Der Einzug bei Michel
Buch 4
So geschah es auch. Als Emsy alles gelernt hatte, was ein Kater wissen muss, machte er die grosse Reise in Richtung Norden. Er bekam den Namen "Zorro", da auf seinem Vorderbein ein grosses „Z“ zu sehen war.
Michel wohnte am Rande der Stadt in einer grossen Ueberbauung. Zu seiner Wohnung gehörte ein riesengrosser Balkon, der teilweise überdacht, doch grösstenteils offen war. Hier konnte Emsy sonnen. Er streckte die Nase in die Luft und genoss die neuen Düfte, die vom Garten aus zu ihm hinaufdrangen. Wenn er über die Blumentröge marschierte, sah er weit unten einen Park. Es duftete nach Gras und nach Blumen. Er wusste, dass er das alles nur von oben betrachten konnte, denn er wohnte im ersten Stock. Michel war zwar äusserst lieb zu ihm, doch er vermisste die Natur. Er wollte Gras unter seinen Füssen spüren, die Nase in die Blüten der Blumen stecken. Bestimmt hat es Mäuse da unten.
Am Abend lag er jeweils bei Michel auf dem Sofa und hörte ihm zu, wie er Musik machte. Er mochte seinen neuen Freund sehr und liebte es, bei ihm zu liegen. Sie waren ein unzertrennliches Paar geworden. Emsy war dabei, wenn Michel malte oder einfach nur einen Film schaute. Dann legte er sich dicht an seine Beine und schnurrte. Er liebte ihn sehr und wusste, dass dieser es sehr gut mit ihm meinte.
Michel lebte nicht alleine. Hier wohnte noch ein zweiter Mann, der Claude hiess. Die beiden nannten ihre Wohnung eine Wohngemeinschaft. So entstand auch Emsy neuer Name. Richtigerweise hätte er nämlich M&C geheissen, so wie seine Besitzer. Doch niemand verstand diese Abkürzung, weshalb man den kleinen Kater schlicht und einfach Emsy nannte.
Die Wohnung war schön, und Platz war mehr als genug vorhanden. Für Emsy war es ideal. War der eine bei der Arbeit, konnte er sich zum anderen legen. Beide spielten sehr viel mit ihm. Eigentlich fehlte es ihm an nichts. Dennoch stieg er jeden Tag auf die Brüstung und schaute hinunter. Dort unten war seine Welt, dorthin wollte er. Er lief von links nach rechts und wieder zurück. Wenn er über die Brüstung zum Nachbarn steigen würde, könnte er den Baum erreichen und nach unten klettern. Tagelang überlegte er, ob er es wohl schaffen würde.
Eines Tages setzte er seinen Plan in die Wirklichkeit um. Er nahm allen Mut zusammen und kletterte zum Nachbarn hinüber. Von dort konnte er mit einem kleinen Sprung auf den Baum springen und runter klettern. Lange sass er auf der Brüstung und berechnete die Distanz zum Baum. Er musste genau hinschauen, denn die Brüstung war etwa fünf Meter über dem Boden. Er wollte unter keinen Umständen runterfallen. Lange sass er da und peilte den Baum an. Er beobachtete alles sehr genau. Ob die Aeste ihn wohl tragen würden? Noch einmal streckte er das Näschen in die Luft. Der Geruch des Grases lockte ihn. Er nahm allen Mut zusammen und setzte zum Sprung an. Als er in der Luft war, stockte sein Herz. Für einen Moment dachte er, jetzt sei alles zu Ende. Der Baum war doch weiter entfernt als er geglaubt hatte. Er streckte seinen ganzen Körper so weit er konnte.
Etwas unsanft aber heil landete auf dem äussersten Ast. Dort krallte er sich fest, so gut er konnte. War das hoch! Er getraute sich kaum runterzuschauen. Mit viel Geschick balancierte er dem Stamm entgegen. Von dort konnte er von Astgabel zu Astgabel hinunterklettern. Unten angekommen schaute er nach oben. War die Entscheidung gut? Nie würde er den Weg zurück nehmen können. Die Brüstung war viel zu weit vom Baum entfernt. Doch diesen Gedanken wischte er einfach weg. Irgendwie würde es schon einen Weg geben, damit er wieder nach oben kam. Doch jetzt wollte er alles entdecken, beschnuppern und aufnehmen. Juhui, er war frei! Wie schön dieses Gefühl doch war.
