Fangmethoden ablehnen, reagierten sie auf die einzige Art, die sie für akzeptabel hielten. Viktor kaufte fünf Fallen, präparierte sie mit Käse und Speck und verteilte sie im Haus. Sie fingen auf Anhieb fünf Mäuse, trugen sie fürsorglich in den Garten und liessen sie neben dem Komposthaufen frei. Ueberzeugt, alle erwischt zu haben und glücklich, dass ihr Unternehmen so schnell und ohne Komplikationen geglückt war, verstaute Viktor die Fallen im Werkzeugkasten und Grete machte sich ans Putzen.
Als Schrank und Töpfe sauber waren, setzten sich beide, froh und guter Dinge vor den Fernseher. Sie fanden einen netten Film, sahen ihn bis zum Ende an und gingen schlafen. Das leisen Nagen hinter dem Sofa hörten sie nicht mehr.
Ein paar Tage vergingen, dann läutete unser Telefon. Grete meldete sich: „Stell dir vor, was passiert ist. Ich sitze in der Küche und schäle Kartoffeln, da huscht unter meinem Sessel eine Maus hervor, rennt zum Futternapf in der Ecke, frisst einige Happen Dosenfleisch, rennt zurück und verschwindet in einem Loch hinter der Sesselleiste. Was sagst du dazu?“ „Was hast du unternommen? „Wir haben wieder Fallen aufgestellt, fünf gefangen, in den Garten getragen und freigelassen.“ „Und die Katzen?“ „Natürlich keine da, wenn man sie braucht.“
Einige Tage schwieg das Telefon, aber dann war wieder Grete am Apparat. „Es schein kein Ende zu nehmen.“ Ihre Stimme klang frustriert. „Wir haben schon zweiundzwanzig gefangen. Die Katzen lassen und völlig im Stich. Hör zu, was gestern passiert ist. Viktor und ich sitzen abends vor dem Fernseher und schauen uns die Nachrichten an. Ich höre interessiert zu, aber Viktor ist abgelenkt. Er beobachtet den roten Rambo, der wie gewohnt auf dem Fensterbrett direkt über der Heizung liegt und sich den Bauch wärmt. Statt zu dösen, dreht er ständig den Kopf hin und her. Ich schaue nach. Da läuft doch tatsächlich auf dem Fussboden unter ihm eine Maus hin und her, immer schön vom Blumenständer zur Kredenz und zurück. Und dieser rote Faulpelz findet es nicht der Mühe wert, seinen Platz zu verlassen und sich um die Maus zu kümmern.“
„Du brauchst professionelle Hilfe“, schlug ich vor. „Kommt nicht in Frage“, rief Grete aufgebracht. „Dass die Nachbarn was zu lachen haben. Da haben wir eine Menge Katzen im Haus und die Mäuse tanzen vor unseren Augen Tango. Das Gelächter könntest du bis zu dir hören“.
Beim nächsten Telefonanruf berichtete Grete: „Jetzt haben wir bereits mehr als dreissig gefangen. Viktor denkt schon über andere Fangmethoden nach.“ „Du Arme“, sage ich voll Mitgefühl. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Aber ja“, sagte Grete und es klang, als meine sie es ernst. „Schau dich doch im Internet nach einem Mäuseflüsterer um, einem Magier, der wie einst der Rattenfänger von Hameln die Mäuse mit süssen Flötentönen hinter sich her lockt. Am besten durch das ganze Tal hier hinunter bis in die nächste Grossstadt. Da gibt es neben den Supermärkten grosse Container voll mit guten Sachen, die weggeworfen werden, weil das Ablaufdatum überschritten ist. Wäre doch gelacht, wenn es den Mäusen dort nicht besser gefiele als bei uns.“
Obwohl mein Bericht hier zu Ende ist, bleibt der Schluss der Geschichte völlig offen. Ein Happyend ist nicht in Sicht. Es sei denn, es fände sich auf der weiten Welt tatsächlich ein Mäuseflüsterer, der das Problem auf seine spezielle Weise lösen würde. Das ergäbe dann eine neue Geschichte, die zu berichten ich gerne bereit bin, wenn es so weit ist.