Pferdegeruch liegt in der Luft
Buch 6
Für die anderen Katzen der Gruppe war das Ziel klar. Sie wollten nach Hause zu Thomas und Ina. Manchmal hatten sie das Gefühl, ihrem Ziel nahe gekommen zu sein. Hatten sie die Hügel da vorne nicht schon mal gesehen? Wie sollten sie das Haus, in dem sie gewohnt hatten, überhaupt finden?
Noch immer marschierten sie dem Rheinufer entlang. Bei jeder Brücke kam ihnen Silvers Ausflug in den Sinn. Seit diesem Abenteuer hatte er sie aber nicht mehr verlassen. Bis heute hatte er ihnen nicht erzählt, weshalb er drei Tage weggeblieben war. Wenn sie ihn darauf ansprachen, schmunzelte er nur. Für einen kurzen Moment glänzten dann seine Augen.
Der breite Fluss schlängelte sich in sanften Windungen durch eine wunderschöne Gegend. Es gab, trotz dichter Ueberbauung, noch zahlreiche Grünflächen, wo sich die Katzen ausruhen konnten. Jetzt, wo es wärmer geworden war, kamen auch die Nagetiere wieder aus ihren Höhlen. In den freien Landwirtschaftszonen wohnten Heerscharen von Mäusen. Hier konnten sich die Samtpfoten wieder einmal satt fressen. Ab und zu legten sie sich in einer Scheune ins warme Stroh. Besonders beliebt waren die Pferdeställe. Hier roch es nebst Stroh auch noch nach Rosshaar. Für Katzen war das ein Parfüm der edelsten Sorte. Sie wälzten sich im Stroh und versuchten, den Duft der Pferde aufzunehmen. Sie bewunderten die grossen eleganten Tiere.
Schon von weitem hörten sie das Schnauben eines Pferdes. Sie hockten sich hin und stellten ihre Nase in den Wind. Ihre Ohren drehten sich in alle Richtungen. Ja, von da hinten kam das Geräusch, das ihnen eine wohlige Wärme in den Körper trieb. Langsam schlenderten sie von einer Hecke zur nächsten, ihr Ziel ständig vor Augen. Sie sahen die offene Türe und hörten von drinnen die Hufe der edlen Tiere. Was war denn das? Aus der ersten Boxe drang ein Schmatzen an ihr Ohr. Shumba drängte die Gruppe zurück in das Gebüsch. "Ihr wartet hier. Ich muss erst abklären, was das genau ist". Sie legten sich gehorsam hin und beobachteten ihren Anführer, wie er auf leisen Pfoten zum Stall ging. Dann verschwand er. Sie sahen gerade noch seinen geringelten Schwanz, bevor dieser im Pferdestall um die Ecke bog. Dann war es unendlich still. Nichts passierte. Noch immer hörten sie das Schmatzen, dann wieder das Scharren von grossen Hufen. Sie zählten die Minuten, doch Shumba kam nicht. Eigentlich wussten sie genau, dass es im Stall ein warmes Plätzchen und bestimmt auch etwas Futter für sie gab. Doch sie hatten auf ihrer Reise gelernt, dass man Shumba gehorchen musste. Er war der Chef hier, und wenn er "warten" sagt, dann war das so. Wie gerne hätten sie um die Ecke geschielt. Irgendwas in diesem Stall war sehr interessant, sonst wäre Shumba schon längst zurückgekommen.
Noch immer sassen sie wie angewurzelt in ihrem Versteck und schauten gebannt zur Eingangstüre, als Shumba plötzlich vor ihnen stand. Er grinste. "Mitkommen!" Sie folgten ihm. Er lotste sie durch die seitliche Hecke zur Hintertüre des Stalles, den sie lange beobachtet hatten. Welch herrlicher Geruch, Stroh und Pferdehaar! Eines nach dem anderen drückte sich durch den kleinen Spalt der offenen Türe.
Es gab zahlreiche Boxen und einen grossen Mittelgang. In jeder Boxe stand ein Pferd und wartete geduldig darauf, dass sein Besitzer es ausreiten oder mindestens besuchen kam. Jedes der Tiere war anders. Es gab braune, rötliche und auch einen Schimmel. Weiter hinten schaute der Kopf des schwarzen Wallachs in den Korridor hinaus. Seine Nüstern öffneten sich weit, als er die Katzen entdeckte, die langsam den Gang entlang schlenderten.
Sie waren fasziniert von der Sauberkeit, die hier herrschte. Es war ein grosser Reiterhof mit vielen Tieren, doch kein Pferd war wie das andere. Im Stroh der Boxen war es wohlig warm. Auf diesem Bett wollten sie sich etwas ausruhen. Sie kuschelten sich aneinander und genossen den Duft, der aus der Pferdedecke in ihre Nasen drang.