Er ging in den Park, überquerte die Magerwiese, die er wochen-lang von oben beobachtet hatte. Schon bald hatte das Herzklopfen aufgehört. Er beschnupperte jeden Busch und untersuchte jedes Erdloch. Schön war es hier, noch viel schöner als hoch oben auf dem Balkon. Viele Stunden verbrachte er im Park, begegnete auch vielen anderen Katzen, die hier lebten.
Am Abend, als sich der Hunger eingestellt hatte, fragte er sich um ersten Mal, ob es richtig war, dass er abgehauen war. Er schlich sich zurück zum Baum und schaute nach oben. Nein, zurück konnte er nicht mehr, der Ast war definitiv zu weit von der Brüstung entfernt. Lange sass er da unten und hatte Hunger. Wie froh war er, als er Stunden später Michel entdeckte, der voller Angst über den Balkon hinunter schaute. Er war nach Hause gekommen und hatte Emsy gesucht. Nachdem er in der Wohnung die hinterste und letzte Ecke durchsucht hatte, gab es nur noch eine Lösung. Emsy musste runter gesprungen sein. Lange schaute er ins Dunkel der Nacht, konnte aber nichts ent-decken. Da blitzten zwei Flecken zu ihm hoch. Das könnten Katzenaugen sein. Michel rannte hinunter. Wie froh war er, als er Emsy da sitzen sah. Er nahm den kleinen Kerl auf den Arm und trug ihn zurück in die Wohnung. Dort stellte er ihm eine grosse Schale Futter hin und schaute ihm erleichtert zu, wie er es gierig frass.
Michel war überzeugt, Emsy sei runtergefallen. Er dachte über-haupt nicht daran, dass er selber runtergeklettert war. Wenige Tage später wurde er eines Besseren belehrt. Der Kater war schon wieder verschwunden. Dieses Mal ging er direkt in den Park und rief nach ihm - vergebens. Emsy blieb verschwunden. Von seinem Nachbar erfuhr er, dass Emsy regelmässig zu ihm hinüber geklettert war. An diesem Abend kam der kleine Kater nicht zurück. Auch am nächsten Tag blieb er verschwunden. Allmählich bekam Michel Angst. Was war seinem Kätzchen passiert? Nach drei Tagen meldete sich eine Frau bei ihm. Sie hatte Emsy gesehen, wie er auf der anderen Seite der Ueber-bauung Mäuse gejagt hatte. Michel ging ihn dort suchen. Er ver-brachte viele Stunden damit, rief immer wieder den Namen seines kleinen Freundes. Doch Emsy blieb unauffindbar. Zwei Tage später als es eindunkelte, stand ein kleiner, ausgehungerter Kater unter dem Balkon und schrie nach oben. Der Hunger war derart gross geworden, dass er den Heimweg angetreten hatte. Das Streuner-Leben war zwar interessant, doch Mäuse waren zu wenig vorhanden, um den Hunger zu stillen. Michel war überglücklich, dass er den kleinen Kerl wieder hatte. Emsy war unverletzt, lediglich hungrig.
Sie sassen den ganzen Abend zusammen auf dem Sofa. Was sollte er nur machen? So durfte das nicht weitergehen. Er konnte doch nicht jeden Abend damit verbringen, seinen Streuner zu suchen. Er kaufte sich einen Maschendraht und befestigte diesen auf dem Balkon. So könnte Emsy nicht mehr zum Nachbarn klettern. Doch Emsys Sprungkraft und Freiheitsdrang war zu gross. Er sprang locker darüber hinweg und war erneut verschwunden.
Dieses Spiel wiederholte sich regelmässig. Emsy streunte durch die Gegend und Michel suchte ihn. Wenn der Hunger kam, kam Emsy zurück und wartete auf die Heimkehr seines Herrchens. Michel hatte schon bald keine Angst mehr um seinen Freund. Er kannte den Ablauf schon gut.
So machte er sich keine grossen Sorgen, als Emsy wieder mal nicht nach Hause kam. Wahrscheinlich war er unterwegs auf der Pirsch. Doch dieses Mal hatte Emsy die Hauptstrasse überquert, war auf die ganz andere Seite der Ueberbauung gelangt. Dort hatte er eine junge Schildpatt-Katzendame kennen gelernt. Diese hatte ihm erzählt, dass sie mit andern Katzen zusammen bei Tina wohnte. Sie konnte so viel raus, wie sie wollte, denn ihre Wohnung lag ebenerdig und besass eine Katzentüre, durch die man rein und raus konnte, wann immer man wollte.
Wie erstaunt war Tina, als an diesem Abend der Neuankömm-ling unter dem Tisch in ihrem Wohnzimmer lag, dicht bei Smokie, so hiess nämlich die kleine Katzendame. Tina schaute den kleinen Kater verwundert an und streichelte ihn sanft. Dies gefiel ihm. Er begann leise zu schnurren und Smokie stimmte mit ein. Er lag da auf dem Teppich, als gehöre er seit Jahren in diese Familie. So liess ihn Tina gewähren. Sie war überzeugt, er würde am nächsten Tag wieder den Heimweg antreten. Doch da hatte sie sich geirrt, denn es sollte anders kommen. Emsy ging am nächsten Morgen mit Smokie in den Ausgang. Wiederum tobten sie im nahe gelegenen Park herum. Doch am Abend standen beide wieder in der Küche und verlangten ihr Nachtessen. Eigentlich war es Tina nicht recht, dass da plötzlich eine fremden Katze bei ihr aus- und einging. So anhänglich wie dieser kleine Kater war, gehörte er ganz sicher irgendjemandem. Es wäre ihr lieber gewesen, Emsy wäre zu seinem Herrchen oder Frauchen heimgekehrt. Doch dies war überhaupt nicht in Emsys Sinn. Er wollte Tinas Herz erobern und dazu war ihm jedes Mittel recht. Er war der liebste Kater, den man sich vorstellen konnte. Mit seinen grossen, runden Augen und seinem samtweichen Fell war es ein Genuss, ihn anzusehen. Seine zutrauliche, verschmuste Art liess Tina nicht mehr los. Emsy konnte diese Katzenmutter richtiggehend um die Pfote wickeln. Und wie er das konnte. Er beherrschte sein Handwerk ausgezeichnet, schlüpfte in der Nacht in ihr Bett, kuschelte sich eng an sie und schnurrte ihr unermüdlich ins Ohr. Und somit war es auch um sie geschehen. Nicht nur Smokie, auch das Katzenmami hatten sich in Emsy verliebt. Dennoch hatten beide versucht, den kleinen Ausbrecher wieder nach Hause zu schicken.
Nach einer Woche machte sich Tina dann doch ernsthafte Ge-danken. Ob niemand den kleinen Kerl vermisste? Sie meldete Emsys Aufenthaltsort bei der Polizei, und so konnte Emsys Herrchen ausfindig gemacht werden. Michel war sehr froh, dass es dem Katerchen gut ging und nahm ihn wieder nach Hause, wo er eigentlich hingehörte. Doch dort fühlte sich Emsy nicht mehr wohl, sprang regelmässig vom Balkon und rannte direkt zu Smokie. Der Drang nach seiner neuen Freundin war zu gross. Da half auch Schimpfen und Toben nichts. Nach etlichem Hin und Her mussten Tina und Michel einsehen, dass Emsy seine Entscheidung getroffen hatte und dass es nichts brachte, den Ausreisser immer wieder nach Hause zu bringen. Die beiden Katzenbesitzer mussten sich Emsys Drängen fügen und einsehen, dass Emsy ein neues Zuhause gefunden hatte. So zog Emsy zu den anderen vier Katzen in die Parterre-Wohnung ein.
Für Emsy begann eine wunderschöne Zeit im Kreise der neuen Geschwister. Zuerst waren zwar alle etwas skeptisch und fauch-ten ihn wie einen Eindringling an. Doch für ihn war das über-haupt kein Problem. Er tat einfach so, als sei überhaupt nichts passiert und stellte sich taub. Er legte sich unter den Tisch und genoss das Leben. Er wollte hier bleiben, das stand fest, da liess er sich doch nicht von einer fauchenden Mieze einfach vertreiben.