Dann hörten sie es wieder - schmatz! Das kam von ganz hinten. Sie schauten zu Shumba, der noch immer ein sanftes Grinsen auf den Lippen hatte. Beauty war die Neugierigste. Sie eilte zur hintersten Boxe, aus der das ungewohnte Geräusch kam. Dieser Teil des Stalles war vom Rest etwas abgetrennt. Die Boxe war vier Mal so gross wie die anderen. Beauty hockte sich hin und schielte durch die Türe. "Schmatz!" Dann rief sie den andern. "Kommt, seht euch das an". In diesem Teil des Stalles stand eine besonders grosse, braune Stute. So grosse Füsse hatten die Katzen noch nie gesehen. Ihr Bauch hatte einen gigantischen Umfang. "Schmatz!", hörten sie wieder. Jetzt drehte die Stute ihren grossen Kopf zur Katzengruppe. "Kommt, doch näher, ich tue euch nichts". Als sie sich umdrehte, sahen sie das Tier, das diese eigenartigen Geräusche von sich gab. Der Kleine stand unter seiner Mama und war noch ganz klein. Eigentlich sah man nur Beine, die noch etwas schräg zum Himmel ragten. Er war gerade dabei, sein Mittagessen zu geniessen. Schmatz! Die Zitzen der Mutter waren noch immer prallgefüllt. Dem Fohlen lief die warme Milch übers Maul. Der Kleine nuggelte weiter. Er beachtete die Katzen überhaupt nicht. Sein Mittagessen war ihm viel wichtiger. Wie gerne hätten sich die Katzen am leckeren Mahl beteiligt. Doch das war viel zu gefährlich, das wussten sie. Selbst die Hufe des kleinen Fohlens waren für sie tödliche Waffen.
Sie wollten sich das Schauspiel etwas aus der Nähe anschauen. Im Nebenraum fanden sie eine Bleibe, von der aus sie den ganzen Stall überblicken konnten. Dort waren die Kutschen abgestellt, denen die Pferde bei besonderen Anlässen vorgespannt wurden. In diesem Dorf wurde eine alte Tradition gelebt. Hier wurde das Bier der ortsansässigen Brauerei an Festtagen noch immer mit einer alten Pferdekutsche ausgeliefert wurde. Vorgespannt wurden sechs riesengrosse Brauereipferde, belgische Kaltblüter edelster Herkunft. Jedes dieser Tiere brachte um die 900 Kilo auf die Waage. Es waren richtige Kolosse. Wenn der Sechsspänner durch die alten Gassen der Kleinstadt fuhr, war er nicht zu überhören. Die Pferdehufe hallten auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt. Das Gespann war eine Augenweide und berühmt über die Grenzen hinaus. Auch an normalen Arbeitstagen wurde das Bier mit einer Pferdekutsche ausgeliefert, dann aber nur mit zwei Pferden. So bekamen die Tiere den notwendigen Auslauf und gleichzeitig war es eine einzigartige Werbung für das Bier dieser Region. Es war die einzige Brauerei in der Schweiz, die diese alte Tradition noch täglich lebt.
Die Brauerei war nicht nur für ihr Bier und die Pferde berühmt. Sie war in einem Schloss untergebracht, das von weit her zu sehen war. Erst vor wenigen Jahren hatte man es renoviert. Allein das Gebäude war schon sehenswert. Nachts war es hell beleuchtet, das Wahrzeichen der Region.
Die Brauerei unterhielt auch ein grosses Gestüt. Neun belgische Kaltblüter lebten hier. Es fehlte ihnen an nichts. Sie lebten ein königliches Leben, wie es sich für Schlossbewohner gehört. Und eines dieser Brauereipferde hatte vor wenigen Tagen ein Fohlen bekommen. Dieser Nachwuchs war in der ganzen Region das Thema Nummer eins. Nachwuchs hatte es bisher noch nie gegeben. Erst vor wenigen Tagen hatte dieser kleine Hengst das Licht der Welt erblickt.Sein Foto war in allen Zeitungen. Sogar das Regionalfernsehen hatte einen langen Bericht gebracht. Jedermann wusste, dass die Brauerei am Rande der Kleinstadt Nachwuchs bekommen hatte. Bis gestern war hier noch die Hölle los. Es wimmelte von Journalisten, Reportern und Besuchern. Sogar die Regierung war herbeigeeilt, um dem Fohlen einen Besuch abzustatten und es willkommen zu heissen.
Doch jetzt war es ruhiger geworden. Der Kleine, dem man den Namen Aramis gegeben hatte, stand dicht bei seiner Mama und trank. Schmatz!
Die Katzen hockten auf der Fuhrerbank der Kutsche und schauten zum Duo hinunter. Welch schönes Paar. Als sie sich in diesem Raum umsahen, entdeckten sie eine weitere Kutsche. Sie war - anders als die Brauereikutsche - nach oben geschlossen. Die Polster im Innenraum waren mit Leder ausgestattet. Zum Schutz hatte man eine Pferdedecke darüber gelegt.